Corrupting Dr. Nice

Corrupting Dr. Nice, Titelbild, Rezension
John Kessel

In seiner langen Karriere hat John Kessel Dutzende von teilweise prämierten Kurzgeschichten geschrieben, aber insgesamt nur viereinhalb Romane. Bei dem halben „Roman“ handelt es sich um eine Kooperation.

 In den neunziger Jahren verfasste der Amerikaner neben seinem im Heyne Verlag veröffentlichten Debüt „Gute Nachrichten von den Sternen“ noch den Band „The Pure Product“, im 21. Jahrhundert folgte dann sein persönliches Mondabenteuer, an dem er mehr als sieben Jahre neben seinem normalen Beruf geschrieben hat. Den Abschluss seiner ersten Romanphase bildete 1997 die Zeitreisegeschichte „Corrupting Dr. Nice“. In seiner Einleitung widmet John Kessel die Geschichten den Meistern der amerikanischen Screwball Komödie wie Howard Hawks, Frank Cappa , Billy Wilder und unter anderem auch Preston Sturges, dessen „The Lady Eve“ durchaus eine Vorlage für die überdrehte Geschichte hätte sein können.

Neben absurden Situationen zeichnet die Screwball Komödie ein erstaunlich feines Gefühl für die damalige Zeit aus. Nicht selten trafen intelligent, aber sozial unterentwickelte Männer durchaus in guten Berufen auf lebenslustige Frauen aus guten Hause, die sich teilweise erstaunlich ins Zeug gelegt haben, um ihren Mann einzufangen, während der damalige Zeit entsprechende Inkarnationen echter mit beiden Beinen im Leben stehender Männer ignoriert oder schlimmer noch demotiviert worden sind.

 Im Gegensatz zu „Gute Nachrichten von den Sternen“, der im Verlaufe der Handlung in zu viele auch als Kurzgeschichten abzuhandelnde Episoden zerfallen ist, hat die Idee, eine Science Fiction Screwball Komödie zu schreiben, John Kessel bei der Strukturierung des Buches geholfen. Der Plot zerfällt in drei große Abschnitte, wobei das Finale im Grunde fast als positiver Epilog zu verstehen ist, in dem auf sehr unterschiedliche Art und Weise die im Verlaufe der vor allem im ersten Abschnitt überdrehten Handlung aufgebauten Missverständnisse relativiert und erklärt werden. Wie es sich für derartige Geschichten basierend auf Filmen der dreißiger und vierziger Jahre gehört, muss das Ende ein Happy End sein. Bis dahin ist es aber ein weiter Weg, der nicht nur tief in die Vergangenheit, sondern in einer der besten Phasen des ganzen Romans sogar in die futuristischen Gerichtssäle der Zukunft führt, in denen es weniger um Gerechtigkeit, sondern ganz einfach und schnöde Quoten geht.

 Zeitreisen sind aus der Zukunft möglich. Auch Tourismus. Entlang der Zeitroute hat die Company sogar extra Hotels inklusiv Bewachung aufgebaut, in denen sich die Reisenden aufhalten können. Zeitsprünge über mehrere hundert Jahre sind teuer und kosten viel Energie. Daher ist es sinnvoll, immer wieder Zwischenstopps einzulegen. Jede Veränderung in der Vergangenheit hat keine nachhaltigen Auswirkungen auf die Zukunft, da quasi ein neues Paralleluniversum entsteht. Gegen Ende des Plots macht John Kessel aber nicht nachhaltig genug klar, ob es möglich ist, nicht nur zwischen diesen neu erschaffenen Universen hin und her zu springen, sondern ob eine Vermischung der einzelnen Zeitstränge rückwirkend nicht doch Veränderungen in der Zukunft als Ausgangsbasis der Reise hat. Aber diese Idee ist hinsichtlich des zugrunde liegenden Plots auch eher irrerelevant. Am Ende, wenn die notwendige Kartharsis den unmännlichen Protagonisten vom Weichei zum „Mann“ macht, braucht John Kessel diese Idee der Zeitreise, um Unrecht nicht zu heilen, aber zumindest zu begradigen. Es wirkt aber eher wie ein abschließend konstruierter Epilog als das diese Idee ein wichtiger Bestandteil der ganzen Geschichte ist.

 Im Mittelpunkt stehen vier sehr unterschiedlichen Protagonisten. Dr. Owen Vannice ist der Sohn einer der reichsten Familien der Zukunft. Sein verzweifelter Vater finanziert eine Expedition in die tiefste Vergangenheit, um Untersuchungen an Dinosauriern durchzuführen. Vannice Spitzname ist „Dr. Nice“. Er entschließt sich gegen alle Regeln einen Dinosaurier aus der Vergangenheit zu entführen. Nur strandet er ausgerechnet um die Zeit der römischen Besetzung in Jerusalem.

