IO

Thomas leBlanc

Das Thema der neunten und vorletzten Sternenathologie ist „Verwaltung“. Herausgeber Thomas le Blanc spricht in seinem Vorwort davon, dass dieses knochentrockene Thema für die Autoren eine Herausforderung gewesen ist, auf der anderen Seite die moderne Science Fiction auch ein Nachfolger vom utopischen Staatsroman ist und deswegen die beiden Themen gut miteinander verknüpft werden können.

 Nicht alle der insgesamt zehn Storys setzen sich direkt mit der Bürokratie auseinander. In einigen Geschichten dienen eher die menschlich paranoiden Reaktionen auf exotische Gesellschaften als Katalysator einer Reihe von Missverständnissen.

 Iny Klocke zeigt den Frust eines Vertreters in „Akquisition auf Beteigeuze - 17“  auf, der zusammen mit vielen anderen kapitalistischen Vertretern der irdischen Wirtschaft einen archaischen Planeten mit einer insektoiden Rasse besucht. Durch einen Zufall entdeckt begann der Tauschhandel seltener Kristalle gegen einzelne Rohstoffe. Inzwischen wittert die Erde das ganz große Geschäft und schickt seine Vertreter aus. Interessant ist, wie pointiert und hintergründig Iny Klocke alle Argumente des abschließend überforderten Vertreters – dessen Branche ist Teil der Pointe – von den Einheimischen widerlegt werden, obwohl sie dessen Konzept erstaunlich schnell erkennen und verstehen.

 „Unberechenbar“ von Reinmar Cunis zeigt ebenfalls eine Konfrontation zwischen der angeblichen Zivilisation und in diesem Fall menschlichen „Barbaren“ auf.  Ein Raumschiff landet auf einem abgeschiedenen, von Nachkommen der Menschen bewohnten Planeten. Die militärisch orientierte Organisation an Bord des Raumschiffs ist vollkommen mit einer als kollektiven lebenden, atheistischen Dorfgemeinschaft überfordert, die ihre Entscheidungen kollektiv nach Diskussionen zwischen den Experten fällt. Jeder Versuch, eine Art Führung zu etablieren oder den Dörflern die positiven Aspekte eines zwangsweisen Beitritts zur Staatengemeinschaft schmackhaft zu machen, sind im Grunde zum Scheitern verurteilt. Das offene ein wenig fatalistische Ende irritiert vielleicht ein wenig, aber sowohl Iny Klocke als auch Reinmar Cunis stellen dem Leser vertraute Ideen im Grunde perfekt funktionierenden Lebensgemeinschaften gegenüber und zeigen die Sinnlosigkeit mancher Handlungen auf.

 „Aus den Schalen“ von Gerhard Hauer ist eine Story, die sich mit einem wirklich exotischen Volk und deren Gerichtsbarkeit auseinandersetzt. Auf dem erdähnlichen Planeten ist die Lebenserwartung der Bevölkerung ungefähr zehn Jahre. Der Tod und eine entsprechende aufwendige Beerdigung in Form einer letzten Ballonreise ist ihnen wichtig. Als einer der irdischen Forscher einen Verstorbenen in einem abgeschiedenen Gelände birgt und ihn zwecks Untersuchung in die Station bringen will, beginnt eine Katastrophe. Der Gleiter stürzt ab, der Leichnam wird gefunden.

  Im Mittelpunkt der Geschichte steht der Prozess, welche die Einheimischen dem „Täter“ machen. Während die Menschen den Ihren retten und damit den bisherigen Kommunikationsprozess abwürgen wollen, zeigt dieser Verständnis für die Fremden und findet eine Art Einklang/ Ruhe.

 Das Szenario ist gut entwickelt, die Konsequenzen und vor allem Verantwortlichkeiten klar und erwachsen geregelt. Das am Ende eine Art Gleichgewicht gefunden wird, kann als dichterische Freiheit bezeichnet werden, das Ausgangsszenario ist auf jeden Fall lesenswert und der Autor stellt die einzelnen Positionen sehr ausgewogen und ohne den Leser zu manipulieren gegenüber.

