Europe at Midnight

Europe at midnight, Titelbild, Hutchinson
David Hutchinson

Dave Hutchinsons Fortsetzung zu seinem mehrfach nominierten „Europe in Autumn“  Band verzichtet auf die märchenhaften Zwischentöne, welche die bis dahin nihilistische Handlung des Erstlings am Ende zu relativieren schienen. Mit zwei sehr starken Haupthandlungen, einem zynischen Auftakt und vor allem einem politisch noch absurder erscheinenden Europa inklusiv einem isolierten Dresden, das als politische Enklave zu einer der neuen Bankhauptstädte des Kontinents aufgestiegen ist, überzeugt vor allem die Struktur dieses Buches.  Neben dem wirtschaftlichen Niedergang Europas, der beginnenden Eskalation mit dem Osten und schließlich der verheerenden, vielleicht sogar künstlich erzeugten Grippe Epidemie  haben die sich nationalen Egoisten wieder durchgesetzt.  Hutchinson treibt aber mit den einzelnen Gruppen auch ein perfides Spiel, in dem er eher indirekt ihre Interessen plakatiert, relativiert und schließlich sogar satirisch als Worthülsen entlarvt.  Wie in seinem Erstling benutzt er dabei unverbrauchte Charaktere, um nicht selten auf Augenhöhe dem Leser durch die teilweise staunenden Augen seiner Protagonisten eine Antiutopie vorzustellen, die zu den besten Schöpfungen des 21. Jahrhunderts gehört. Vielleicht wird der eine oder andere Leser aus dem Auftaktroman der Trilogie den estischen Koch und Amateurspion Rudi vermissen, aber die beiden wichtigen Protagonisten des Mittelbandes der Trilogie können auch überzeugen.   Mit dem britischen Spionageabwehr Offizier Jim wird ein Profi eingeführt.  Aus einem Fisch werden vier Leichen geborgen. Anscheinend handelt es sich um eine geheimnisvolle Fluchtgruppe, die an dieser schwer zu passierenden Stelle von einem der europäischen Kleinstaaten zum Nächsten fliehen wollte. Ihre Identität ist unbekannt. Niemand weiß, ob die Gruppe nur aus vier jungen Menschen bestanden hat oder ob es mehr waren. Niemand kann einschätzen, ob die Codenummer der Gruppe vielleicht schon auf den neunten von einer unbekannten Anzahl von Fluchtversuchen hinweist oder ob es andere Erklärungen gibt. Alles bleibt geheimnisvoll, kryptisch. Bei seinen Untersuchungen stößt Jim – ein Hinweis auf den ersten Band der Serie – auf eine mächtige, geheimnisvolle Familie, die mit verschiedenen Mitteln versucht hat, einige Informationen zu unterdrücken.  Immer wieder gibt es Hinweise auf einen Ort namens Stanhurst in der Gemeinde Ernshire, der aber auf keinen offiziellen Karten verzeichnet worden ist und dessen Existenz niemand wirklich beweisen kann. Der Leser weiß im Vergleich zu Jim schon, dass es nicht nur diesen Ort gibt, sondern dass er durch bislang nur rudimentär erläuterte Tore auch erreicht werden kann.  Zusammen mit einigen Mitarbeitern seines eher an eine Art „Man in Black“ Truppe erinnernden Services und vor allem natürlich zwielichtigen Informanten aus der anderen Welt, sowie einer Jims Selbstvertrauen erschütternden jungen Frau, die mit einem Kanu ausgerechnet den Fluss herunter gefahren ist, an dessen Ufer im ersten Kapitel die Leichen gefunden worden sind, muss sich Jim im Grunde isoliert und von seiner Grundausrichtung eher paranoid aufmachen, um den vagen Spuren nachzugehen.   Während Hutchinson wie in seinem Erstling die Strömungen/ Stimmungen intensiver und dreidimensionaler darstellen als einen Plot entwickeln kann, lebt die Geschichte vor allem von den bizarren Hintergrundideen. Herausragend ist neben dem noch anzusprechenden Dresden hinter einer Mauer vor allem die Abrechnung mit dem European Song Contest, die angesichts der zahllosen Mitgliedsstaaten ein groteskes Ausmaß angenommen hat, in dem es nicht mehr um den Sängerwettstreit, sondern wie bei fast allen in diesem Buch um die politische Auseinandersetzung mit dem benachbarten Kleinstaat geht. Das diese Gebilde im Grunde nicht lebensfähig sind und wirtschaftlich nach und nach zusammenbrechen, hat der Autor schon im ersten Band der Trilogie ausreichend und nachvollziehbar extrapoliert. Jetzt geht es um die Details.  Wie solche Kleinstaaten entstehen könnten, zeigt Dave Hutchinson positiv, aber vollkommen verdreht an Dresdner. Wie die Berliner Mauer tauchen in der Nacht hunderte von schwer beladenen Lastkraftwagen auf und liefern die vorgefertigten Zäune und Maschendraht an. Hunderte von Arbeitern errichten in einer koordinierten Aktion die neue Mauer. Innerhalb kürzester Zeit haben sich die Banken in der Enklave etabliert und sammeln ordentlich das Schwarzgeld vor allem von Politikern und Unternehmern aus den Nachbarregionen ein. Versorgt wird die Staat weiterhin von außerhalb, aber das spielt bei den Planungen keine Rolle. Dieses neue Dresden entspricht der transeuropäischen Eisenbahn, die nach Jahrzehnten des Planung und des Baus sich mit der Fertigstellung im Grunde unabhängig erklärt hat und jetzt einen eignen Staat zwischen den einzelnen Nationen ausgebildet hat. Der Leser muss selbst entscheiden, welche dieser außergewöhnlichen Gründungen ihm besser gefällt.  Im Gegensatz zur Eisenbahn, die inzwischen pünktlich durch Europa fährt, hat der Autor in diesem zweiten Band eine bösartige Antwort für die Separatisten bereit. Durch den Bau der Mauer wurden auch die Abwasserkanäle getrennt und die Gitter halten mehr zurück als das sie durchlassen. Das Ergebnis kann sich der Leser sehr gut vorstellen. 

