Die Revolution schreitet voran, frisst aber noch nicht ihre Kinder. So könnte der historische Hintergrund von Karla Weigands zweitem historischen Krimi „Kommissar Lavalle und die toten Mädchen von Paris“ überschrieben werden. Der Titel ist nicht ganz richtig, denn Kommissar Lavalle jagt nicht nur den Mörder der angesprochenen toten wie jungen Mädchen, auch Männer fallen direkt oder als Kollateralschaden der Mordserie zum Opfer. Es ist nicht unbedingt notwendig, den ersten Band „Kommissar Lavalle und der Seinemörder“ gelesen zu haben, um direkt in diesen deutlich stringenteren, aber auch mit weiteren kriminaltechnischen Schwächen ausgestatteten Roman zu lesen. Allerdings entwickelt die Autorin den ermittelnden Kommissar und seine ehemalige Freundin, eine inzwischen schwangere Frau im ersten Band, deutlich dreidimensionaler und baut auf diesen Eckpfeilern eher auf.
Das Buch lässt sich aus drei Perspektiven betrachten: der historische Hintergrund, die privaten Beziehungen und schließlich den eigenen Kriminalfall. Die drei Aspekte begegnen sich im Laufe der Handlung immer wieder, aber eine isolierte Betrachtung hilft bei der Betrachtung der komplexen Geschichte.
Die französische Revolution mit dem Mob auf den Straßen entwickelt sich dynamisch weiter. Der König ist mit seiner Gattin aus Versailles in eher armselige Verhältnisse zurückgekehrt, weil die naive Vorstellung vorherrscht, dass sich die Massen schon irgendwann beruhigen und der hingeworfene Handschuh mit einer zeitweiligen Abkehr vom Luxusleben vor den Toren der Hauptstadt könnte ausreichen. Kommissar Lavalle begegnet zweimal in der Geschichte dem noch unbekannten Robespierre, dessen Karriere als blutiger Massenmörder noch bevorsteht. Allerdings sieht Lavalle in dem unscheinbaren Mann schon eine Gefahr für Frankreich, vielleicht auch für sich selbst. Aktiv spielt die französische Revolution eher hintergrund technisch eine Rolle. Bei seinen Ermittlungen muss Lavalle aufpassen, nicht unter die Räder der durch die Straßen ziehenden Mobs zu geraten. In Gaststätten muss er ein wenig vorsichtiger argumentieren und die unter bemannte Polizei sieht dem Treiben auf der Straße vor allem mangels Männern und Waffen zu.
Lavalles Frau Ginette ist hochschwanger und zusammen mit Freunden reisen sie aufs Land zu Verwandten, wo sie in Frieden leben können. Lavalle nimmt zwar Urlaub, wird aber unmittelbar nach der Geburt zurück nach Paris gerufen. Der Fall wird aber persönlicher, als Unbekannte sein gerade geborenes Kind zu entführen suchen. Anscheinend gehen Lavalles Ermittlungen ihnen zu weit. Er wird von Ginette vor die Wahl gestellt, entweder Polizist in Paris zu bleiben oder seine Familie zu verlieren. Natürlich ermittelt Lavalle in Paris weiter, während Ginette auf dem Lande bleibt. Lavalle beginnt eine Affäre mit einer Kellnerin in seiner Stammkneipe. Die persönlichen Aspekte des Falls wirken teilweise ein wenig stärker konstruiert als im ersten Roman. Dort musste sich der Kommissar selbst zum Lockvogel machen, um den Seinemörder schließlich zu überführen. Hier baut Karla Weigand eine emotionale Spannung auf, versucht den Druck auf ihren Kommissar zu verstärken, um anschließend nach dem Epilog wieder eine Friede-Freude-Eierkuchen Atmosphäre zu erschaffen. Um ein altes Sprichwort umzuformulieren: was in Paris geschieht, bleibt auch (vorläufig) in Paris. Zusätzlich nimmt die Autorin Ginette phasenweise aus der Handlung, was der Geschichte nicht gut tut. Im ersten Band war Lavalles Freundin ein aktives Element, ein junge kluge Frau mit guten Ideen. Teilweise gleicht Karla Weigand dieses Vakuum durch einen guten Freund Lavalles aus, der ebenfalls in Paris Strohwitwer ist. Trotzdem fühlt sich der mittlere Abschnitt ein wenig leer an. Im ersten Roman bestach die fast stoische Vorgehensweise ihres Protagonisten, der unter dem Druck der Öffentlichkeit und seiner Vorgesetzten sich wie ein Jagdhund mehr und mehr seinem Ziel näherte. Das ist grundsätzlich auch hier der Fall, aber die feuchtfröhlichen Exkurse in die Kneipenwelt und das Verhältnis mit seiner kurzzeitigen Geliebten, Gespielin wirken wie Füllmaterial. Der Druck der Presse - obwohl auf den Straßen deutlich mehr Blut grausam vergossen wird - wirkt überzogen. Aber Karla Weigand will damit zeigen, dass Lavalle nicht alleine im luftleeren Raum ermittelt.
