Der Wandler Verlag legt mit eindrucksvollem Titelbild Derek Fords – er hat auch einige Innenillustrationen dieses Buches gestaltet – Jeffrey Fords mit dem World Fantasy Award und dem Shirley Jackson ausgezeichneten, für den Locus Award nominierten teilweise autobiographischen Roman in einer Übersetzung von Eva Bauche- Eppers vor. Im Interview mit dem Herausgeber Michael Schmitt geht der Autor auf die Bezüge zu seiner eigenen Jugend in der amerikanischen Provinz ein. Je nach Fasson sollte der Leser allerdings das Interview erst nach der Lektüre des Romans in Angriff nehmen, da Jeffrey Ford einen wichtigen Ansatz der Geschichte „verrät“.
Jeffrey Ford ist im November 1955 in West Islip, Suffolk County geboren worden. Geht man davon aus, dass das Zeitalter der amerikanischen Unschuld bis an den Beginn der heißen Phase des Vietnamkrieges; des Sommers der Liebe reichte, dann entspricht der Ich- Erzähler der Geschichte dem Autoren. Der Roman beinhaltet nur ein einziges (möglicherweise) phantastisches Element. Das ist der große Unterschied zur Vergangenheitsebene in Stephen Kings „Es“ , der Plot getrieben von der Widerstandsfähigkeit, aber auch Zerbrechlichkeit der unschuldigen Jugendlichen liegt näher zu seiner verfilmten Novelle „Stand by Me“, auch wenn die Geschichte ohne das „Übernatürliche“ – mit diesem Begriff muss rückblickend vorsichtig umgegangen werden – ebenfalls hervorragend funktioniert.
Die Handlung beginnt in den Vorstädten auf Long Island, im Schatten New Yorks. Der Ich- Erzähler – als einziger Charakter dieses Buches lernt der Leser nicht seinen Namen kennen – wartet auf den Eismann. Er wird vergeblich warten. Das Schicksal des Eismanns ist einer der ersten dunklen Schatten dieses einzigartigen Jahres. Der Erzähler lebt mit seinen beiden älteren Geschwister; seiner Alkoholkranken Mutter, dem Vater mit drei Jobs und schließlich den Großeltern in der ehemaligen, jetzt umgebauten Garage zusammen.
Während der Vater von morgens bis abends arbeitet, ist die Mutter die klassische Alkoholikern, die zwischen Himmel-hoch-jauzend und Zu-Tote-Betrübt hin und her schwankt. Manchmal sogar an einem einzigen Abend. Sie ist kreativ, liebt Doyles Sherlock Holmes; kann wie alle Mitglieder der Familie nicht koch und ich neben ihrer Alkoholsucht auch eine starke Raucherin. Trotzdem liebt sich der Erzähler.
Der Vater ist selten zu Hause. Und wenn er am Wochenende frei hat, gehen die Familienmitglieder in die Kirche, machen einen Ausflug mit dem Auto oder grillen natürlich Burger im eigenen Garten.
Der ältere Bruder Jim ist das Großmaul mit dem weichen Herzen. Er schützt seine Geschwister, er ist der aktivste Teil der Familie. Schule ist im Grunde nichts mehr für ihn, mit dem Leben kann er auch noch nichts anfangen. Aber er ist talentiert. Im Keller des Hauses hat er aus Müll die kleine Vorstadtsiedlung nachgebaut, in welcher die Familie lebt. Aus Knetgummi formt er die einzelnen Figuren und stellt sie vor ihre Häuser.
Mary ist das Nesthäkchen. Die kleine Schwester. Niemand weiß, ob sie einfach nur im Denken ein wenig langsamer oder hochbegabt ist. Aber sie hat anscheinend einen sechsten Sinn und kann die einzelnen Kunststofffiguren nach dem eigenen Gefühl in der Spielzeugstadt bewegen und hat nicht selten recht. Diese Gabe zeigt sich sowohl nach dem Verschwinden eines Jungen – die Wahrheit kommt natürlich erst sehr viel später ans Licht – wie auch eines Stalkers, der nachts in die Fenster schaut und anscheinend ein deutlich dunkleres Geheimnis hat.
