Midnight Sun

Ramsey Campbell

PS Publishing hat Ramsey Campbells schon 1988 erstmals veröffentlichten Roman „Midnight Sun“ in einer optisch schönen, handlichen Neuauflage nachgedruckt. Das Buch stammt aus der mittleren Phase in Campbells inzwischen mehr als vierzig Jahre umfassenden literarischen Karriere und erschien wie viele frühe Romane Campbells unter dem deutschen Titel „Alptraumwelten“ in der Knaur Horror Reihe.  Seit den neunziger Jahren sind kaum Romane, sondern höchstens Kurzgeschichten oder Novelle Campbells in Deutsche übersetzt worden. Eine fragwürdige Entscheidung vieler Verlage, da die Quelle von Ramsey Campbells Inspiration H.P. Lovecraft feiert in verschiedenen Variationen inzwischen neue literarische und damit auch kommerzielle Erfolge in Deutschland.

Um es gleich vorweg zu schreiben. Es handelt sich um einen Roman, der fest in den neunziger Jahren verwurzelt ist. Unabhängig von der ökologischen Katastrophe aus dem Jenseits gegen Ende des Buches sind Teile des Plots in der GPS und Handy Generation nicht mehr so möglich. Der Leser muss sich gedanklich auf die neunziger Jahre mit Telefonzellen oder der Bitte an den Hotelier, ein Ferngespräch führen zu dürfen, einstellen.

Literarisch ist Ramsey Campbell ein Mann der leisen Töne. Der Schrecken entwickelt sich trotz zahlreicher Anspielungen nicht selten beginnend im Prolog leise und im Hintergrund. Seine Geschichte leben von der detaillierten Beschreibung des britischen Kleinstadtlebens, den gut gezeichneten Protagonisten und immer wieder einer Auseinandersetzung mit der eigenen Kunst. Der Faszination, aber auch des Drucks, erfolgreich zu schreiben. Die Kommerzialisierung des eigenen Werkes und schließlich auch die Auseinandersetzung mit den Verlegern, denen es nur ums Geld geht. Der Horror oder besser der Schrecken basierend nicht selten auf den alten Mythen/ Legenden Großbritanniens schleicht durch die Hintertür in das Unterbewusstsein der Protagonisten, wobei der Horror Erfahrene Leser viele Zeichen nicht nur der Zeit sehr viel schneller erkennen kann. Der Blick in den jeweiligen Abgrund wird durch die Tatsache verstärkt, das der Leser nicht selten in Campbells inzwischen umfangreichen Werk der einzige Augenzeuge ist, der einen ganzen überblick behält. So auch bei „Midnight Sun“. Es ist der Leser, der dem Schicksal der Protagonisten bis ans Ende folgt und alle Antworten abseits der unbeschreiblichen und damit nicht zugänglichen Übernatürlichen erhält. Dadurch trägt der Epilog eine gewisse Tragik in sich, aber neutral betrachtet, spielt das Handlungsdetail keine entscheidende Rolle. Alleine der Pyrrhussieg, der Erfolg auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner gibt den handelnden Personen ein wenig Hoffnung. Hoffnung, das sich diese Art der Ereignisse nicht mehr wiederholen und die dunkle Kette durchbrochen ist.

Bis dahin entwickelt Ramsey Campbell in  einem sehr gemächlichen Tempo mit einem Fokus auf seine Figuren eine geradlinige Geschichte, auf deren Atmosphäre sich der Leser einlassen muss. Sonst funktioniert das Buch nicht. Wer eine Splatter Geschichte mit vielen Toten – am Ende des Buches sind es trotzdem mehr als zweihundert Menschen, die sterben – erwartet, sollte auf einen anderen Vertreter des britischen Horrors dieser Ära ausweichen: Clive Barker.

