Sherlock Holmes und das verschwundene Dorf

Barbara Büchner

„Sherlock Holmes und das verschwundene Dorf“ ist eine Sammlung von nur über einen Nebencharakter verbundenen Geschichten. Dr. Herschel Libeskind ist ein aus armen Verhältnissen stammender Jude, der inzwischen im Rahmen der Gerichtsmedizin durch Methoden aufgestiegen ist, die Sherlock Holmes ebenbürtig erscheinen. Die beiden so unterschiedlichen Männer gehen mit reiner Logik an die Probleme heran, wobei Sherlock Holmes als deduzierender Pragmatiker die Auflösung dem Leser präsentiert. Erst in der letzten Geschichte „Die beiden Sonderlinge“ erfährt der Leser als eine Art Rahmenschließung mehr über den exzentrischen Liebeskind und sein nicht einfaches Schicksal. Libeskind junge Frau sucht Sherlock Holmes und Dr. Watson in der Baker Street 221B. Ihr Mann musste ihre Ehe vor dem dominanten Arbeitgeber Dr. Johnson geheim halten.  Jetzt will Johnson aber seine eigene Tochter mit Libeskind verheiraten, um diesen noch enger an sich zu binden. Libeskind ist von Johnson und dessen beruflichen Möglichkeiten fasziniert, während er auf der anderen Seite seine Frau auch nicht abschließend verlassen möchte. Sie hofft, das der Detektiv vermitteln kann. Im Grunde stellt „Die beiden Sonderlinge“ eine Zusammenfassung der bisherigen Auftritte Libeskinds in den insgesamt fünf Geschichten dieser Sammlung dar, von denen sich die meisten um unheimliche und seltsame Morde drehen. Das im Titel erwähnte „verschwundene Dorf“ könnte höchstens noch zur Geschichte „Die Musik des Teufels“ passen, da vor vielen Jahren alle Bewohner einer kleinen Siedlung unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sind. In der viktorianischen Gegenwart sind ebenfalls alle Mitglieder eines reichen Haushalts in ihrem Haus ums Leben gekommen. Es gibt kein Zeichen von Gegenwehr oder gewaltsamen Eindringen. Im Verdacht steht der einzige Überlebende der Familie- der Sohn Arthur. Da er mit der Tochter des gegenwärtigen Innenministers verlobt ist, wird Mycroft Holmes zu Rate gezogen, der wiederum natürlich auf seinen Bruder verweist. In Frage kommt eine seltsame Spieluhr, die eine absonderliche Musik abspielt. Es handelt sich um das Geschenk zweier Fremder. Sherlock Holmes ermittelt auf seine präzise Art. Er findet eine Spur in die Vergangenheit. Barbara Büchner beginnt diesen Text wie fast alle dieser Sammlung mit einem faszinierenden wie exotischen Fall. Anschließend ermittelt vor allem Sherlock Holmes mehr oder minder dank der fachlichen Unterstützung Libeskinds und Watsons als Resonanzbogen. Wie bei vielen Kanongeschichten deutet der erste Verdacht natürlich in eine falsche Richtung, wobei Barbara Büchner vielen moderneren Krimis folgend auch den einzigen in Frage kommenden Verdächtigen nicht entkommen lässt. Die Auflösung ist solide entwickelt, auch wenn es unwahrscheinlich erscheint, dass eine derartige Geschichte komplett in Vergessenheit geraten ist und die hundertprozentige Effektivität ein wenig überzogen erscheint. Abschließend macht die Autorin aber einen inhaltlich enttäuschenden Schwenk und sucht noch im Epilog eine zweite, direkt auf dem Kanon aufbauende Story in den Handlungsrahmen einzubauen, die aufgrund ihrer Zufälligkeit zu viele Fragen im Leser hinterlässt und mit der präsentierten Hektik eher enttäuschend erscheint.

Vor allem die Auftaktgeschichte „Die drei Kameraden“ folgt genau diesem Handlungsmuster. Drei hochrangige Militärs werden bei einem sehr feuchtfröhlichen Herrenabend im Haus eines der Dreien vergiftet. Anscheinend ist das Gift – keine künstliche Substanz – in die Mitternachtsmahlzeit gemischt worden. Anfänglich folgt Barbara Büchner mit sichtlichem Vergnügen den klischeehaften Spuren des Genres mit der Köchin als einzigen Verdächtigen. Aber aufgrund ihrer Handverletzung kann sie nicht in Frage kommen, so dass Sherlock Holmes in seinen kurzweilig zu lesenden Ermittlungen zu einem gänzlich anderen Fazit kommt, dass vor allem die Idee eines dreifachen Mordes hinterfragt. Auf sich alleine gestellt hätten entweder „Die drei Kameraden“ oder „Die Musik des Teufels“ überzeugen können. Da beide Texte aber den gleichen Strukturen folgen und ähnlich konzipiert sind, wirken sie in einer nur auf so wenigen Geschichten bestehenden Sammlung leider grundlegend einfallslos strukturiert.    

