Ein Jahr vor dem vierzigsten Geburtstag der Erstveröffentlichung legt Michael Haitels p. machinery Werner Zilligs „Die Parzelle“ überarbeitet noch einmal auf. 1984 war der Roman Teil der zwölf Taschenbücher umfassenden „1984“er Reihe „Die positiven Utopien“. Im Gegensatz zum George Orwell Verlag Ullstein, der im gleichen Jahr zwölf seltene und dunkle Antiutopien oder mahnende Romane neu aufgelegte – „Ozeanische Bibliothek“ ist die Reihe ebenfalls nach „1984“ benannt worden – griff der Goldmann Verlag auf ursprünglich für die normale SF Reihe vorgesehene Bücher zurück, verkleidete sie aufwendig mit einem schönen Umschlag und präsentierte sie in dieser Reihe Werner Zilligs „Die Parzelle“ ist einer der wenigen Beiträge, welche wirklich reihentechnisch die Veröffentlichung in den positiven Utopien verdient haben. Ein Jahr später überarbeitete Werner Zillig den Roman noch einmal für eine Hardcover Veröffentlichung im Bechtermütz Verlag.
Für die dritte Auflage passte der Autor das Manuskript noch einmal behutsam an die technische Gegenwart an, wobei der Autor auf einzelne, den Plot vielleicht in eine andere Richtung beeinflussende Ideen verzichtet hat. Dadurch wirkt „Die Parzelle“ auf der einen Seite wie ein mahnender Anachronismus, auf der anderen Seite aufgrund der politischen Themen immer noch brandaktuell.
Der Klappentext weist zwar auf ein zukünftiges Deutschland hin, das ist aber nur bedingt richtig. Parzellen gibt es überall auf der Welt und die Geschichte dieser Bewegung skizziert Werner Illig ohne ironische Seitenhiebe. Die Bewegung stammt aus den USA, wo ein Mann – geistig anscheinend gesund und vermögend genug – sich erfolgreich durch die Gerichte geklagt hat. Er will sich aufgrund des Selbstbestimmungsrechts mit Drogen töten, ohne sowohl vorher als auch im Falle einer Pflege der Öffentlichkeit auf der Tasche zu liegen. Er hat es schließlich nicht gemacht und ist Politiker geworden. Auch hier fehlt eine kommentierende ironische Note. Aus dieser erfolgreichen Klage ist die Parzellenbewegung geworden. Menschen/ Gruppen können unter bestimmten Umständen eigene Kleinstaaten gründen. Diese müssen autark sein. Der Staat mischt sich nicht mehr ein. Sie tragen alle Risiken des neuen Lebens und sind von den staatlichen Leistungen abgeschnitten. Sie müssen monetär in der Lage sein, sich selbst zu versorgen. Die Parzellen sind entweder gekauft oder gemietet. Neue Parzellenauswanderer müssen volljährig sein – ein Aspekt, der im Roman eine Rolle spielen wird – und vor allem müssen sie die Ausbürgerung beantragen. Werner Illig zeigt auf, dass anfänglich die Parzellen eine Spielwiese für Exzentriker gewesen sind. Dabei reicht das Spektrum von den klassischen religiösen Gruppen über die Kriminellen mit strengen Hierarchien, natürlich den sich abschließend selbst zerfleischenden Anarchisten bis zu den Drogensüchtigen, deren Parzelle und ihr besondere Weg in den ersten Kreis im Mittelpunkt dieses Buches stehen.
Stefan Frohnberg lebt als Musik Programmierer in Köln. Er ist verheiratet und hat eine Tochter. Ein neues selbstlernendes Programm zum Musizieren für die breite Masse steht vor der allgemeinen Einführung und könnte ein durchschlagender Erfolg werden. Da erhält er eine Einladung von seinem Schulkameraden, aber niemals echten Freund Christian Kuntzeler. Der lebt in einer Drogen Parzelle in der Lüneburger Heide und wird bald „sterben“. Er möchte Stefan noch einmal sehen. Der nimmt sich eine Woche Urlaub und fährt in die Parzelle.
Wie Jörg Weigand in seinem diesen Roman einleitenden Vorwort ausführt, ist die Grundidee von „Die Parzelle“ faszinierend. Autarke Lebensräume unterschiedlicher Ausrichtungen, eingebettet in die jeweiligen Länder. Damit ist Werner Zillig weit entfernt von den Reichsbürgern, die die Bundesregierung nicht anerkennen. Im Laufe des Buches macht Zillig deutlich, dass die übergeordneten Gesetze durch die jeweilige Parzelle anerkannt werden und das der Aufenthalt illegaler Personen wie dem minderjährigen Mädchen Schwierigkeiten mit der Polizei bedeuten könnte. Es gibt also keine klassische Verweigerungshaltung zwischen der Außen- und der Parzellen Innenwelt. Auf der anderen Seite kontrolliert die Parzelle ihre Bewohner und ein Verlassen ist nur mit der entsprechenden Genehmigung möglich. Blockadebrecher gibt es aber immer wieder.
