Der Esper und die Stadt

Katherine MacLean

Der Titel “Der Esper und die Stadt” fast Katherine MacLeans Episodenroman, bestehend aus der mit dem NEBULA Award ausgezeichneten Novelle „Missing Man“ als Kernstück. Das Titelbild der deutschen Ausgabe, 1982 im Moewig Verlag erschienen, impliziert einen Fantasyinhalt, aber es handelt sich um eine reinrassige Science Fiction Kriminalgeschichte, die wie Herausgeber Alpers in seinem Nachwort klar macht, in einem Atemzug mit James Blish „Der Psi Mann“ , John Brunners „Der ganze Mensch“, aber vor allem den von Alpers nicht erwähnten Robert Silverberg Meisterwerken „Es stirbt in mir“ und „Der Seher“ genannt werden muss. Allen Roman ist gemeinsam, dass sie die Idee eines telepathisch begabten Menschen vor allem in soziologischer Hinsicht fast mehr als Fluch denn als Gabe behandeln und die Vereinsamung dieser Mutanten in den Mittelpunkt dieser tragischen, aber auch erwachsen erzählten Geschichten stellt.

 Die 1925 geborene Katherine MacLean begann 1949 professionell Science Fiction Geschichten zu publizieren. In ihrer ersten Veröffentlichung „Defense Mechanismen“ ging es auch um verborgen gehaltene telepathische Fähigkeiten. Es folgten eine Reihe von Kurzgeschichten, teilweise in Zusammenarbeit mit ihren jeweiligen Ehemännern, bevor sie 1971 wie eingangs erwähnt für „Missing Man“ als beste Novelle mit dem NEBULA Award ausgezeichnet worden ist.

 Vier Jahre später erweiterte sie die Novelle zu dem hier vorliegenden Roman, wobei die Übergänge inklusiv der obligatorischen, aber auch in der eigentlichen Novelle erwähnten Vorgeschichte sehr klar, fast zu statisch zu erkennen sind.

 In den siebziger Jahren verfasste sie noch zwei weitere Romane. Ihre letzte Kurzgeschichte erschien im Jahr 1995.  

 Für eine Novelle aus den frühen siebziger Jahren bzw. einen Roman, der 1975 publiziert worden ist, wirkt der Hintergrund ihrer Geschichte unheimlich frisch und aktuell. Wer allerdings die politische Zeitleiste in diese Ära verschiebt, wird die Quellen ihrer Inspiration erkennen und anerkennen, dass sich bei den Menschen im Grunde gar nichts verändert hat. Unter dem Einfluss der Rassenunruhen in den USA, der immer reicher werdenden Babyboomer Generation, aber auch den Nahostkonflikten mit der Besetzung der Gollan Höhen und der Siena Halbinsel durch Israel hat sie ein futuristisches New York entwickelt, in dem die Menschen in isolierten Vierteln leben, die autark wie kleine Länder sind und sich sogar mittels Mauern und Übergängen von der Umwelt abgeschottet haben. Andere Menschen leben in Unterwasserkuppeln direkt vor der New Yorker Küste, was zu einem dramaturgisch exzellent inszenierten, nachdenklich stimmenden Katastrophe führt.

Einige Viertel wie The Black Quarter sind leicht zu erkennen. An anderen Stellen treibt die Autorin Schabernack mit ihren Lesern. So gibt es die 1949er Kommune, in welcher die Menschen konsequent stoisch fünfzig Jahre hinter der Gegenwart leben. Bei den Rittern werden Turniere ausgefochten; die Nachkommen der Azteken dürfen offiziell nur Puppen opfern, was sie natürlich nicht machen. Die objektive Kommune ist eine Art Insiderwitz in Richtung der sich selbst befruchtenden Intellektuellen und die Bruderschaft bietet den Obdachlosenseelen eine Hilfe, die sich nicht dem Zwangsdiktat einer Jugendrente und damit einer Verschiffung aus New York beugen wollen.

 Es ist ein bizarr buntes Bild der Stadt, die niemals schläft. Lebendig, belebend, stimulierend, manipulierend, ewig jung und doch irgendwie dem sozialistisch angehauchten Zeitgeist der wilden sechziger und siebziger Jahre untergeordnet. Das diese Stadt mit ihren kleinen Kommunen dem wirtschaftlichen globalen Fortschritt nicht standhalten kann und die einzelnen Sektoren als individuelle autarke Viertel ohne die fast kommunistische Lenkung durch den omnipräsenten und doch irgendwie auch anonymen Staat nicht überleben können, wird allerhöchstens impliziert, aber niemals expliziert ausgesprochen.

 Auch wenn die Autorin im Laufe der Handlung sehr viele teilweise skurrile Charaktere einführt steht im Mittelpunkt des Buches eine ungewöhnliche Männerfreundschaft.  Ahmed und George Sanford sind als Waisen in den Ghettos der Stadt aufgewachsen und haben einige gefährliche Abenteuer überlebt. Ahmed arbeitet inzwischen für die New Yorker Polizei. Sanford ist ein Vagabund, der die staatliche Hilfe wegen des Zwangs, New York verlassen zu müssen ablehnt, aber auch kein geregeltes Einkommen hat. Im Prolog – wahrscheinlich früher eine eigenständige Kurzgeschichte – hat er mehr als achtzig Kilo abgenommen. Teilweise weil er nicht in der Lage ist, sich in eine fast vollautomatisierten Stadt Essen zu kaufen. Ahmed will ihm helfen. Dabei erkennt er, dass George Menschen aufgrund seiner nicht zielgerichtet entwickelten telepathischen Gabe und der besonderen Art, sich quasi in den Geist der Menschen hineinzuversetzen, finden kann. Sanford hilft Ahmed bei der Suche nach einem Vermissten, im Gegenzug macht ihn Ahmed zu einer Art Berater der Rettungsdienste auf selbstständiger Basis, da er die Voraussetzungen für einen regulären Dienst nicht erfüllt.