„Midnight Sun“ ist die Lebensgeschichte Ben Sterlings. Darüber hinaus auch die tragische Geschichte seiner Familie. Als kleiner Junge läuft er seiner Tante weg und will zurück in die Kleinstadt Stargrave, wo seine Eltern wenige Monate vorher unter nicht ganz geklärten Umständen bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Jetzt wohnt er bei seiner Tante. Ben einziger Zugriff auf die Familie sind die Geschichten seines Großvaters, die dieser in einer seltenen Buchausgabe veröffentlicht hat. Sein Großvater wurde nackt und erfroren im Moor gefunden, nachdem er vorher auf einer Expedition die Mitternachtssonne gesehen hat. Auch wenn der Roman „Midnight Sun“ heißt, wird dieser Begriff eher ambivalent benutzt. Die Mitternachtssonne ist ein Phänomen nördlich oder südlich der jeweiligen Polarkreise im jeweiligen Sommer ( Campbells Roman spielt um Weihnachten), wenn die Sonne zum Zeitpunkt ihres tiefsten Punktes auf der täglichen Bahn noch oberhalb des Horizonts um Mitternacht zu sehen ist.  Diese Nord bzw. Südsommersonnenende wird in den jeweiligen Regionen gefeiert. Ramsey Campbell hat daraus die Idee übernommen, das der Anblick der „Midnight Sun“ etwas in den Protagonisten auslöst, als wenn sie einem archaischen Fluch zum Opfer fallen.

Zwischen dem langen Prolog und der eigentlichen Handlung liegen zwanzig Jahre. Ben Sterling ist inzwischen erwachsen, er jobbt in der Buchhandlung eines Freundes und ist mit Ellen verheiratet. Sie illustriert Bens Kinderbücher, die bislang eher literarische Achtungserfolge sind. Sie basieren teilweise auf den Geschichten, die Ben Stirlings Großvater erzählt bzw. in seinem inzwischen verschwundenen Buch hinterlassen hat. Mit der nächsten bevorstehenden Veröffentlichung hofft der Verlag  auf Stirlings literarischen Durchbruch. Gleichzeitig erfährt er vom Tod seiner Tante. Sie hat ihnen in ihrer Heimatstadt, aber vor allem auch Stargrave Häuser hinterlassen. Bei einem Haus handelt es sich natürlich um sein Elternhaus.

 Kritisch gesprochen folgt die Handlung im mittleren Abschnitt einer Reihe von Klischees. Ellen und Ben sind mit ihren beiden wohlerzogenen Kindern eine perfekte Familie. Sie will wieder in den Beruf der Werbekünstlerin zurück, ist aber unwillig, sich ihrem ehemaligen Vorgesetzten in neuer Position unterzuordnen. Ben träumt von einem Leben als freier Autor.

In die Heimat zu ziehen, ist selten eine gute Idee. In einer Horrorgeschichte noch weniger. Stargrave wirft trotz der kleinstädtischen Idylle mit seinem Elternhaus direkt am Rand der endlos wirkenden dunklen Wäldern den obligatorischen Schatten voraus. Bens Kreativität versinkt in den Vorgaben einer neuen Lektorin. Er wird immer verschlossener, während Ellen die Geschichte ihres neuen Buches übernimmt und ihr ein belebendes Element neben ihren immer wieder gelobten Illustrationen hinzugefügt.

In Stargrave sterben einige Menschen unter mysteriösen Umständen. Sie scheinen in ihren Häusern zu erfrieren und zu Weihnachten wird ein Rekordwinter mit Mengen an Schnee angekündigt.

Die Konflikte innerhalb der Familie werden aufgrund von Bens Lethargie immer stärker, aber Ramsey Campbell spielt diesen Teil der Handlung nicht zufriedenstellend durch. Immer wenn er Leser an eine verrückt emotionale Eruption in der Torrance/ Shining Tradition glaubt, nimmt Campbell mit einer fast fatalistisch erscheinenden Geste Bens die Spannung wieder aus der Handlung. Natürlich versucht der Brite den Schrecken der letzten vierzig Seiten in einem ruhigen Tempo aufzubauen, aber die Unterdrückung notwendiger Emotionen distanziert den Leser auch von den dreidimensionalen Charakteren.  Von unbestimmten Vorahnungen zu sprechen oder in einem Roman zu schreiben, kann die Geduld der Leser damals wie heute strapazieren.

