Mark Hodder
Mark Hodder ist für seinen Debütroman “Der kuriose Fall des Spring Heeled Jacks” mit dem Philip K. Dick Award 2011 ohne Frage trotz einiger Schwächen zurecht ausgezeichnet worden. Wie Philip K. Dick es in seinen frühen Romanen meisterlich gemacht hat, zerlegt Hodder seinen vielschichtigen, teilweise auf historischen Persönlichkeiten basierenden Charakteren die dem Leser vertraute Realität und setzt sie einem Labyrinth aus Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten aus, in dem insbesondere der ambivalente Antiheld, aber keinesfalls Schurke “Spring Heeled Jack” alias Edward Oxford scheitern muss.
Auch wenn der Bastei Verlag den Roman als “Fantasy” tituliert, handelt es sich um einen klassischen Science Fiction Roman vor einem sich schnell entwickelnden Steampunk Hintergrund. Interessanterweise ist die zugrunde liegende Science Fiction Idee das schwächste Glied in der Kette. Im Gegensatz zu den historischen Figuren ahnt der Leser sehr viel schneller als es dem Autoren genehm ist, welches Geheimnis die mysteriöse Gestalt verbirgt, die aus dem Nichts immer wieder über Jahrzehnte auftaucht und verschwindet. Seine Motive hinsichtlich der brutalen Entblößung von sehr jungen Mädchen ergeben erst im zweiten Teil des Buches Sinn. Wenn Mark Hodder die Idee eines Zeitreisenden vor seinem Publikum verstecken wollte, ist es ihm nicht gelungen. Viel lesenswerter ist der schon angesprochene zweite Teil des Buches, in dem die bekannten und hinsichtlich des Attentatsversuches auch historischen Ereignisse fast ausschließlich aus der Perspektive Edward Oxfords und seinem willigen adligen Helfer erzählt werden. Diese unterschiedlichen Handlungsebenen fügen sich wie bei einem raffiniert gestalteten Puzzle exzellent zusammen. Was den Roman trotz der bekannten Prämisse des Zeitreisenden, der das von ihm aus Eitelkeit ausgelöste Zeitparadoxon trotz aller Bemühungen nicht mehr rückgängig machen, sondern nur noch verschlimmern kann, aus der Masse vergleichbarer Geschichten heraushebt, ist die Idee, dem Schurken viel mehr tragisches Leben einzuhauchen als er es nach Lektüre des ersten Teils überhaupt verdient. Eine Bahnbrechende Erfindung in der fernen Zukunft ermöglicht erst die Entwicklung von Zeitreisen. Einen Moment der schon angesprochenen Eitelkeit, um die Familienehre zu begradigen und nichts ist mehr wie es scheint. Ob die verschiedenen sich entwickelnden und voneinander abhängigen Paradoxa logisch oder erklärbar sind, soll nicht zur Debatte stehen. Mark Hodder treibt Oxford zur Verzweifelung. Jede seiner Ideen löst ein größeres Chaos aus, wobei interessanterweise der Zeitreisende die Schuld auf den ermittelnden und sich einmischenden Sir Richard Burton schiebt, der im Grunde nur passiv ermittelt. In seinen wenigen noch lichten Momenten bedauert Oxford nicht nur die Idee der Zeitreise, sondern wünscht sich zu seiner schwangeren Frau in der Zukunft zurück. Er schämt sich, weil er jungen Mädchen die Kleider vom Leib reißen muss, um eine bestimmte Vorfahrin zu finden oder ärgert sich, dass er seinen Verwandten angestiftet hat, berühmt zu werden. Viele dieser Szenen sind Murphy´s Law in Reinkultur und mit einem fast sadistischen Vergnügen beschreibt Hodder detailliert Aktion und Reaktion am überforderten Oxford, der plötzlich nicht mehr der sadistische, exzentrische Erzschurke aus dem ersten Teil dieses lesenswerten Buches ist.
Während die Zeitreiseidee mit ihren Auswüchsen - erst die betrunken weitererzählte Idee der Geothermik ist die Wurzel der sich rasant auf den Idealen des Steampunk entwickelnden Technik, die in gigantischen bizarren Luftschiffen gipfelt - der Kern des Buches ist, streut Mark Hodder zusätzlich einige rückblickend fast überambitioniert erscheinende Nebenkriegsschauplätze in den Plot ein. Zusammen mit einigen Partnern experimentiert Charles Darwin an einer Frühform der genetischen Manipulation, die wie eine Hommage an H.G. Wells “Die Insel des Dr. Moreau” daher kommt. Wenn Oxfords langjähriger Vertrauter aber schließlich über den Körper eines Orang Utans verfügt, in den man deutlich sichtbar sein Gehirn verpflanzt hat oder als Hommage an Val Lewton echte Panthermenschen Londons Straßen unsicher machen oder die Kinder der Kaminkehrergilde ausschließlich für genetische Experimente entführt werden, wirkt das Buch zu überfrachtet und die eigentlich interessante Handlung ein wenig zu sehr in den Hintergrund gedrängt. Wie viele Autoren macht Mark Hodder bei seinem ersten Buch den Fehler, zu viel zu wollen und sich am Ende trotz der überdurchschnittlichen Handlungsführung in einigen Nebenkriegsschauplätzen zu verzetteln. Die genetischen Versuche und die fragwürdigen Ergebnisse sind ohne Frage interessant, einfallsreich und gut beschrieben, sie hätten aber einen eigenen Roman verdient.
