Forever Magazine 76

Neil Clarke (Hrsg.)

Neil Clarkes einleitende Worte zu „Forever“ Magazine 76 sind die gleich wie zu „Clarkesworld“ 176 aus dem gleichen Monat.

 Der Herausgeber präsentiert wieder eine Novelle und zwei Kurzgeschichten. Die Novelle stammt aus dem „Analog“ Magazine, die Kurzgeschichten sind „Asimov´s Science Fiction Magazin“ entnommen worden. Allerdings im Gegensatz zu den letzten „Forever“ Magazineausgaben nicht aus den letzten beiden, sondern weiter zurückliegenden Jahren.

 Catherine Wells „Native Seeds“ ist eine interessante Variation der klassischen Post Doomsday Geschichten. Im Jahre 2284 beginnt sich die Erde von einer ökologischen Katastrophe langsam zu erholen. Und in Arizona trifft eine Gruppe von wissenschaftlich orientierten Überlebenden auf die Reste einer Aussteigergruppe, die 4000 Köpfe zählen und jegliche Technologie ablehnend sich in der alten Montezuma Festung niedergelassen haben. Beide Gruppen haben zwar mit großen Opfern überlebt. Aber ihre Evolution hat auch eine Art Engpass erreicht, der es möglicherweise notwendig macht, die internen Dogmen über Bord zu werfen und eine Zusammenarbeit zu beginnen.

 Der wissenschaftliche Hintergrund der Geschichte ist dürftig. Auf der einen Seite haben die meisten Menschen die Erde verlassen und sind auf neue Planeten umgesiedelt worden. Selbst in „Ninety-five Percent Safe“ dieser „Forever Magazine“ Ausgabe gibt es die Möglichkeit, einen eingeschränkten Kontakt durch das Wurmloch aufrechtzuerhalten. Catherine Wells impliziert, dass es technisch nicht möglich ist, mit den Aussiedlern in Kontakt zu treten, ohne das sie eine Erklärung anbietet. Auch verschwindet ein chinesischer Beobachtungssatellit aus dem Nichts heraus quasi in der Erdatmosphäre, als wenn es ein menschliches Wesen ist, das plötzlich stirbt. Technische Defekte spielen sich anders ab. Mit diesen Exkursen versucht Catherine Wells ihrer Novelle einen Hintergrund zu geben, der grundsätzlich  nicht nur unnötig angesichts des humanistisch soziologischen Problems ist, sondern von den verschiedenen Ansichten der Gruppen ablenkt.

 Auffällig ist weiterhin, dass die Geschichte uneinheitlich geschrieben worden ist. Viele der Dialoge wirken auch nach der notwendigen Etablierung einer gemeinsamen Sprache – eine Mischung aus Handzeichen, Englisch und schließlich spanisch – unnatürlich und gestelzt. Hinzu kommt, dass einige der Protagonisten eher eindimensional gezeichnet worden sind.

 Die interessanten Aspekte der Geschichte zeigen auf, dass menschlicher Willen auf der kleinsten Ebene doch etwas bewegen kann. Es ist  Alfonso, der die Notwendigkeit erkennt, dass der Genpool der im Grunde Auswanderer zum Überleben beider Gruppen notwendig ist und das wissenstechnisch gegenseitige Befruchtung hilfreich sein kann. Auch wenn beide Gruppen ihre Scheuklappen ablegen müssen. Sein Freund Chico dagegen ist der klassische Mahner, der stets verneinende egoistische „Geist“, die Stimme eines manipulierten Gewissens, der jegliche Fortschritt egal in welche Richtung ablehnt und lieber stirbt, als seine Lebensart zu verändern. Dabei versucht Alfonso eine Symbiose aus beiden Gruppen zu erschaffen, welche das Land und die Früchte der täglichen Arbeit akzeptiert, aber auch Technik per nicht gänzlich ablehnt. Alfonso ist der einzige Protagonist, der aus der ihm eher unbekannten Vergangenheit – mehrere Generation leben schon in diesem Exil – gelernt hat und etwas verbessern möchte.

 Reuben ist im Grunde der naive Alltagsmann, der gerne Sex haben möchte. Egal mit wem. Vor allem ist es ihm egal, dass es den Wissenschaftlern aus der kleinen Stadt vor allem um die Erweiterung des Genpools geht. Die Idee, Inzest zu vermeiden und dadurch schwere Krankheiten möglicherweise im Keim zu ersticken, ist erstaunlicherweise bei beiden Gruppen auf der einen Seite dominant, auf der anderen Seite wird die einzige gängige Möglichkeit, den Genpool zu erweitern, komplett ignoriert oder abgelehnt. Dieses dogmatische Denken zieht sich zu stark durch die ganze Geschichte und überdeckt eine Reihe von alltäglichen Problemen, die Catherine Wells quasi im Vorbeigehen anzusprechen, aber an keiner Stelle zu extrapolieren sucht.