Am Ende der Geschichte beginnt sich die introvertierte Mary aus ihrer Scheinwelt mit imaginären Freunden zu lösen. Sie lernt ein anderes Mädchen kennen, beginnt zu rauchen und auch zu leben. Der extrovertierte, manchmal ein wenig großmäulig aggressive Jom dagegen zieht sich immer weiter in sein Inneres zurück. Er macht Musik und bricht eher unbewusst auch den Kontakt zu seinen Geschwistern ab. Natürlich könnten diese emotionalen Veränderungen im Epilog ausführlich diskutiert und vielleicht sogar analysiert werden. Das würde aber erstens über das Ziel dieser Coming-of-Age Geschichte hinausschießen und nicht nur dem teilweise melancholisch subjektiven Plot widersprechen, sondern den Leser aus einer Zeit reißen, die es vielleicht in dieser seltsamen Form niemals so gegeben hat. Wie das normale Leben dürfen sich auch fiktive Charaktere ohne weitergehende Erklärungen verändern.
Der Ich- Erzähler ist eher verträumt. Er liebt die Pulpabenteuer Perno Shells, die auf eine eigenartige Art und Weise in der Bücherei verteilt sind. Er schreibt seine eigenen Geschichten. Am Ende ist er nicht nur die wichtigste Identifikationsfigur zum Leser, sondern in Hinblick auf die Jugendlichen der einzige Charakter, der sich nicht wirklich verändert.
Im Spätaugust überschlagen sich die Ereignisse. Ein schwächlicher Junge verschwindet; einer der Lehrer dreht auf dem Pausenhof durch; auch der Hausmeister ist kurze Zeit nicht aufzufinden. Anscheinend ist er aus Osteuropa in die USA geflohen und hat seine Familie zurückgelassen. Der angesprochene Stalker schaut in die Fenster und sorgt in der ansonsten ruhigen Nachbarschaft für Misstrauen. Und dann gibt es noch Mister White in seinem weißen Wagen, der immer mittendrin und niemals dabei erscheint.
Die Verbindung zwischen den realen Ereignissen – alle subjektiv und teilweise auf dem Hörensagen basierend – und der Fiktion in der Spielzeugstadt werden immer enger. Jeffrey Ford überlässt es als einen ersten Übergang in den Bereich des Phantastischen eher den Lesern als seinem sympathischen Ich- Erzähler, ob es wirklich eine Verbindung zwischen Realität und Spielzeugrealität gibt. Es besteht auch die Möglichkeit einer gegenseitigen Beeinflussung. Wie viele rote Fäden unterliegt Jeffrey Ford nicht der Versuchung, alles haarklein zu erklären und damit den Sense of Wonder dieser multidimensionalen Coming- of Age Geschichte zu unterminieren. Emotionslos finden sich alle Informationen ohne Beweise im Epilog. Dieser spielt teilweise einige Jahre nach dem vom Ich- Erzähler als Schattenjahr bezeichnenden Zeitraum. Selbst der Begriff des Jahres ist relativ, denn die Geschichte beginnt quasi im Sommer und endet kurz vor Silvester.
Der Roman lässt sich aus zwei Perspektiven betrachten. Die sachliche Ebene wäre eine Krimigeschichte. Mehrere Menschen begehen Straftaten. Sie haben dunkle Vergangenheiten und neben den üblichen Bedrohungen verschwindet ein schwächlicher Junge. Alles deutet auf einen Mörder, vielleicht sogar einen Massenmörder hin, der in der Kleinstadt sein Unwesen treibt. Beweise gibt es nicht. Die Polizei verhaftet einige der üblichen Verdächtigen, wobei Jeffrey Ford in einem Punkt zu einer Doppelung greift und damit einen wichtigen Aspekt seines Romans zu einer bitteren Realität und nicht zu einem aufsehenerregenden Einzelfall macht. Hier will der Autor zu viel auf einmal, Spannung erzeugen, wo seine dreidimensionalen Charaktere vollkommen ausreichend sind, um den Leser in der gelungen aufgebauten, so realistischen und doch aus einer Entfernung von fünfzig Jahren auch traumhaft erscheinenden Welt zu reißen. Am Ende kommt es zu einer Verhaftung. Es sind die Jugendlichen mit der Hilfe des aus eher einfachen Verhältnissen kommenden Ray – im Grunde die zweite Schlüsselfigur der Geschichte -, welche Erfolg haben. Ob sie für jedes Verbrechen in dem kleinen Ort den wahren Täter gefunden haben, steht auf einem anderen Blatt. Krimifreunde könnten deswegen enttäuscht sein, aber der Weg ist für die Jugendlichen gegen alle Widerstände der Eltern und der grotesk wirkenden Lehrer kein leichter. Aber mit jedem Schritt entwickeln sie ihre Persönlichkeiten weiter.