 Mit „Caine oder im Namen des Volkes“ präsentiert Walther Ulrich Erwers ein schwieriges Thema. Da ist er selbst Schuld. In der Zukunft werden Kapitalverbrechen durch den Tod bestraft. Ausgeführt durch einen der Hinterbliebenen oder einen Vertreter. Wenn der Verurteilte vier Jahre überlebt und sich erfolgreich verstecken kann, wird er quasi rehabilitiert und kann nicht mehr getötet werden. Der Autor zeigt mittels Texten und Rückblenden auf, wie eine Frau sich für die Ermordung ihres Mannes durch einen neidischen Rivalen rächen will. An ihrer Seite ist mit Caine ein Vollstreckungsbeamter. Die Pointe enttäuscht. Mag sein, dass die Protagonistin nur in der Theorie das alte „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ Prinzip verinnerlicht hat. Aber das aktive Eingreifen Caines im Grunde zu Gunsten des Verurteilten ist ein Aspekt, den der Autor nicht weiter diskutieren. Er wendet sich fast brachial von der Opferpolitik ab und lässt den „Täter“ freisprechen. Ob das wirklich im Sinne des Protagonistin ist, erscheint zweifelhaft, zumal sie sich entschlossen hat, den Weg zu Ende zu gehen. So bleibt ein eher fader Beigeschmack zurück, viele der interessanten aufgeworfenen Fragen werden nicht abschließend beantwortet und die frustrierend feige Einstellung gegenüber eine harten, aber auch abschreckenden Strafe steht so offen im Raum, dass sich der Leser automatisch auf die Seite des in diesem Fall ungesühnten Opfers stellen muss.    

 In „Todesstrafe“ von Winfried Czech geht es um ein vergleichbares Thema. In einer nahen Zukunft darf die Öffentlichkeit ein Gerichtsurteil begleitend abstimmen, ob der Täter hingerichtet werden soll oder nicht. Bei einem Todesurteil werden drei Bürger ausgewählt, welche in absteigender Reihenfolge das Urteil vollstrecken müssen. Während ihr Bruder gegen die Todesstrafe ist, ist seine Schwester dafür und wird folgerichtig auserwählt. Im Gegensatz zu Walther Ulrich Erwers Geschichte geht Winfried Czech ein wenig nuancierter mit dem Thema um und zeigt auf, das die Befürwortung der Todesstrafe nicht gleichbedeutend mit einer Lust an der Vollstreckung ist. Allerdings bleibt Czech auch wie Erwers hinsichtlich eine den Opfer gerecht werdenden Justiz ausgesprochen vage. Das Ende ist ein wenig zu stark konstruiert, da der Beruf des Bruders zu lange seinen Argumentationsketten zu widersprechen scheint.

    In Bezug auf Grichtsbarkeit liefert Martin Ross mit „ §1 BGB“ eine herausragende Geschichte ab. Die Menschheit hat auf dem Mars Außerirdische gefunden. Bei der an Spinnen erinnernden Rasse herrschen natürlich andere Gesetze vor. Trotzdem kommt es zu Handelsverträgen. Als die Königin auf deutschem Boden stirbt, sollen die dort vorherrschenden Gesetze eine Nachfolgerin bestimmen. Nur gibt es in einer Demokratie auf den ersten Blick eine gesetzliche Möglichkeit, eine neue Königin zu bestimmen. Ein Bischoff und sein ehemaliger Schulfreund, inzwischen Anwalt, suchen ein Weg, die guten Beziehungen zu den Fremden aufrechtzuerhalten und trotzdem nicht gegen die heimischen Gesetze zu verstoßen.

 Wie bei jedem Gerichtsthriller kommt es auf die Feinheiten an. Martin Ross lässt seinen Protagonisten entschlossen und trotzdem nuanciert argumentieren. Seine Kausalkette ist schlüssig, auch wenn er den bekannten ersten Paragraphen des bürgerlichen Gesetzbuches buchstäblich von hinten aufzäumt und daraus seine Klage ableitet. Die Dialoge sind authentisch und der Leser kann diesem juristischen Duell auf Messerschneide jederzeit gut folgen.