Positiv sind auf der anderen Seite die – außerhalb der übernatürlichen Ereignisse – gut gezeichneten Protagonisten mit ihren alltäglichen Problemen. Ben leidet unter seiner Rückkehr, auch wenn er nicht wirklich den Finger auf die Wunde legen kann. Während seine Eltern im Laufe des Buches keine Rolle mehr spielen, ist es der lange Schatten seines unter den angesprochenen seltsamen Umständen verstorbenen Großvaters, welcher die Handlung dominiert. Es ist allerdings auch erstaunlich, dass wirklich niemand über einen Zeitraum von zwanzig  Jahren ein Exemplare seines Buches finden kann, um die entsprechenden Quellen zu verifizieren. Immerhin müssen die Veröffentlichungen so bekannt sein, dass der örtliche Antiquar (sein Sohn ist mit dem jungen Ben befreundet) schon kurz nach dem Tod von Bens Eltern ein Jahrestaschengeld für ein Exemplare ausgeben möchte.

Bens Veränderungen sind nur bedingt subtil. Eine gewisse Kälte in mehrfacher Hinsicht zieht in die Beziehung ein. Ellen versucht ihren Mann in Schutz zu nehmen. Vielleicht macht tatsächlich  Liebe in diesem Fall blind und sie ist abschließend der festen Überzeugung, dass eine Flucht aus Stargrave ihren Mann vor seinem Schicksal retten kann. Der Jahrhundertwinter mit meterhohen Schnee macht das unmöglich.  Natürlich passend für einen Horror Roman.

Die Probleme des Künstlers mit den Veränderungen in seinem Verlag; das erste Treffen mit den meistens jugendlichen Lesern in Buchhandlungen und schließlich die Angst vor dem literarischen Versagen werden von Ramsey Campbell überzeugender beschrieben als der eigentliche übernatürliche Schrecken. Mit diesen realistisch lebhaften Passagen gleicht der Autor das inhaltliche Ungleichgewicht zu Gunsten von Stimmungen und zu Lasten einer stringenten Handlung teilweise, aber nicht abschließend aus.

Die größte Stärke des Buches könnte auch als dessen größte Schwäche ausgelegt werden. Die finale Konfrontation natürlich in den Tiefen des Waldes mit dem Urbösen, dessen Beschreibung Ramsey Campbell absichtlich und atmosphärisch nachvollziehbar vor seinen Lesern versteckt. Diese Episode ist spannend und dynamisch. Auch hier spielt der Brite mit der Erwartungshaltung seiner Leser und fügt seinem Plot einige interessante Wendungen hinzu. Am Ende ermöglicht es Ramsey Campbell seinen Lesern, das Finale aus zwei sehr verschiedenen, den Punkt aber deckungsgleich treffenden Perspektiven zu betrachten. Es ist das Ergebnis, das zählt, nicht der Weg. Ramsey Campbell zieht das Tempo final nur ein wenig aber, liefert trotzdem ein stimmiges, schaurig schönes, auf keinen Fall weihnachtliches Ende.

„Midnight Sun“ ist ein guter Roman, um in Ramsey Campbells Werk einzusteigen. Stimmungsvoll, dunkel, basierend auf den eher angedeuteten britischen Mythen mit dreidimensionalen Charakteren und einem angedeuteten kosmischen Bösen, aber auch die Geduld der Leser ein wenig mit einem sehr ruhigen, manche mögen von einem phlegmatischen Handlungsaufbau fordernd. Ramsey Campbell ist ein Horrorautor, der lange Zeit in seinen jeweiligen Büchern die leisen Töne bevorzugt, bevor es schließlich zu einer finalen, in diesem Fall auch ein wenig an die dunklen Märchen der Kindheit erinnernden Konfrontation zwischen dem Helden wider Willen und den bösen Mächten hinter dem Horizont kommt. Das mag klischeehaft erscheinen, wird aber vor allem im englischen Original ausgesprochen gut und atmosphärisch intensiv erzählt.                

Midnight Sun

  • Herausgeber ‏ : ‎ PS Publishing (1. Oktober 2019)
  • 380 Seiten
  • Sprache ‏ : ‎ Englisch
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 1786364506
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-1786364500
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