Der Kriminalfall ist – wie beim ersten Band – vielleicht das schwächste Glied der Geschichte. Es ist keine klassische Ermittlungsgeschichte, da der Leser bis auf den Namen, aber weniger den Status der Täter vielleicht durch die Einschübe schon kennt. Lavalle muss aus dem Nichts heraus ermitteln, der Leser ahnt schon, warum immer wieder junge Mädchen aus unterschiedlichen Kreisen vergiftet und anschließend verstümmelt aufgefunden werden. Wer von den Verdächtigen – ein reicher Mann mit einer jungen, narzisstisch sadistischen Frau – der eigentliche Täter ist, spielt dabei fast keine Rolle mehr.
Auch wenn Kommissar Lavalle am Ende seiner Ermittlungen auch auf den Faktor Zufall im Gegensatz zur Selbstmordmission des ersten Buches angewiesen ist, baut Karla Weigand keine wirkliche Spannung auf. Es ist eine zufällige Begegnung, eine fast erzwungene Zeugenaussage und vor allem der Pfund einer auffälligen männlichen Leiche, welche schließlich den Fall final ins Rollen bringen.
Bis dahin bewegt sich die Autorin zwischen klassischer Ermittlungsarbeit vor dem chaotischen Hintergrund der französischen Revolution; verschiedenen in unterschiedliche Richtungen führenden Spuren und einem erstaunlich breiten Spektrum an Opfern: neben den angesprochenen jungen Frauen auch drei Männer (vom Bauunternehmer bis zum Priester) und ein Baby. Die Bestialität der Post Mortem Taten weist auf einen Täter oder eine Täterin hin, aber ohne die klassische Instrumente der Spurensicherung ist Kommissar Lavalle vor allem auf Augenzeugen angewiesen, die auch nicht an jeder Ecke lauern. Wie gegen Ende der Geschichte hilft auch hier eine frühe Zeugenbefragung, welche in eine Richtung deutet.
Erschwerend, aber gegen Ende während des Finals erstaunlich banal sind die potentiellen Täterkreise, in welche Kommissar Lavalle bei seinen Ermittlungen eindringen muss. Es handelt sich um reiche Bürgerliche mit natürlich guten Beziehungen zu einer Zeit, in welcher Beziehungen zwischen Leben und Tod sowohl der adligen Oberschicht, aber vor allem auch den Bürgern wie Lavalle einen lebenswichtigen Unterschied machen.
Karla Weigand hat das Vorgehen der Polizei gut recherchiert. Natürlich lässt sich eine Leiche obduzieren und relativ schnell findet der Arzt heraus, dass die Opfer vor den Verstümmelungen vergiftet worden sind. Einzelne Verletzungen von stumpfen Instrumenten oder einer Peitsche sind den Frauen vorher zugefügt worden. Eine solche “Bestrafung” kann der Leser in einem der frühen Einschübe verfolgen. Die sexuellen Perversionen werden erst später beschrieben, sind aber voyeuristisch eher zurückhaltend beschrieben. Im ersten Lavalle Krimi gab es eine Reihe von deutlich angenehmeren Sequenzen, kombiniert mit den Zuständen in den französischen Schlachthöfen.
