Während im ersten Film/ Buch „Das Genie“ die Wissenschaftler des Blauen Palais eine Anomalie in der Forschung außerhalb wahrgenommen und die Diskrepanzen zu den eigenen Versuchen untersuchten, bevor sie den unwahrscheinlichen, aber nicht unmöglichen Fähigkeiten des Genies buchstäblich mit intensivem Körperkontakt auf den Zahn gefühlt haben, droht der Welt dieses Mal eine Gefahr von einem der Mitglieder innerhalb des Blauen Palais.
Diese Umkehrung der Verhältnisse nutzt Rainer Erler zu Beginn der Geschichte, um nicht nur die zwischenmenschlichen Verhältnisse innerhalb der kleinen Gruppe zu untersuchen, sondern beginnend mit der Definition der fast sozialisierten Forschung innerhalb der alten Villa auch die Grundregeln dem Zuschauer bzw. Leser noch einmal am Beispiel des Physiker von Klöpfer vor Augen zu halten.
Der Niederländer Joroen und Sibilla sind ein Paar. Die Sekretärin Yvonne ist mit dem heißblütigen Italiener Polazzo liiert und irgendwie bilden der Hausmeister Kühn sowie der angesprochene deutsche Physiker von Klöpfer auch eine asexuelle Zweckgemeinschafte der „Ausgestossenen“. Der Hausmeister Kühn ist der Ansicht, das er nicht in die Experimente als Helfer ausreichend einbezogen worden ist, während die kostspieligen Experimente von Klöpfers nicht nur das Budget des Blauen Palais überdehnen, sondern aus Sicht seiner Kollegen im Bereich der Laserforschung keine neuen Bahnbrechenden Erkenntnisse mehr ans Tageslicht fördern.
Die Budgets werden demokratisch durch Mehrheitsentscheid festgelegt. Von Klöpfer bekommt zwar seine Forschungsgelder für einen neuen Laser und die entsprechenden Kristalle, er weiß aber von Beginn an, dass es zu wenig ist. Auch die Labore sind aufgeteilt. Von Klöpfer greift auch hier fast neidisch nach dem großen Saal, in den Polazzo seit vielen Jahren seine Forschungen verlegen will, aber es bislang nicht geschafft hat.
Viel interessanter sind noch zwei andere Grundprämissen, an welche sich die Forscher ab ihrem Eintritt in das Blaue Palais halten müssen. Nach den Statuen müssen die jeweiligen Forscher ihren Kollegen jederzeit sämtliche Pläne, Absichten und vor allem auch Ergebnisse offenlegen. Ergebnisse, die im Blauen Palais erzielt werden, gehen in den Besitz der Gemeinschaft über und dürften höchstens von dem die Organisation finanzierenden Kuratorium in der Theorie nach sehr strengen Regeln in der Außenwelt genutzt werden.
In Rainer Erlers Welt des Blauen Palais gibt es kein schwarz oder weiß. Moralisch handelt es sich um Grautöne. Das Genie van Reijn ist auf der einen Seite ein Narzisst, der neidisch die Talente anderer Menschen besitzen will. Auf der anderen Seite nimmt man ihm ab, dass er die Schönheit von einzigartiger Musik, besonderer Malerei und literarischem Meisterwerk über den natürlichen Tod eines jeden Menschen hinaus erhalten möchte.
Die Büchse der Pandora öffnet in „Der Verräter“ ausgerechnet der von allen gewählte Leiter des Blauen Palais: Palm. Er erlaubt von Klöpfer, sich stärkere Generatoren und eine besondere Art von Laser aus der Industrie zu leihen, ohne die Quellen zu überprüfen. Auch von Klöpfer agiert sehr naiv, als er nicht den Herrn Köster – dieser hat ihn nach seinem Vortrag in Genf gelobt -, sondern den schmierigen Herrn Weigand in einem heruntergekommenen Büro in der Nähe des Flughafens antrifft. Angeblich handelt die Firma mit Scherzartikeln aus Asien.
Von Klöpfer erkennt natürlich spät, vielleicht zu spät, dass er in eine Falle gelaufen ist. Rainer Erler baut diese aber mit dem schmierigen Weigand; dem Flug nach Asien an Bord einer Linienmaschine und vor allem fehlender Verträge ein wenig zu simpel auf. Allerdings ist der Köder auch verführerisch und nicht nur von Klöpfer spricht im ersten Moment von Science Fiction. Mit seinen Laserforschungen wollte er Stickoxid zur Kunstdüngerherstellung billiger herstellen. Mit dem Kunstdünger soll der Hunger in der Welt bekämpft werden. Aber dank spezieller Laserkonstruktionen lässt sich noch etwas Anderes herstellen, was auf der einen Seite die Energieprobleme der Menschheit auf einen Schlag lösen könnte, auf der anderen Seite unendlich gefährlicher als die Atomenergie ist.
