
In seinem ausführlichen Nachwort geht Max Allan Collins nicht nur auf seine anscheinend lebenslange Faszination mit Mickey Spillane ein, sondern beschreibt auch, wie er inzwischen verschiedene Spillane Fragmente ergänzt und vervollständigt hat. Insbesondere auch Spillane Kultfigur Mike Hammer hat sich der Amerikaner positiv herangewagt und dem klassisch klischeehaften Hardboiled Detektiv einige neue Aspekte verpasst. Angeblich war „Dead Street“ zu knapp achtzig Prozent – acht von zehn Kapiteln – fertig. Im Gegensatz zu seiner sonstigen Vorgehensweise fehlte allerdings das Ende. Nach der Lektüre werden manche Leser aufgrund des radioaktiven Materials, das gestohlen und fast zwanzig Jahre später an den Meistbietenden verkauft werden soll, an die Spillane Verfilmung „Kiss me Deadly“ von Aldrich denken. In der Originalromanvorlage geht es allerdings nur um einen Konflikt mit der Mafia, so dass Spillane anscheinend vom Film ein wenig inspiriert diese Idee alleine in „Dead Street“ extrapolierte. Es wirkt fast ironisch, dass Spillane/ Collins diese interessante Grundidee auf den letzten Seiten wieder auf einen Mafiaplot in Kombination mit gekauften Cops und entsprechenden Daten reduzierten. Daher erscheint das spaltbare Material noch mehr als eine Art „MacGuffin“, wobei die Grundidee, dass das Wohnhaus mit dem gestohlenen Atommaterial im Keller demnächst abgerissen werden soll, auf der einen Seite die Ereignisse in Gang setzen soll, auf der anderen erschwerenden Seite allerdings zu wenig genutzt wird. Ebenso ungewöhnlich erscheint auf den ersten Blick die perfekte wie tragische Liebesgeschichte zweier Menschen, von denen der eine den anderen für tot gehalten hat, während der Andere nach einem Unfall an Gedächtnisschwund gelitten hat.
„Dead Street“ beginnt ungewöhnlich. Polizeicaptain Jack „The Shooter“ Stang hat sich in den Ruhestand versetzen lassen. Unruhig streift er durch die sich verändernden Straßen. Dabei erinnert er sich an seine vor zwanzig Jahren entführte Freundin Bettie, die anscheinend bei der Verfolgungsjagd wie die Gangster ertrunken ist. Eine Leiche hat man niemals gefunden. In einem der umständlich konstruierten Elemente des Plots wird Stang von einem ihm unbekannten Mann angesprochen. Dessen begüterter Vater hat eben diese Bettie aus dem Fluss gefischt. Sie hat ihr Gedächtnis verloren und ist erblindet. Da der Vater ahnte, dass sie von der Mafia anscheinend gejagt wird, hat er sie lange Zeit versteckt. Inzwischen selbst verstorben enthüllt dessen Sohn den Aufenthaltsort der Frau. Sie lebt in Florida in einer abgeschlossenen wie exklusiven Siedlung für ehemalige Polizisten oder Feuerwehrleute. Neben ihrem kleinen Bungalow hat der Sohn ebenfalls ein Haus für Stang gekauft. Er soll dort einziehen und sie weiterhin beschützen, da anscheinend die Bedrohung noch nicht vorbei ist und immer die Gefahr besteht, dass sich jemand nicht auf einen bleibenden Gedächtnisschwund verlassen möchte.
Stang ist positiv wie negativ ein klassischer, vielleicht ein mehr dreidimensionalerer Charakter als zum Beispiel Mike Hammer. Während seiner beruflichen Tätigkeiten war er ein harter Hund, der eher zuerst geschossen als gefragt hat. Die Liebe zu Bettie wirkt teilweise dagegen zu übertrieben. Kaum ist er in Florida angekommen und hat die Aufmerksamkeit seiner weiterhin attraktiven wie blinden Nachbarin geweckt, da beginnt er sie zu Fragen. Direkt zu Fragen und versucht angesichts einer Zeitungsmeldung – ihr ehemaliger Chef wird nach zwanzig Jahren überfallen und ermordet, alte Akte werden gestohlen – drängt anscheinend die Zeit. Im Verlauf ihrer immer intensiver werdenden Beziehung mit dem Wendepunkt der entsprechenden Beichte weckt Stang mehr und mehr die Aufmerksamkeit verschiedener Parteien. Mickey Spillane ist ein überdurchschnittlicher Actionautor gewesen, der auf die Dynamik seiner Plots vertraute. „Dead Street“ ist dagegen eine Idee, die insbesondere nach dem ersten Drittel um Glaubwürdigkeit zu behalten deutlich mehr Subtilität verlangt als Spillane einsetzen möchte. Glaubt der Leser den Ausführungen Collins, dann blieben diese Kapitel bis auf einige stilistische Anpassungen unverändert. In seiner erfolgreichen Karriere hat Collins mehrfach bewiesen, dass er diese Handlungswendungen eleganter, emotionaler und vor allem nuancierter schreiben kann. Es ist schade, dass er vor lauter Ehrfurcht diese deutlich schwächeren Passagen nicht modernisiert und angepasst hat.