Auf der kriminaltechnischen Ebene könnte Kritik geäußert werden, sie muss es aber nicht. Viele seltsame und von Jeffrey Ford nicht erklärte Ereignisse säumen dieses Schattenjahr. Beginnend mit dem verschwundenen Eismann über den möglicherweise toten Jungen; dem wahnsinnig werdenden Lehrer, der auf dem Schulhof randaliert bis zu Mr. Barzetti, der in einem Jahrhundertwinter anscheinend von einem Schneepflug erfasst und getötet worden ist. Der Vater des Ich- Erzählers gräbt den Mann aus einer Schneeböe.
Über allem stehen der Spanner und der geheimnisvolle Mister White. Handelt es sich um ein und dieselbe Person? Es gibt auf jeden Fall mehr als einen Spanner, von denen einer/ eine kleine Gruppe eher harmlos ist/sind. Mister White ist der Neuling in der kleinen Ortschaft. Er verschafft sich auf eine perfide Art und Weise kurzzeitig Zugang zur Schule. Er hat in seiner aufgeräumten Garage eine riesige Tiefkühltruhe, aber auch eine Vielzahl von Flaschen mit einer besonderen Reinigungsflüssigkeit. Alles zeigt, dass er möglicherweise nicht nur ein Kinderschänder und – Mörder ist, sondern sein Handwerk inzwischen professionalisiert hat. Lange Zeit bleibt Jeffrey Ford bei den krimitechnischen Aspekten vage, aber diese Ambivalenz manchmal zu Lasten der Geduld der Leser zeichnet diesen Roman auch besonders aus.
Die zweite Perspektive – unabhängig vom phantastischen Element – ist deutlich effektiver. Jeffrey Ford beschreibt das Leben in der amerikanischen Kleinstadt, wie es vielleicht wirklich so gewesen ist. Es ist kein einfaches Leben für die Kinder. Die Schule wird eher zu einer Art Hindernislauf, er bereitet sie wenig auf das Leben vor. Die Familienidylle wirkt eher aufgesetzt. Der Vater ist todmüde von den drei Jobs, die er in den sechziger Jahren schon innehaben muss, um auf einer bürgerlichen Ebene seine Familie zu versorgen. Die Alkoholkranke Mutter erweckt weder beim Leser noch den Kindern wirklich Mitleid, aber grundsätzlich ist sie auch nicht durchgehend die Schreckschraube, als welche heute gerne Alkoholkranke bezeichnet werden. Sie hat viele Stärken, sie bemüht sich, die Kinder irgendwie mit zu erziehen und wie der Vater ist sie immer für die Kinder dar. Manchmal opportunistisch, manchmal uneigennützig. Aber der Leser muss im Gegensatz zum noch unwissenden Ich- Erzähler auch den Hut ziehen.
Die drei Geschwister sind meistens irgendwie auf sich alleine gestellt. Es ist erstaunlich, wie eng sie zusammenstehen und sich trotz der jeweiligen Unterschiede helfen. Hirn – der Ich Erzähler- ; Muskeln – Jim – und schließlich der Instinkt – Mary. Es passt und die Stärke des Buches liegt in der überzeugenden Zeichnung dieser Figuren. Als das Band der Familie zerfällt, die Eltern nicht mehr die dominanten Elemente in ihrem Leben sind, ändert sich auch das Verhältnis zwischen den drei Protagonisten.
Um die Kinder hat Jeffrey Ford eine Reihe von exzentrischen Nebenfiguren platziert, die für ihre teilweise recht kurzen Auftritte sehr minutiös gezeichnet worden sind. Sie werden in dem Augenblick positiv wie negativ lebendig, in welchem der Autor sie benötigt. Und sie passen sich nahtlos in diese fiktive idyllische Vorstadt ein.
