Dem Tag entgegen

Sven Age Madsen

1980 veröffentlichte Sven Age Madsen seinen dystopischen Roman „Dem Tag entgegen“. Viele haben das kurzweilig zu lesende, inzwischen sowohl vom dänischen Fernsehen denn auch als Zwei- Personen- Theaterstück inszenierte Werk mit George Orwells „1984“ verglichen. Diese Idee ist nur bedingt richtig, denn erstens basiert Madsen seinen Plot auf einer dunkleren, nicht unbedingt direkt von den Menschen verursachten Katastrophe und zweitens versucht diese Gesellschaft, nicht die Menschen zu unterdrücken, sondern auf eine erstaunlich freidenkende Art und Weise „glücklich“ zu machen und von jeglicher Schwermut abzulenken.

In Dänemark ist Madsen einer der populärsten Autoren. Sein Spektrum reicht vom Postmodernen bis zum magischen Realismus, wobei er neben Romanen in verschiedenen Genres vom Krimi über den vorliegenden Science Fiction Roman bis zum Jugendbuch auch fürs und am Theater gearbeitet hat. Seine Bücher sind in verschiedene Sprachen übersetzt worden.

„Dem Tag entgegen“ verblüfft aufgrund seiner vor allem im Rahmen der Globalisierung und der Spezialisierung unrealistischen Prämisse, die als Testballon mehr und mehr Anhänger gefunden hat. Eine solche Gesellschaft kann nicht ohne Hilfe von außen funktionieren. In diesem Punkt merkt man dem Buch sein Alter ein wenig an.  In einer von einer K.I. gesteuerten voll autark funktionieren kleinen Gesellschaft könnte diese Idee funktionieren, aber Madsen impliziert ein im Grunde modernes kommunistisches Gemeinschaftsidyll, in dem es auf die Produktivität nicht mehr ankommt. Zusätzlich muss die Gesellschaft ausgesprochen homogen sein, wobei der Autor an keiner Stelle die immer wieder vorgetragene Idee eines Solotages weiter extrapoliert. Einzelne Figuren sprechen diese Card Blanc an, aber es gibt keine entsprechende Szene. Dadurch unterminiert der Autor eine der vielen kleinen Seitenarme, welche diese idealistische wie idealisierte Gesellschaft sperriger hätten machen können.

Madsen selbst schränkt seine Gesellschaftsform gegen Ende des Buches ein, in dem er zu klassischen Wegen zurückkehrt. Plötzlich bedeuten diese aber nicht mehr Langeweile, da er eine dem Leser vertraute eheähnliche Gemeinschaft nicht vor einem archaisch primitiven Hintergrund ablaufen lässt. Zusätzlich wird den beiden Protagonisten eine Art Sendungsbewusstsein aufgebürdet, das sie an keiner anderen Stelle des Buches nachhaltig genug zeigen. Es ist schade, dass Madsen mit diesem Schwenker eher Nolans „Flucht ins 23. Jahrhundert“ folgt als Huxleys „Brave New World“ einen auf den ersten Blick nicht einmal negativen neuen gesellschaftlichen Gegenentwurf entgegenbringt, der vor allem auch auf einer erstaunlich hohen Eigentoleranz den Mitmenschen gegenüber basiert und deswegen so fasziniert.

Bis in die Mitte der zweiten Hälfte ist es die Funktionalität dieser Gesellschaft, die den Leser mehr unterhält als das egoistische auf Gefühlen basierende Verhalten der beiden Protagonisten. Vor allem weil der Hintergrund relativ einfach ist. Es geht um die Erschaffung einer Gesellschaft, in welcher viele Menschen, Madsen impliziert alle Menschen glücklich werden können. Unbewusst greift er in für eine Antiutopie absichtlich übersteigerter Form der Gegenwart mit ihren arbeitslosen von Hartz IV lebenden Massen vor. Während Madsen allerdings es als allgemeines gesellschaftliches Phänomen ansieht, würde auf die von den modernen Industriegesellschaften ausgesteuerten Menschen sogar mehr zutreffen. Durch die beruflichen Netze gefallen vegetieren sie in einem vom Staat sanktionierten Dämmerzustand hin. Natürlich fallen automatisch auch die Kräfte in diese Kategorie, die faul und arbeitsunwillig sind. Genauso wie die Menschen, die immer wieder stupide den gleichen Job jeden Tag machen müssen.

Madsen revolutioniert das soziale System. Jeden Tag finden sich alle Menschen der jeweiligen Gemeinden oder Städten an der Seite eines neuen Partners wieder. Entweder mit Kindern oder ohne Kinder. Nur ein kleiner Teil wird ein Solotag zugestanden. Eine gigantische Rechenmaschine im Hintergrund ist für die Umverteilung der Menschen nächstens zuständig, nachdem sie am Ende eines kurzen Arbeitstags ihre Schlafpille genommen haben. Offiziell darf niemand einen zweiten Tag mit einem „Ehepartner“ verbringen. Auch die Kinder werden täglich einer neuen Familie zugeordnet. Dadurch soll der Geist frisch gehalten, Stereotype vermieden werden. Auch erhält jeder Mensch jeden Tag eine neue Arbeit, wobei die meisten Jobs derartig „reduziert“ und vereinheitlich worden sind, das es leicht ist, in die jeweiligen Rollen zu schlüpfen. Interessant ist, das die Menschen mehrmals in ihrem Leben den gleichen Job haben dürfen, auch auf diese Erfahrungen aufbauen können.