 Ebenfalls in der Epoche halten sich Genevieve und August auf. Sie leben vom Trickbetrug, wie sie eindrucksvoll gleich zu Beginn des Romans zeigen. Sie erkennen in Vannice ihr nächstes Opfer. Da das Ziel und damit der möglich Ertrag höher als alles andere ist, muss der Plan auch komplizierter und effektiver sein. Genevieve versucht sich in Vannices Vertrauen zu schleichen und Interesse an seinen Forschungen zu heucheln. Dabei verliebt sie sich – wie es sich für das Subgenre gehört – in den jungen naiven Mann. August versucht zu verhindern, das sich seine Tochter in den jungen Mann verliebt.  Dieser entscheidet sich schließlich ebenfalls aufgrund einer Reihe von Missverständnissen gegen die junge wie attraktive Frau. Natürlich plant sie ihre Rache.

 Der vierte Protagonist ist Simon. Er will gegen die Eindringlinge vorgehen, welche das ihm bekannte Jerusalem zu einem Jahrmarkt der Eitelkeiten macht. Zusammen mit einer Gruppe Verbündeter überfällt er das Zeittouristenhotel und nimmt nicht nur Vannice, sondern auch Genevieve und August als Geiseln gefangen.

 Die grundlegende Prämisse mit der Vergangenheit als Spielplatz insbesondere für die Reichen ist nicht unbedingt neu. Michael Swanwick hat ein vergleichbares Szenario in „Bones of the Earth“ als Grundlage für eine ernste Geschichte genommen. Der kurze Zeit später entstandene Film „Thrill Seekers“ gibt der Idee noch einen Adrenalinkick, in dem Touristen kurzzeitig an die Orte geschickt werden, an denen aufgrund Naturkatastrophen und Unglücken viele Menschen ums Leben gekommen sind. John Kessels Buch ragt allerdings aus der Masse durch den leichten Ton der Screwball Komödie heraus. An vielen Stellen erkennt der Leser die Inspirationen. So ähnelt der erste Aufenthalt des kleinen Dinosauriers in dem Zeitreisehotel natürlich einigen Sequenzen aus „Leoparden küsst man nicht“. Genevieve als Charakter ist direkt Preston Sturges unterschätzter Komödie „The Lady Eve“ entstiegen. Und Gerichtsszenen inklusiv der entsprechenden Melodramatik allerdings ohne Gastauftritt von Abraham Lincoln hat Frank Capra in einigen seiner mit James Stewart entstandenen Filmen so exzellent, pathetisch kitschig und doch nachdenklich stimmend umgesetzt. Wobei die verbale Konfrontation zwischen Jesus und Abraham Lincoln im futuristischen Gerichtssaal schnell an Fahrt verliert und die aufgebauten Erwartungen als eine der wenigen kleineren Enttäuschungen im Verlaufe der überdrehten Handlung nicht erfüllen kann.

Eine weitere große Stärke des vorliegenden Romans liegt in der Tatsache, dass die Balance zwischen der geradlinigen Screwball Handlung und einigen Exkursen in den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen stimmig geplant worden ist. Immer wieder regt John Kessel unabhängig vom absichtlich kitschig beschriebenen seine Leser zum Nachdenken an. Vor allem Simon ist in dieser Hinsicht die Figur, die entwurzelt verzweifelt um sein Jerusalem kämpft, das er unwissend schon lange an den Kommerz verloren hat. Schein Schicksal ist auch nur ein vielleicht fauler Kompromiss, aber im Gegensatz zu einigen anderen Autoren kümmert sich John Kessel bis zum Ende um seine Figuren und bietet eine Lösung an, die wie eingangs erwähnt auch nur funktioniert, weil John Kessel ein wenig die logische Grundprämisse sich zurecht bricht.

 Neben den absurd komischen Situationen ist die große Stärke der Screwball Komödie vor allem im Original das Feuerwerk an pointierten, teilweise doppeldeutigen und deswegen der Zensur entkommenden Dialogen. In dieser Hinsicht ragt „Corrupting Dr. Nice“ aus der Masse der Science Fiction heraus und erinnert in vielen Abschnitten positiv als Hommage an Robert Sheckley, einem Meister des Suversivem. Vannice hat von seinen Eltern eine Art Extrasinn eingepflanzt bekommen, der anfänglich das Geschehen arrogant zynisch und von oben herab kommentiert. Bis er erkennt, dass zwanzig Jahre im Körper eines Menschen nicht unbedingt seinen Recyclingwert erhöht haben und er sich mit seinem Herren/ Meister arrangieren sollte, um nicht zum buchstäblich alten Plastik geworfen zu werden.

 Es ist vor allem die Hommage, diese Anlehnung an die großartige Form der Screwball Komödie, welche „Corrupting Dr. Nice“ vor allem für Fans dieses Subgenres zu einer so schönen, einzigartigen und vielschichtigen Lektüre machen. Spätestens nach den dreihundert Seiten hat der Leser wieder Lust darauf, die alten Filme noch einmal zu sehen und herzlich über eine aus heutiger Sicht so naiv unschuldige Zeit zu lachen.  

  • Taschenbuch: 320 Seiten
  • Verlag: St. Martin's Press; Auflage: 1st Trade Pbk. Ed (15. Februar 1998)
  • Sprache: Englisch
  • ISBN-10: 0312865848
  • ISBN-13: 978-0312865849