In seinen späteren Filmen hat sich Rainer Erler klar gegen bestimmte Forschungen gestellt. Bei den fünf Folgen des „blauen Palais“ ist seine Haltung noch etwas ambivalenter. So könnte diese neue, im Science Fiction Genre allerdings alte Form neuer Energie viele Probleme der Menschheit beseitigen, wenn sie in den richtigen Händen liegt. Eine Erkenntnis, die von Klöpfer auch sehr spät gewinnt. Im Gegensatz zum schwer zu interpretierenden Ende der ersten Folge agiert Rainer Erler am Ende von „Der Verräter“ deutlich optimistischer. Auch ist der Titel der Folge nicht richtig gewählt, denn von Klöpfer ist kein klassischer Verräter, der die Ideale des blauen Palais ignoriert. Am Ende erkennt er selbst, dass seine Forschungen vielleicht in der Praxis zu groß für die Forschergemeinschaft in der alten Villa sind, aber in moralischer Hinsicht genau in die Hände von Palm und seinen Kollegen gehört. Auch wenn Betrüger kein so plakativer Titel für eine Fernsehfolge und ein entsprechendes Buch wäre, passt er deutlich besser. Den von Klöpfer betrügt sich im Laufe seiner Forschungen selbst und agiert ausgesprochen blauäugig und naiv. Von Klöpfer wird aber auch betrogen und durch das Vorgehen seiner neuen „Freunde“ in eine unmögliche Situation gebracht. Er kann nicht entkommen, den theoretische Weg ins „Blaue Palais“ ist durch das ihm anvertraute Wissen versperrt. Auf der anderen Seite kann oder besser will er nicht an dieser Art der Forschung teilnehmen. Eine Erkenntnis, die er mit der ihm nachgereisten Sibilla teilt.
Auch wenn „Das blaue Palais“ als Mittelpunkt ihrer Forschung wichtig, in allen Folgen fast allgegenwärtig ist, präsentiert Rainer Erler den Menschen vor den Bildschirmen die ganze Welt in neunzig Minuten. Ab „Die Delegation“ erwies sich Deutschland für seine Art von Filmen als zu klein. Mehr und mehr strebte Rainer Erler bis in die neunziger Jahre nach draußen.
Vor allem Australien und die USA haben es ihm in einigen seiner wichtigsten Filme angetan. Erst im hohen Alter kehrte Rainer Erler mit einigen kleineren Fernseharbeiten nicht nur nach Deutschland, sondern in seine eigentliche Heimat Bayern zurück. In „Das Genie“ reisen die Forscher mit einem schmalen Budget erst durch Europa, später nach Japan. In „Der Verräter“ geht Sibillas verzweifelte Bekehrungsmission erst nach Hongkong. Rainer Erler nimmt sich noch mehr als in dem Fernsehfilm im vorliegenden Roman Zeit und damit auch die entsprechenden Seiten, um den Moloch Hongkong zu präsentieren. Beginnend mit einem der gefährlichsten Flughäfen der Welt über die Menschenmassen, die in den engen Straßen wohnen. Die zahllosen Briefkastenfirmen aus aller Welt, welcher in der damals noch britischen Steueroase ihre Briefkästen haben. Eine Stadt, die ihr Gesicht von einer Straße zur Nächsten ändert und in denen einzelne Viertel für Ausländer sehr gefährlich sind. Damals reine Exotik, heute inzwischen nicht nur außerhalb Deutschlands bittere Realität.
Aber Hongkong ist nur der erste und auch längste Zwischenstopp im vorliegenden Roman. Die Reise geht schließlich über Taiwan und Tokio bis nach Alaska. Auch wenn das Fliegen teuer ist – der Erste Klasse Flug nach Hongkong kostet immer rund 3000 DM – rückt Rainer Erler sein Publikum ganz nahe an diese Metropolen heran. Zu einer Zeit, als der durchschnittliche Deutsche vielleicht zwei Wochen über den Brenner nach Italien zog.
Wie in den anderen vier Folgen balanciert Rainer Erler wissenschaftliche Elemente und Thrillermomente sehr gut aus. In den ersten Hälfte der jeweiligen Filme bzw. Bücher extrapoliert er überzeugend, für Laien nachvollziehbar, aber niemals belehrend die entsprechenden Thesen. In „Das Genie“ sind die Forscher des Blauen Palais immer einen Schritt zurück. In „Der Verräter“ erkennen sie – allerdings unabsichtlich und teilweise in ihren Thesen falsch – die Gefährlichkeit der Experimente des Kollegen, aber niemals Freund von Klöpfer.
Durch die Vertreter der anscheinend amerikanischen Firma mit ihrer schleimigen Gastfreundschaft und vor allem einem Wissensvorsprung der Zuschauer bzw. Leser in erster Linie vor der nachreisenden Sibilla baut Rainer Erler in „Der Verräter“ eine noch heute interessante Spannungskurve bis zum dunklen, aber im Grunde auch konsequenten und für viele spätere Erler Produktionen so bedeutenden Ende auf. Wie schon bei „Das Genie“ gibt es auch in „Der Verräter“ keine echten Sieger, sondern nur Verlierer. Da nützt es auch nicht, wenn sich Palm abschließend dem Problem zuwendet. Niemand möchte mit ihm angesichts der vorstehenden schweren moralischen Entscheidungen tauschen.
- Herausgeber : p.machinery; 1. Edition (20. Juni 2023)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 644 Seiten
- ISBN-10 : 3957653401
- ISBN-13 : 978-3957653406
- Lesealter : Ab 14 Jahren