Die am überzeugendsten konstruierte Story ist „Der unsichtbare Würger“.   In dem eher heruntergekommenen Kurort Bagnell – in der Nähe von Dartmoor – ist eine eher unscheinbare Frau ums Leben gekommen. Ihr Leichnam scheint geschändet worden zu sein. Sie ist erwürgt worden. Der Raum ist von innen verschlossen. Eine klassische Ausgangsposition. Holmes findet heraus, dass die Dame zu Geld gekommen ist und in dem Kurort sich einen Gigolo geangelt hat. Es gibt Gerüchte, dass vielleicht die Hexe Sarah Potts für den Tod der Frau verantwortlich ist, weil ihr Grab einer neu gebauten Straße weichen musste. Barbara Büchner lässt in diesem Fall Sherlock Holmes zum ersten Mal ermitteln und findet eine verblüffende, überraschende Lösung. Die Legendenbildung geht in „Vater Eisenhut und der verfluchte Wald“ weiter. Barbara Büchner geht bei ihrem Sherlock Holmes sehr oft davon aus, dass Holmes dem weiterhin trotteligen Lestrade die Lorbeeren bei einigen Fällen überlässt. So erhält er für Holmes Auflösung des Falls „Die Musik des Todes“ Sonderurlaub, den er nicht zum ersten Mal in einem kleinen Häuschen nahe Leigham Forest verbringt. Um den Wald rangen sich die Legenden von Mondmenschen und einem Höllenloch mitten im Gehölz. Darum meidest Lestrade den Wald. In letzter Zeit hat es drei ungeklärte Todesfälle gegeben. Natürlich eilt Sherlock Holmes seinem Lieblingsinspektor zu Hilfe. Im Vergleich zu einigen anderen Fällen dieser Sammlung entwickelt sich der Plot ausgesprochen schwerfällig. Barbara Büchner lässt den subtilen Humor vermissen, den Arthur Conan Doyle nicht selten über dem unfähigen Lestrade ausgeschüttet hat. Da in den meisten Fällen Sherlock Holmes vor allem in intellektueller Kombination mit Libekind und weniger Doktor Watson dominiert, kann Lestrade im Grunde nicht durch Dummheiten auffallen. Der Verlauf der Ermittlungen ist ausgesprochen statisch und die Auflösung der Geschichte eher durchschnittlich. Weniger wäre in diesem Fall bei einer stärkeren Fokussierung auf die Atmosphäre und vor allem die Charaktere mehr gewesen.

In Deutschland spielt die in der vorliegenden Reihenfolge vorletzte Geschichte „Die Verbrechen des Doktor Freund“. Wieder gibt es Giftmorde. Dieses Mal in Hamburg. Der jüdische Pathologe Libekind steht wegen seines umfangreichen Wissens exotischer Gifte im Verdacht, der Mörder in Hamburg zu sein. Nach den Taten soll er sich nach London abgesetzt haben. Interessant ist, dass Doktor Watson in dieser Story die Ermittlungen übernommen hat, weil Sherlock Holmes nicht entbehrt werden konnte. Mycroft Holmes schickt ihn nach Hamburg, wo er nach einem zweiten Tatverdächtigen Ausschau hält. Nur sitzt der Mann in der Irrenanstalt und hat seit vielen Jahren offiziell keinen Kontakt mehr zu seiner Umgebung. Barbara Büchner bemüht sich, in diesem Fall Spannung aufzubauen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Libekind der Mörder sein könnte, ist äußerst gering. Vielleicht wäre es tatsächlich ein Überraschungselement, gegen die Erwartungen der Kanonfans zu argumentieren und eine sympathische Figur zum Täter zu machen. Hinsichtlich des wahren Mörders kommt es schnell nur noch auf die „wie“ und nicht mehr auf das „wer“ darauf an, wobei die Anstaltsleitung auch wirklich blind sein muss, um diese Art der Kommunikation nicht zu erkennen. Doktor Watson gibt sich als Sherlock Holmes Vertreter sehr viel Mühe, aber die Abwesenheit des Meisterdetektivs nimmt dem Plot eine wichtige Balance, so dass sich ein deutscher Leser vor allem an dem Buch im Venedig des Nordens im 19. Jahrhundert erfreuen kann, während die eigentliche Handlung bis auf den exzentrischen Besuch in der Irrenanstalt eher seicht dahin fließt.

Jede der Kurzgeschichten ist von einer schwarzweiß Graphik Crossvalley Smiths eingeleitet worden.  Die Herausgeberin Alisha Bionda versucht die Besonderheit dieses Episodenromans zu vermitteln, der aber im Grunde nur aus kaum miteinander verbundenen Kurzgeschichten besteht. Stilistisch ein wenig zu bemüht, anfänglich fast krampfhaft entwickelt Barbara Büchner zu wenig nachhaltiges Gespür für die Faszination der Sherlock Holmes Geschichten und versucht den britischen Detektiv eher in den vorhandenen Plot einzubauen als anders herum. Insbesondere seine Beobachtungsgabe gepaart mit entsprechender Arroganz wird an einigen Stellen vermisst. Die Rätsel fast aller Storys sind von Beginn an undurchsichtig, ein offensichtliches Verbrechen wird beschrieben. Im Laufe der Ermittlungen relativiert die Autorin manchmal ein wenig zum Schaden der einzelnen Geschichten diesen ersten Eindruck und versucht teilweise auch, den Meisterdetektiv hinters Licht zu führen. Zusammengefasst handelt es sich um eine solide Sammlung von Sherlock Holmes Geschichten allerdings nicht gleich bleibend hoher Qualität, wobei der Anspruch an einen clever konstruierten Episodenroman gar nicht gestellt wird.    

  • Taschenbuch: 200 Seiten
  • Verlag: Fabylon; Auflage: 1 (1. Juli 2013)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3927071781
  • ISBN-13: 978-3927071780
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