 Im Mittelpunkt des Romans steht die Konfrontation mit einem Jugendlichen, dessen Taten gefährlich für New York werden können. Sanford versucht ihn immer wieder unter Lebensgefahr zu bekehren, aber es kommt zu einem Duell des Willens.

 Sanford ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Der Leser muss diesen stoischen dickköpfigen jungen Mann akzeptieren. Immer wieder baut Katherine Maclean teilweise zu Lasten seiner Persönlichkeit Running Gags ein. So wird er hungernd gleich zu Beginn immer wieder mit köstlichen Kuchen und anderen Mahlzeiten konfrontiert, die ihm aber nicht angeboten werden, weil man ihm keinen Zucker und kein Fett nach seiner Diät zumuten möchte. Wie ein roter Faden durchzieht die Handlung Sanfords Unfähigkeit, Formulare zu verstehen und richtig auszufüllen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass er seine Bezahlung nicht erhalten kann und auf Einladungen Ahmeds angewiesen ist.

 Dazwischen finden sich phantastische Szenen, in denen Sanford seiner Intuition vertrauen muss.  Katherine MacLean beschreibt einfühlsam, wie Sanford auf der einen Seite diese Fähigkeit weiterentwickelt und gleichzeitig unter verschiedenen Komplexen leidet. Auch wenn er Menschen für die Polizei auffindet und Verbrechen löst scheint er in dieser Welt nicht richtig angekommen zu sein. Manchmal möchte der Leser ihm in einigen Szenen einen ordentlichen Schubs geben, damit er aus seiner manchmal dominanten Lethargie erwacht und seinem Leben ein Ziel gibt. Dann wird er wieder von den ihn umgebenden Ängsten mittelbar fast erdrückt und kann nur reagieren, aber nicht agieren.     

 Auch wenn Ahmed ihn gleichberechtigt positiv wie kritisch behandelt, erdrücken ihn anscheinend seine Minderwertigkeitskomplexe. Das bedingt bei der mangelnden Fähigkeit, sich klar und präzise auszudrücken und endet bei der fast selbstzerstörerischen Versuch, den Terroristen und Kriminellen Larry nicht mehr zu überführen und zu verhaften, sondern ihn zu bekehren. Manchmal behandelt Katherine MacLean diese Nervenzusammenbrüche eher ambivalent und opportunistisch. Der Herausgeber Alpers spricht in seinem Nachwort auch von kleinen Brüchen in der emotionalen Kontinuität der Geschichte, die auf der Tatsache beruhen, dass unterschiedliche Kurzgeschichten hier „zusammengebunden“, aber nicht unbedingt konsequent miteinander verbunden worden sind.

Aus der Masse wird die Geschichte durch die Tatsache herausgehoben, dass Sanford kein echter Telepath ist, der alle Gedanken seiner Mitmenschen lesen kann. Er improvisiert eher, folgt seinen Instinkten, als das er klare Ziele formulieren kann. Dadurch wirkt er auch eher wie ein Amateurhelfer als ein professioneller Türöffner.  

 Die eingeschränkten Fähigkeiten Sanfords helfen der Krimihandlung. Ansonsten wären einige der ineinander übergehenden Suchaktionen gleich auf der ersten Seite zu Ende. Der Prolog führt – wahrscheinlich nachträglich geschrieben – die einzelnen Protagonisten ein und ist ein wenig schwammiger, schwächer als das Herzstück des Romans.

 Die Novelle selbst ist ein perfekte Mischung aus spannender Handlung und dem angesprochenen faszinierenden Hintergrund. Immer wieder dreht die Autorin an einigen Stellen den Plot. Die Faszination Sanfords mit dem psychopathischen Larry kann der Leser schon verstehen. Es wird zu seiner Obsession, dem Jungen zu helfen wie ihm damals geholfen hat. Nur zynischerweise will sich Larry gar nicht helfen lassen und sieht den in dieser Hinsicht sehr naiven Sanford als perfektes Bauernopfer in seinem allerdings nur auf den ersten Blick so komplexen Plan. Ohne Sanfords ambivalente Assimilationsfähigkeit hätte dieser nicht funktioniert.

 Das Ende besteht allerdings aus einer Art unnötigem Sendungsbewusstsein. Die Exkursion an die Westküste wirkt eher unglücklich und die Idee, das die verrückten Ärzte durch ihre antiquierten, aber in den fünfziger bis sechziger Jahren noch eingesetzten Elektroschockmethoden etwas „heben“ statt etwas heilen wirkt wie ein zu starker Kontrast zu der bis dahin realistischen wie sozialistischen Grundhaltung. Zwischen den Zeilen kann der aufmerksam dem damaligen Zeitgeist folgende Leser noch einige Seitenhiebe auf die einzelnen im Schmelztiegel New Yorks lebenden Gruppen erkennen. Zumindest verzichtet sie abschließend auf eine mögliche Göttlichkeit des übernatürlich begabten Sanfords und versucht diesen unnötigen Exzess zu relativieren.

 Bis auf das ein wenig zu hektische, vielleicht auch zu „glatte“ Ende darf sich der Leser nicht vom unscheinbaren Titelbild täuschen lassen. Es handelt sich bei „Der Esper und die Stadt“ – ein grandioser Titel – um einen der am meisten unterschätzten, sich mit Mutanten auseinandersetzenden Romane nicht nur der siebziger Jahre.     

 

  • Broschiert 282 Seiten
  • Verlag: Rastatt : Moewig,
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3811835866
  • ISBN-13: 978-3811835863

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