Aber es gibt auch Hoffnung in diesem politisch verirrten Europa. Während seiner Mission dringt Jim – hier wechselt die Perspektive – in die im ersten Band angesprochene andere Welt ein und verirrt sich hoffnungslos. Zusätzlich wird ihm auch noch das Boot gestohlen. Ohne Chance auf eine Rückkehr muss er dort Jahre verbringen und arbeitet in einem Antiquariat, das sich auf seltene geographische und politische Bücher spezialisiert hat. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet ein Mitglied der reichen/ einflussreichen Familie sein Kunde wird.

Technisch ist „Europe at Midnight“ ein wie der Vorgänger herausfordernder Roman, der wie einige von Philip K. Dicks Arbeiten – siehe auch „Das Orkal vom Berge“ nach dem Prinzip der russischen Puppe aufgebaut ist. Jede Schale beinhaltet eine originalgetreue, aber im Format abweichende Kopie. Je tiefer Jim und ihm folgend auch der Leser vordringt, desto undurchsichtiger wird dieser vor allem politische Dschungel. Hinzu kommt, dass der Autor die Erzählperspektive absichtlich von der ersten in die dritten Person wechselt, so dass er auf der einen Seite die vielen Nebenhandlungen besser bändigen kann, während er sich auf der anderen Seite auch deutlich vom außenstehenden, neutralen Betrachter entfernt. Diese Distanz lenkt den Fokus auf die zahllosen satirisch überzeichneten Ideen, lässt die vor allem politische Botschaft sehr viel greller erscheinen und zwingt den Leser zum Nachdenken. Dabei wird nicht unwillkürlich auch der Bogen von dieser mehrfachen politischen Alternativwelt zu den nachdenklich stimmenden Strömungen der Gegenwart geschlagen. Wie bei Dick oder vielleicht einigen Romanen Lavie Tidhars  -  deutlich unterhaltsamer, aber politisch bei weitem nicht so tiefsinnig durchdacht -  fügen sich die einzelnen Fragmente nicht nur der Handlung, sondern des Hintergrunds auf eine fast märchenhafte Art und Weise ineinander. Während diese Vorgehensweise im ersten Buch der Trilogie noch gestört hat und das Land im Nirgendwo eher an die Phantasien der viktorianischen Fantasyautoren erinnerte, wirkt es jetzt deutlich harmonischer in die vielschichtige Handlung eingebaut. Weiterhin liegt der Fokus weniger auf dem ganzen Plot – viele Fragen werden hoffentlich positiv im abschließenden Roman beantwortet -, sondern auf der dunklen, ungewöhnlich vielschichtig konzipierten Atmosphäre und den gebrochenen, aber nicht klischeehaften Protagonisten. Stilistisch folgt David Hutchinson seinen großen Vorbildern wie John le Carre oder Eric Ambler, in dem er große Schattenkriege inszeniert, in welche nicht nur die in erster Linie hilflos gegen den Strom schwimmenden Charaktere unterzugehen drohen, sondern dem Leser deutlich vor Augen geführt wird, wie fragil das europäische Gebilde in Wirklichkeit ist.              

  • Taschenbuch: 384 Seiten
  • Verlag: Rebellion (5. November 2015)
  • Sprache: Englisch
  • ISBN-10: 1781083983
  • ISBN-13: 978-1781083987