Trotz der nächtlichen Wechsel haben die Menschen ihnen zugewiesene Freunde, die sie abends besuchen können. Madsen zeichnet das Bild einer perfekten, eine fast sklavisch Harmoniesüchtigen Gesellschaft, in welcher allerdings das Exzentrische, das Außergewöhnliche unter den Tisch fällt. Wenn einem ein Partner unsympathisch ist, weiß man auf jeden Fall, dass man ihn am nächsten Morgen los ist und man neben jemand anderem aufwachen wird.

Trotzdem scheinen sich engere Familienbande zu bilden und zu Beginn des Romans ist es erstaunlich, wie eng die Menschen im Grunde teilweise in den Minuten des Aufwachsens schon aufeinander eingespielt sind. Das System scheint es aber noch nicht seit Jahrhunderten zu geben, wie Madsen am Ende eine Art Mittlerin den Protagonisten erzählen lässt.

Natürlich muss es Abweichler geben. Elef verliebt sich in eine seiner Eintagesfrauen. Durch einen Zufall sieht er sie einige Tage später wieder, an der Seite eines anderen Mannes. Auch sie scheint seine Gefühle zu erwidern. Als er eines Tages im Rechenzentrum seinen Dienst antritt, kommt ihm die Idee, die Computerberechnungen und damit die personifizierten Karten zu manipulieren und noch einen Tag mit seiner großen Liebe zu verbringen. Damit begeht er natürlich ein schwerwiegendes Verbrechen, wobei sich der Leser unwillkürlich fragt, warum erstens noch niemand anders auf diese Idee gekommen ist und zweitens wieso es eine Maschine gegen alle Wahrscheinlichkeiten es den Menschen derartig leicht macht, in den Ablauf einzugreifen.

Gemeinsam versuchen sie aus dem System auszubrechen, in dem sie zuerst nicht schlafen. Den Schlaf bedeutet auch die angeordnete Versetzung. Hier erzeugt Madsen mit den schlafend transportierten Menschen ein unheimliches, nicht mehr humanes Bild. Anschließend müssen sie fliehen und begehen eine Reihe kleinerer Verbrechen, bevor sie aus der Stadt in die Einsamkeit fliehen können und natürlich plötzlich mit Antworten auf Fragen konfrontiert werden, die sie nicht einmal gestellt haben.

Dieser Abschnitt des Romans ist auf der einen Seite deutlich dynamischer als die auf Stimmungen basierende erste Hälfte des Buches, in welcher Madsen dem eher desorientierten Leser seinen sozialen Entwurf aus der subjektiven Ich- Erzählerperspektive näher bringt.   

Das alltägliche Wechseln will der Ich- Erzähler gegen eine beständige Beziehung eintauschen. Bis zu einem gewissen Grad kann der Leser diesen Argumenten folgen, ab einem bestimmten Punkt verwischen sie. Madsen arbeitet auch die Idee der wieder aufkommenden Langeweile nicht konsequent genug heraus. Stattdessen gibt er seinen beiden Protagonisten eine ambivalente Sysiphus Aufgabe, deren Auswirkungen die Protagonisten erstens nicht erahnen können und zweitens aufgrund ihres Wissenstands überhaupt nicht erreichen können.

Dieses Aufweichen der anfänglich exotischen wie interessanten Idee in vertrautere Bahnen und daraus resultierend die Idee einer langfristigen, aber dem Grundgedanken der pazifistischen Gesellschaft entsprechenden nimmt dem Buch ein wenig seine soziale Schärfe. Genauso wenig scheint es überzeugend, das der „Und täglich grüßt das Murmeltier“ Charaktere globale trotz der „Seuche“ – ein weiteres intensives, aber nicht mehr neues Bild – sich so ohne Probleme angesichts der unterschiedlichen Wirtschafts- und Sozialsysteme unabhängig von der Glaubensfrage wirklich durchsetzen kann. Während George Orwell in seinem „1984“ die hierarchische Struktur klar festlegt und das Individuum unterdrückt, wird es hier eher angeleitet und positiv stimuliert als manipuliert.

Trotz der angesprochenen Schwächen überzeugt vor allem die exzentrische, aber diskussionswürdige Grundidee, welche die kontaktfreudigen Skandinavier vielleicht besser umsetzen können als die „verklemmten“ Deutschen. Stilistisch überzeugend geschrieben mit einigen humorvollen, durchaus satirischen Seitenhieben zeigt Madsen auf, dass Utopie bzw. Antiutopie nicht immer belehrend langweilig sein muss.  

 

Dem Tag entgegen (Utopischer Roman). -: Madsen, Svend Age:

Frankfurt am Main,

Suhrkamp Taschenbuch, 1984

214 Seiten