 Trotz unterschiedlicher politischer Ansicht, eine konträren Mikrokosmosevolution und vor allem von den Auswanderern einem gesunden Misstrauen gegenüber den Wissenschaftlern kommt keine Seite auf die Idee, zu Gewalt zu greifen, sondern sucht in einer bedingt offenen Kommunikation die eigene Position zu verteidigen, Das macht einen Teil dieser besonderen First Contact Novelle aus. 

 Willi McIntoshs „Lost: Mind“  hätte eine perfekte Kurzgeschichte werden können. Eine pointierte, aber auch anrührende Geschichte mit einem bittersüßen Ende. Allerdings gibt es nur ein kleines Problem. Der Drang des Protagonisten, alles unter Kontrolle zu haben und nichts lange Zeit jemand anders anzuvertrauen wird zu einem Bumerang. Versicherter Versand mit einer Paketnachverfolgung hätte Abhilfe geschaffen.

Die Grundidee ist aber interessant. Illegal transferiert der Protagonist das Bewusstsein seiner vor kurzem an Alzheimer verstorbenen Frau in Indien auf Computersticks. In den USA kann er dort ihre Persönlichkeit wieder zusammensetzen. Um den Schmuggel nicht auffallen zu lassen, verstaut er in Indien jeden Aspekt ihrer Persönlichkeit in insgesamt vierundsechzig Spielfiguren eines wertvollen Schachspiels. In den USA kommen aber nur zweiunddreißig Figuren an, was den ehemaligen Offizier der amerikanischen Armee zu einer Art Schnitzeljagd weit in die Illegalität veranlasst.

 Es ist eine klassische Liebesgeschichte. Der Protagonist ist bereit, für seine Frau viele Gesetze zu verletzen und mit jeder unvollständigen Rekonstruktion ist die Angst vor einem totalen Versagen, dem Verlust des geliebten Menschen auch für den Leser körperlich spürbar. Am Ende findet er mit weniger als einem Tag Zeit die fehlenden Schachfiguren, sie sind aber in den Händen einer FBI Agenten, die sich damit indirekt auch eines Verbrechens schuldig machen würde. Auch wenn sie nur schweigt. Das Ende ist zufrieden stellend. Zwar setzt der Autor auf ein eingeschränktes Happy End, er konstruiert es allerdings nicht und gibt seinen Figuren die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen und diese positiv gesprochen auch umzusetzen. Das macht den Reiz dieser wirklich wunderschönen Geschichte aus. Auch wenn das Aufgeben von Gepäck an Flughäfen immer sehr gefährlich ist.

 Die kürzeste Geschichte dieser „Forever“ Magazine Ausgabe ist „Ninty-five Percent Safe“ von Caroline Yoachim. Der Titel bezieht sich auf die Marge von Unfällen bei der Aussiedelung von Menschen durch ein Wurmloch zu einem neuen Kolonialplaneten. De Geschichte kann aber auf der emotionalen Ebene nicht überzeugen. Zwei junge Leute müssen sich treffen, weil die eine Familie die durch einen nuklearen Winter zerstörte Erde mit immer weniger Lebensraum verlässt und auswandert. Die andere Familie möchte gegen alle Logik auf der Erde bleiben, wobei die Tochter schließlich es selbst in die Hand nimmt, eine Entscheidung zu treffen. Das Problem ist, dass eben nicht alle Familienmitglieder gesund auf dem neuen Planeten ankommen. Die emotionale Wucht dieses Verlusts wird nicht einmal in Ansätzen beschrieben, die Protagonisten erscheinen eher eindimensional gezeichnet und der neue Anfang ist gleichzeitig das Ende dieser irgendwie mechanisch erscheinenden Kurzgeschichte. 

 Neil Clarke präsentiert drei sehr unterschiedliche Texte, in denen es im Grunde auf verschiedene Art und Weise auf die Begegnung mit dem „Unbekannten“ ankommt. Trotz einiger Schwächen lassen sich alle drei Geschichten gut und kurzweilig zu lesen. Vor allem weil der Herausgeber immer wieder Namen der zweiten Reihe nominiert, deren Werk eine Wiederentdeckung wert ist.

Forever Magazine Issue 76 cover - click to view full size

E Book, 112 Seiten

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