Kuntzelers Parzelle ist auch nicht das klassische anarchistische Drogenparadies. Technik darf nicht verwandt werden, aber ansonsten sind die Strukturen klar und ordentlich. Es gibt vier Bezirke, in welche man sich vorarbeiten darf. Der letzte Bezirk ist - Philip K. Dick folgend - möglicherweise eine andere Art von bewusstseinsebene. Christian Kuntzeler befindet sich inzwischen auf dieser Ebene und/ oder griffig in einem weißen Gebäude ohne Türen und Fenster, das nur über einen unterirdischen Gang erreicht werden kann. Der Aufenthalt ist freiwillig, scheint aber Höhepunkt und Ende eines Prozesses zu sein, der durch eine besondere Droge/ Tablette ausgelöst worden ist. Stefan Fronberg erhält diese Informationen in der zweiten Hälfte des Buches aus erster Hand. Die Tablette/ Droge regt besondere körpereigene Stoffe im Gehirn an und initiiert den „Trip“. Lange Zeit bleibt Werner Zillig in dieser Hinsicht vage und konzentriert sich eher auf einen erfolgreichen Menschen der Mittelklasse, dessen geordnete berufliche wie familiäre Existenz von sich selbst in Frage gestellt wird. Die Parzelle und deren Bewohner sind eher eine Art Katalysator, aber kein Mittel zum Zweck.
So taucht Stefan Fronberg auch nicht in eine fantastische Welt ein, sondern er wird mit einem anderen Lebensstil konfrontiert, dessen Verläufe und Ziele erstaunlich vage formuliert werden. Seine Gesprächspartner sind Christian Kuntzelers minderjährige Freundin, die mit ihm innerhalb des weißen isolierten Gebäudes im Gegensatz zu Stefan Fronberg „kommunizieren“ kann und ein Bibliothekar, der Fronberg stellvertretend für die Leser nicht nur die Historie der Parzellenbewegung präsentiert, sondern stellvertretend für die Entschleunigung der Welt steht, die Stefan Fronberg mit seinen medialen Erfindungen und Entwicklungen als Gegenentwurf sogar vorantreibt.
Die Parzelle dominiert nur das erste Drittel des Buches. Anschließend werden Stefan Fronberg und die Leser mit einer immer unterkühlteren Welt konfrontiert, in welcher Stefan Fronberg aufgrund seiner nicht selten auch implizierten Erlebnisse innerhalb der Parzelle nicht mehr leben kann oder will. Dabei ist sein Verhalten ambivalent, fast zerrissen. Wie ein Philip K. Dick Protagonist wird Fronberg aus dieser ihn wie ein Nest umschließenden Realität in eine „andere Welt“ katapultiert, die „real“ oder Teil der Parzellenkultur sein könnte. Im mittleren Abschnitt des Buches verlangt Werner Zillig unabhängig von der überzeugenden Zeichnung seiner Protagonisten sehr viel Geduld. Im Gegensatz zum manchmal ein wenig zu plakativ operierenden Philip K. Dick etabliert Werner Zillig noch einmal die Realität, in der Stefan Fronberg lebt, um sie im letzten Abschnitt des Romans zu demontieren und etwas Anderes aufzubauen.
Die Schwäche des Buches ist wahrscheinlich auch sein Ende. Werner Zillig etabliert einen seltsamen, für den Leser schwer nachvollziehbaren Kreislauf. Stefan Fronberg hat sich während des Aufenthaltes in der Parzelle, die von ihm geleugnete Einnahme einer Tablette/ Droge und die seltsame Beziehung zu dem minderjährigen Mädchen verändert. Er entfremdet sich von seiner bisherigen Umwelt in Köln und kann nur einen Weg gehen. Im Umkehrschluss aber kehrt die “Parzelle” im übertragenen Sinne auch in Stefan Fronbergs Realität zurück. Werner Zillig arbeitet die Wechselwirkung zwischen Außenwelt und “Innenwelt” (dabei spielen die einzelnen Ebenen der Parzelle keine entscheidende Rolle) nicht abschließend überzeugend genug heraus. Die Legende vom jungen Mann, der immer nach Italien zum Goldholen aufbricht und schließlich seine Liebe findet, wirkt eher zwangshaft integriert und soll einen Lösungsweg implizieren. Es besteht die Möglichkeit, dass sich Stefan Fronberg eine eigene Realität erschafft und vor allem die Parzelle niemals wirklich verlassen hat. Demgegenüber stehen Menschen, die innerhalb der Parzelle den Weg zu Ende gegangen sind, um anschließend eine Art Doppelexistenz zu führen, die in der Realität des Lesers allerdings überzeugend verankert ist. Während Stefan Fronberg eher verstört auf diese Entwicklungen reagiert, sich aber von seinem Plan nicht abbringen lassen möchte, fehlt dem Leser ein Bezug zu den tatsächlichen Abläufen. Werner Zillig lässt viele Interpretationsmöglichkeiten hoffen. Vielleicht zu viele Möglichkeiten, aber zu wenige Wege.
“Die Parzelle” ist auch heute noch ein ungewöhnlicher, lesenswerter und angesichts der verschiedenen Work-Life-Balance- Diskussionen sogar vor allem in der ersten Hälfte ein brandaktueller Roman. Gegen Ende verwischt irgendwie der rote Faden und Werner Zillig dreht absichtlich das Blatt. Aus dem langweiligen, bodenständigen Stefan Fronberg wird ein Brückenabreißer, während sein ehemaliger Klassenkamerad und Schulfreund Kuntzeler plötzlich in einer Inkarnation bieder und arrogant belehrend daherkommt. Diese Wendung kommt überraschend, aber nicht wirklich konsequent. Trotz dieser Abschlussschwäche ist die Neuauflage von “Die Parzelle” überfällig und p.machinery ist es zu verdanken, dass neben dem vor einigen Jahren veröffentlichten Band mit Kurzgeschichten auch Werner Zilligs Hauptwerk wieder vorliegt. Fehlen nur noch die im Corian Verlag publizierten Novellen, sowie Zilligs erster Kurzgeschichtenband, ebenfalls im Goldmann Verlag erschienen.
- Herausgeber : p.machinery; 1. Edition (3. Juni 2023)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 272 Seiten
- ISBN-10 : 3957653169
- ISBN-13 : 978-3957653161
- Lesealter : Ab 16 Jahren