 Die Geschichte überzeugt vor allem auch die eine interessante und vielschichtige Zeichnung der Außerirdischen, die fremd und doch auch irgendwie vertraut zugleich erscheinen. Zusammengefasst handelt es sich bei diesem intellektuellen Gerichtsthriller um einen der Höhepunkte einer generellen überdurchschnittlich guten Anthologie.  

 Weniger um Gerichtsbarkeit als klassische Verwaltung geht es in Elmar H. Wohlraths „Eine geordnete Verwaltung“. Der Präsident eines Planeten wird von der Presse förmlich gegrillt und von seinen Beamten im Stich gelassen. Kaum will er sich gegen diese wehren, muss er erkennen, dass er nur noch ein Spielball in einem abgekarteten Spiel ist, in dessen Verlauf die Verwaltung opportunistisch ihre Fahne in den jeweiligen Wind hängt.

Auch wenn die abschließende Pointe früh zu erkennen ist, wirkt Wohlraths Text aktueller als er es sich in den achtziger Jahren vorstellen konnte. Die Pressekonferenz wirkt ein wenig überzeichnet. Das ist aber auch notwendig, um die sich anschließende Ereigniskette nachhaltiger entwickeln zu können und die buchstäbliche Naivität und Unwissenheit der Führungsschicht zu verdeutlich.   

 Der totale Überwachungsstaat steht im Mittelpunkt zweier Geschichten, wie er unterschiedlicher nicht sein kann. Thomas Le Blancs „Das Auge“ berichtet von einer neuen Methode, auf Bewährung befindliche Straftäter rund um die Uhr zu überwachen und Rückfälle zu verhindern. Was diese in eine Art Isolation treibt, wird wahrscheinlich der erste Schritt zum totalen Überwachungsstaat sein.

 Deutlich interessanter, aber auch weniger nachhaltig abgeschlossen ist Karl- Ulrich Burgdorfs Krimi „Der Roboter, der mir seit gestern folgt“. Ein wichtiger Geschäftsmann wird plötzlich von einer Drohne unbekannter Technik verfolgt. Ein Detektiv kann ihm offiziell nicht helfen, setzt inoffiziell auf eine brachiale Methode, welche eher aus der Not heraus geboren scheint. Ob Konkurrenten den Mann an einem wichtigen Geschäftsabschluss hindern wollen, Außerirdische ein Neues Objekt der Begierde entdeckt haben oder schließlich doch nur eine andere Idee hinter der Verfolgung steht, wird aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert und impliziert. Abschließende Antworten gibt es nur bedingt, da Karl- Ulrich Burgdorf seinen Text bis zum fatalistischen, aber auch unwahrscheinlichen Ende durchdenkt und abschließend doch in einer Art Schleife eine andere Möglichkeit impliziert.

 Während Thomas le Blancs Text eher eine Warnung vor Big Brother und der totalen Überwachung ist, wirkt Karl- Ulrich Burgdorfs Kriminalgeschichte deutlich zugänglicher und interessanter, auch wenn der perfekte Plan am Ende ein wenig weit hergeholt erscheint.

 In einer deutlich schwächeren Anthologie wäre „Zwangsadaption“ von Kai Riedemann eine überdurchschnittliche Geschichte. Die Idee der Ein-Kind- Ehe durch die Notwendigkeit der Versorgung wird abstrakt extrapoliert, die Auflösung erscheint zu pragmatisch und baut zu viele Brücken anstatt die Protagonisten abschließend tatsächlich für eine nachhaltige Entscheidung zu stellen. 

 Zusammengefasst ist „Io“ unabhängig von dem auf den ersten Blick sperrig erscheinenden Thema Verwaltung die mit Abstand beste Sternen Anthologie, die Thomas Le Blanc bislang zusammengestellt hat. Vielschichtige gehen die überwiegend längeren Texte mit ihren Plots um und präsentieren eine Reihe von interessanten Wendungen. 

  • Broschiert: 216 Seiten
  • Verlag: Goldmann Wilhelm GmbH (Oktober 1988)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3442234751
  • ISBN-13: 978-3442234752

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