Um die allerdings überzeugend charakterisierten Stang und Bettie herum haben Collins und Spillane einige Figuren platziert, die im Kern zeitlos sind. Das feige Computergenie war früher der Tippgeber, der selbst den besten Heist zum Wanken bringen konnte. Die Mafiosi fallen über ihre „normale“ Lebensweise, auch wenn ihre Tarnung perfekt zu sein scheint. Bei der Polizei gibt es die alten Freunde, die in den langen Dienstjahren abgestumpft sind und nicht glauben wollen, dass Stang tatsächlich einer heißen Spur folgt. Am Ende fügen Spillane und Collins zur Überraschung der Leser, aber nicht des Protagonisten noch einen weiteren „Schurken“ ein, der mit seiner Vorgehensweise verzweifelt versucht, die eigene Vergangenheit ruhen zu lassen. Vielleicht wirkt diese Vorgehensweise ein wenig überambitioniert, aber nicht selten ist in einem Mike Hammer Thriller der auslösende Katalysator eine Art MacGuffin. Bei der Suche deckt der knallharte Detektiv nicht selten ganz andere Verschwörungen auf. Die Auflösung des eigentlichen Falls – wie im vorliegenden Roman – ist dann nur noch eine Art Zufallsprodukt.
Interessant ist, dass wahrscheinlich eher Collins als Spillane einen Teil des Plots in eine post 09/11 Welt verfrachtet haben. Laut ihrer nicht ganz schlüssigen Zeitrechnung ist das spaltbare Material in den achtziger Jahren gestohlen worden. Zu einer Zeit, als man noch nicht mittels Internet daraus eine schmutzige Bombe bauen konnte und insbesondere die arabisch/ jüdischen Interessen noch gänzlich anders verteilt gewesen sind. In der Zeit des kalten Krieges erscheint es auch eher unwahrscheinlich, dass man erstens von Seiten der Militärs den Diebstahl akzeptiert hätte. Die Täuschung der Öffentlichkeit mittels fingierter Nachrichten ist allerdings eher konsequent. Bedenkt man, dass ein Diebstahl von spaltbaren Material vielleicht in den vierziger und fünfziger Jahren effektiver und nachhaltiger gewirkt hätte, hat der Leser an einigen Stellen das Gefühl, as habe Mickey Spillane nur die Grundidee modernisiert, den Inhalt aber am liebsten in Vergangenheit belassen. Das klassische Szenario des perfekten Coups, der allen Beteiligten zumindest ein kleines Vermögen eingebracht hätte, wird eher schwerfällig in die Gegenwart transportiert und wirkt deswegen sperriger als sie eigentlich erscheinen sollte. Auch die Auflösung entspricht er den klassischen Film Noir Garns, an denen sich Spillane mit seinen Romanen orientiert hat.
Bizarr, aber zu wenig extrapoliert sind die beiden extremen Gegenden, in denen der Roman spielt. Auf der einen Seite die „Dead Street“. Eine Straße verlassener Häuser, die in absehbarer Zeit abgerissen werden sollen. Spekulanten wollen Eigentumswohnungen dort bauen. In ihr scheint die Zeit stehen geblieben zu sein und sie erinnert am ehesten an die Häuserschluchten und Straßen, in denen Mike Hammer das Verbrechen gejagt hat. Auf der anderen Seite allerdings nach realem Vorbild gezeichnet die luxuriöse Ferienhaussiedlung in Florida, wo nur Polizisten und Feuerwehrleute leben. Stand findet sich in der Umgebung zu schnell zu recht. Der finale Showdown in seinem Haus gegen ein Verhältnis von vier bzw. fünf zu eins wirkt daher auch nicht wie eine Eruption von lange vermisster, insbesondere für Spillane typischer Gewalt, sondern eher im Gegensazt zur Auseinandersetzung im Keller eines der Häuser der „Dead Street“ wie eine lange vermisste Hommage an die „Mike Hammer“ Thriller. Als Hardboiled Krimi löst sich der eigentliche Fall zu schnell und zu passend in seine Bestandteile auf, als dass der Leser einen Augenblick wirklich daran denkt, dass zwanzig Jahre nicht bedeuten könnten.
Hardcore Spillane Fans werden Teile des Romans als zu seicht, vielleicht auch als zu gewollt empfinden. Wer auf der anderen Seite Einlass in Spillane so brutale wie faszinierende Welt finden möchte, der wird beim vorliegenden stringenten und stilistisch ansprechend verfassten Roman solide, vielleicht positiv sogar ein wenig antiquiert unterhalten werden.
DEAD STREET
Mickey Spillane
November 2007
ISBN: 978-0857683090
Cover art by Arthur Suydam