Neben dem Zufall - die letzte Leiche ist auffällig; die Erklärung eines neuen Angestellten nicht zufriedenstellend - wird auch relativ schnell aufgrund einer kürzlich aufgegebenen Vermisstenanzeige bei einem anderen Department die Identität des ersten Frauentorsos geklärt. Das bringt Lavalle nicht wirklich weiter, aber mit Befragungen im sozialen Umfeld des Opfers im weiteren Sinne beginnt sich trotz immer mehr weiblicher Leichenfunden ein roter Faden zu bilden.
Der lässt sich rückblickend sogar aufteilen. Die eigentlichen Morde stehen dabei konträr zu den aufgefundenen, verstümmelten Leichen. Das Eine ist die fast hilflose Abfolge des Anderen. Dazu kommen drei Tote, die - wie schon angesprochen - am falschen Ort zur falschen Zeit gewesen sind. Ohne einen Zeugen einer impulsiven Handlung wäre die Tat gar nicht aufgeklärt worden. Positiv ist, ohne Lavalles Hartnäckigkeit wären die Morde auch nicht zu einer kleinen Tätergruppe und vor allem einem Initiator zurückverfolgbar gewesen. Technisch gesehen fehlt dem Leser nur ein Name. Alles andere liegt von Beginn an durch die eben spannungstechnisch eher störenden Einschübe auf dem Tisch. Diese Vorgehensweise zeichnete je nach Perspektive den ersten Roman um Kommissar Lavalle positiv oder negativ aus. Aus historischer Sicht nachvollziehbar, bei einem Krimi je nach Erfahrung es Autoren herausragend gut oder störend schlecht. Viele Krimiautoren rücken die psychopathischen Täter zu sehr in den Mittelpunkt der Geschichte, hier wirken sie ein wenig unterentwickelt, klischeehaft, auch wenn Karla Weigand Sadist und Masochist/ Voyeur gut voneinander abgegrenzt hat. Der Funke will aber trotzdem nicht überspringen, so dass der Leser einige der grausamen Taten zur Kenntnis nimmt, aber keine Beziehung zu den Opfern aufbauen und den Täter/ die Täter wie die anonymen Snuff Filmhersteller der Gegenwart nur betrachten, aber nicht wirklich verachten kann. Vor allem vor dem Hintergrund der beginnenden, ebenfalls brutalen wie menschenverachtenden Grausamkeiten der französischen Revolution. Damit sollen die sollen die Taten nicht herabgewürdigt oder gar entschuldigt werden, aber in einem Umfeld des Wahnsinns, des Massenmordes durch die revolutionären Gerichtshöfe wie auch den durch die Straßen ziehenden Mob verblassen sie und integrieren sich fast in diese bestialische Epoche. Dabei ist die Idee dieser außer Kontrolle geratenen sexuellen Beziehung Dritten gegenüber gut und vielleicht ein Spiegel der abartigen Perversionen in den Häusern der Reichen gegenüber den Exzessen auf den Straßen.
“Kommissar Lavalle und die toten Mädchen von Paris” ist von der erdrückenden Atmosphäre her ein überzeugender historischer Roman, der als Krimi mehrfach auf den Faktor Zufall angewiesen ist; gegen Ende ein wenig überstürzt erscheint und hinsichtlich der Zeichnung der Antagonisten Tiefe vermissen lässt. Während der erste Roman um den jungen, inzwischen deutlich mehr anerkannten Kommissar Lavalle in dieser Hinsicht einen unangenehmen, im Grunde verstörenden Realismus angeboten hat, wirkt der eleganter und stringenter geschriebene zweite Teil in diesem Punkt unabhängig von den angesprochenen Stärken gewogen und zu leicht befunden, obwohl sehr viel interessantes Potential vorhanden gewesen ist.

- Herausgeber : p.machinery (17. September 2024)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 368 Seiten
- ISBN-10 : 3957654238
- ISBN-13 : 978-3957654236
- Lesealter : Ab 16 Jahren