“Der kuriose Fall des Spring Heeled Jack” lebt von seinen überlebensgroßen Figuren, die nicht selten nur die Namen der historischen Vorbilder tragen. In seinem Nachwort hat Mark Hodder die Lebensgeschichten der einzelnen Figuren soweit nachprüfbar aufgezeichnet.
Sir Richard Francis Burton ist weniger der überragende Ermittler oder Held, sondern ein Mann am Scheidepunkt. Er hat seinen Freund John Hanning Speke einmal brüskiert. In Speke hat sich während eines Überfalls Einheimischer auf der Suche nach den Quellen des Nils der Eindruck festgestellt, dass Burton ihn als Feigling tituliert hat. Auf der anderen Seite hat er Burton den Ruhm genommen, ebenfalls die Quelle des Nils entdeckt zu haben. Stattdessen hat Speke mit ungenauen Messungen vorzeitig zu viel Ruhm geerntet. Zu Beginn des Plots wird er von einer Kugel im Gesicht im Grunde tödlich verletzt. Ob es sich um einen Unfall während eines Jagdausflugs oder potentiellen Selbstmord handelt, ist sowohl historisch wie auch romantechnisch ungeklärt. Speke wirft einen sehr langen Schatten über Burton. Wenn er schließlich als viktorianischer Cyborg wieder in das Geschehen eingreift, erwartet der Leser mehr als nur einen eindimensionalen Antagonisten. Immerhin wird Burton von Schuldgefühlen geplagt. Hinzu kommt der äußerst schwierige Auftrag, dem ihm der Chef des britischen Geheimdienstes wie ein Damoklesschwert auferlegt: er soll nach dem geheimnisvollen Spring Heeled Jack suchen und überprüfen, ob es in den Armenvierteln wirklich Werwölfe gibt. Burton bricht sogar mit seiner selbstbewussten Verlobten, über die man angesichts des offenen, die neu entstandene Welt hinterfragenden Endes hoffentlich in der wahrscheinlich obligatorischen Fortsetzung mehr lesen wird. Im Gegensatz zu überdurchschnittlich vielen Sherlock Holmes Imitationen beschreibt Hodder Burton als einen Abenteurer und Gelehrten, der sich in Dschungel Londons zu wenig auskennt und in der unvertrauten Umgebung manchmal mehr auf den Zufall sowie seine willigen Helfer angewiesen ist. Er ist ein mutiger Mann, der seinem Königreich fast schon widerwillig und doch neugierig einen Dienst erweisen will. Im Vergleich zum tragischen Oxford wirkt Sir Burton vielleicht ein wenig zu überdimensional heldenhaft gezeichnet, aber im zweiten Teil tritt er wohltuend in die Position des Beobachters zurück, so dass sich der Roman individueller entwickeln kann.
Mit dem masochistischen Alkohol kranken Dichter Algernon Charles Swinburne verfügt der Roman über einen zweiten, fast tragischen Ermittler, der als Burtons Helfer in erster Linie für die pointierten Dialoge verantwortlich ist. Auch wenn Swinburne mehr als einmal in Schwierigkeiten gerät und von Charles Darwin persönlich für ein Experiment vorgesehen ist, bleibt der nur vordergründig schwache, aber sehr ambitionierte Swinburne fast zu sehr im Schatten Burtons. Um das Trio Oxford, Burton und Swinburne herum platziert der Autor eine Reihe von semifiktiven Figuren wie den Zeitungsjungen Oscar Wilde oder den an sich selbst zweifelnden Polizisten William Trounce, die außergewöhnlich lebendig und überzeugend charakterisiert erscheinen.
Das viktorianische London mit den zahlreichen angesprochen Steampunk Hintergründen ist ausgesprochen lebendig beschrieben worden. Manchmal macht sich Hodder einen Spaß daraus, seinen Mitmenschen einen Eulenspiegel vors Gesicht zu halten und die britische Exzentrik warmherzig zu parodieren. Das zeigt sich in kleinen Ideen wie dem bizarren Nachrichtenwesen mit Windhunden, die vom Empfänger gefüttert werden müssen oder Vögeln, die ihre jeweiligen „Nutzer“ aufs Übelste beschimpfen. Wenn sich die einzelnen Gruppen zur finalen Schlacht sammeln und vom Gekrächze unzähliger Vögel begleitet werden, dann fühlt sich der Leser in eine surrealistische Alptraumwelt versetzt. Interessanterweise ist ausgerechnet in diesem geordneten Chaos die aus allen Perspektiven fiktiv erscheinende Figur des „Spring Heeled Jack“ historisch über einen Zeitraum von mehr als vierzig Jahren zwischen 1837 und 1877 durch Zeugenauszeugen „bestätigt“ worden. Auch wenn es sich nach heutigem Wissen um keinen Zeitreisenden handeln sollte.
Als Roman ist “Der kuriose Fall des Spring Heeled Jack” ohne Frage ein lesenswertes Debüt, das die zugrunde liegende Idee des Zeitparadoxons mit seinen ungeahnten Folgen nicht neu definiert, aber zumindest die tragischen Folgen für den überforderten Antagonisten originell, humorvoll überdreht und doch tragisch beschreibt während aus Sir Burtons Sicht der eigentliche Kriminalfall spannungstechnisch im ersten Abschnitt nicht ganz zufrieden stellend extrapoliert worden ist.
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