Herausragend ist zum Beispiel der Lehrer Mr. Krapp. Er ist streng, an der Grenze zum Sadismus, aber bei den nicht einfachen Schülern auch nicht drüber hinaus. Es ist ein Zeichen des Respekt, das sich der Ich- Erzähler am Ende des Schuljahres und seiner Grundschulzeit zur Überraschung Krapps von ihm persönlich verabschiedet.
„Das Schattenjahr“ ist vor allem eine Geschichte voller Herzblut. Alles ist ausgesprochen lebendig. Damit unterscheidet sich Jeffrey Ford von anderen Autoren wie Stephen King, der irgendwann zur grotesken Übertreibung neigt und dem subtilen Horror abgeschworen hat. Stephen King ist der Autor mit dem Fuss auf dem Gas. Immer. Robert Aickman ist eher ein intellektueller Geistergeschichtenerzähler. Peter Straub gehört ebenfalls in diese Kategorie. „Das Schattenjahr“ erinnert auch mehr an die Arbeiten dieser beiden großen Horrorautoren im langen Schatten Kings und ist doch auf seine provozierende wie subtile Art und Weise auch eigenständig. Der Text lässt sich als Metaphor, als Allegorie auf das Heranwachsen in nur vordergründig sicheren Zeiten sehen. Die Gefahr lauert noch nicht in den grünen Dschungel Vietnams, sondern im eigenen Garten mit dem Kinderschänder und – Mörder, dem nicht harmlosen Spanner auf der Suche nach Erregung. Es gehört zu einer solchen Geschichte hinzu, dass die Kinder zusammen mit Ray auf ihren eigenen nächtlichen Touren das Gefühl des Spanners zu teilen beginnen. Sie wissen, dass es falsch ist, in andere Fenster zu schauen, aber sie können auch nicht „nein“ sagen. Zu einladend, zu wunderbar und vor allem zu anders ist das Leben hinter den Glasscheiben in den sauberen Vorstadthäusern. Diese Blicke in die Zimmer anderer Menschen werden zu den Blicken in die eigenen Seelen. Aber die Kinder wissen, dass sie die Grenzen dehnen, aber niemals überschreiten dürfen. Das ist der große Unterschied zum Mister White, der spät und nicht einmal gewaltig zum Antagonisten wird.
Aus heutiger Sicht könnten Eltern erschrecken, welchen Risiken die Kinder damals ausgesetzt worden sind und trotzdem überlebt haben. Die Kleinstadtwelt ist wie zum Beispiel David Lynchs „Twin Peaks“ voller Gefahren hinter den so sauberen Fassaden der Einfamilienhäuser. Nicht alle sind lebensbedrohlich; manche erscheinen auch eher aus der Perspektive von Kindern oder Heranwachsenden gefährlich. Aber es ist eine gänzliche andere Welt, die wie die Spielzeugstadt Botch Town im Keller des Ich- Erzählers verführerisch vertraut und doch exotisch fremdartig, aber in beiden Fällen dank Jeffrey Fords erzählerischer Fähigkeiten lebendig erscheint.
Ein solches Buch kann nicht ohne Finale auskommen. Das Finale verfügt über eine bittersüße Note. Es ist das erste Mal, dass – für die meisten Leser unerkennbar – das Phantastische die Bühne betritt. Aber Jeffrey Ford ist ein geschickter literarischer Manipulator. Der Leser ist gedanklich viel zu weit in Stephen King Country, als das er die Spiegelung der Ereignisse erkennt und die richtigen Schlüsse zieht. Diese werden ihm erst während des Epilogs offenbart.
„Das Schattenjahr“ ist eine interessante, eine die Geduld der Leser belohnende Lektüre voller subtiler Feinheiten, gut gezeichneter dreidimensionaler Charaktere und dem mehrfachen angesprochenen Blick in ein Amerika der sechziger Jahre, das niemals wirklich so unschuldig gewesen ist wie er die heutigen Geschichtsschreiber gerne hätten. Und das macht den besonderen Reiz dieser wunderbaren Story aus. Alles ist möglich, vieles ist wahr. Aus der Perspektive eines künftigen Autoren erzählt, der sich noch nicht um die Trennung von Fakten und Fiktion bemüht.
- Herausgeber : Wandler Verlag (12. Oktober 2024)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 370 Seiten
- ISBN-10 : 394882522X
- ISBN-13 : 978-3948825225
- Lesealter : Ab 16 Jahren
- Originaltitel : The Shadow Year

