Clarkesworld 170

Neil Clarke (Hrsg.)

Die vorletzte Ausgabe des Jahres 2020 steht im Zeichen der Pandemie und den daraus resultierenden Folgen. Herausgeber Neil Clarke schaut zurück, aber mit einer spanischen Komponente auch voran. Mehr und mehr treibt der Herausgeber die Internationalisierung des Magazins voran, wobei bei der Erweiterung von China auf Korea die Qualität der Geschichten gelitten hat.

 Der sekundärliterarische Teil besteht aus einem Blick auf „The Last Man“ aus der Feder Mary Shelleys. Ein Buch, das sich neben autobiographischen Exkursen und der Verarbeitung zahlreicher persönlicher Schicksalsschläge eben auch mit dem Untergang der Menschen auseinandersetzt. Ausführlich, intensiv und vor allem kritisch.

 Zwei Interviews runden den sekundärliterarischen Teil ab. Zum einen mit dem langjährigen Herausgeber der Spectrum Bildbände, über die sich Karen Haber immer wieder lobend im „Locus“ Magazin geäußert hat. Zum Anderen mit einer jungen amerikanischen Autorin asiatischer Herkunft, die aufzeigt, wo ihre kulturellen Wurzeln liegen, aber in welche Richtung ihre Prosa zielt. Beide Gespräche sind ausführlich und vielschichtig.

 Insgesamt sieben Kurzgeschichten präsentiert Neil Clarke, ohne auf einen Nachdruck zurückzugreifen. Neben der Pandemie und der Einsamkeit zieht sich aber ein weiterer roter Faden durch die Ausgabe. Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Und wie schmal ist der Grat zwischen Mensch und Maschine?

 Rupsa Dey eröffnet mit „The Land of Eternal Jackfruits“ die Ausgabe. Viele Jahre nach der Klimakatastrophe und dem ökologischen Wandel sind die meisten Menschen an den Seuchen, Hungersnöten und der Dürre verstorben. Eine künstliche Intelligenz nimmt die äußerliche Form von Menschen aus. Dabei teilt sie sich auf unterschiedliche Persönlichkeiten auf. Eine ist eine Art Roboterpsychologe. Sie soll eine aufgefundene alte Maschine untersuchen, die sich für viele Jahre vor den Menschen und damit auch den Maschinen versteckt hat. Sie könnte die bestehende Ordnung dieser komplexen, aber von der Autorin nicht kompliziert entwickelten Welt zum Einsturz bringen.

 Interessant ist, dass diese Welt nicht nur in der Maschinentheorie, sondern auch der Praxis zu funktionieren scheint. Die Maschinen agieren zwar wie Menschen, sie sind sich aber dieser Unterschiede sehr wohl bewusst.

 In der Geschichte der brasilianischen Autorin Jana Bianchi „Death is for Those Who Die“ erscheinen ebenfalls humanoide Roboter. Sie helfen älteren Menschen, die inzwischen dank des medizinischen Fortschritts deutlich über einhundert Jahre alt werden können. Trotzdem können sie dem Tod nicht entkommen. Jana Biachni beschreibt ohne Kitsch, aber mit viel Herz auf der einen Seite die Beziehung zwischen einem alten Menschen und seinem persönlichen Roboterassistentin, auf der anderen Seite den stetigen Verlust, wenn Freunde und Verwandte sterben. Die Dialoge sind sehr gut geschrieben worden, wobei das Science Fiction Element nicht notwendig ist. Jeder menschliche Pfleger hätte in der vorliegenden Form die Maschine ersetzen können.

 Clara Madrigano ist die zweite brasilianische Autorin dieser „Clarkesworld“ Ausgabe. Ein reiches Ehepaar ersetzt in „Lost in Darkness and Distance“ ihren verstorbenen Sohn mit einem Klon, dessen Lebenszeit allerdings auf zwei Jahre begrenzt ist. Die Geschichte wird aus der Perspektive seiner Cousine erzählt, welche das Original und den Klon gekannt hat. Diesem wird von Beginn an deutlich gemacht, dass er ein Ersatz auf Zeit ist.

 Emotional ansprechend, ohne Kitsch beschreibt die Autorin die verzweifelte wie unmögliche Suche, das durch den Tod Verlorene wenigstens zu imitieren, wenn schon eine Wiederherstellung unmöglich ist. Durch Charaktere sind überzeugend gezeichnet worden, der Klon wirkt menschlicher als das Original in den Rückblicken. Unglaubwürdig ist allerdings, dass die Cousine nicht von Beginn an weiß, dass die Klone eine auf zwei Jahre beschränkte Lebenszeit haben, da es sich um kein Experiment handelt, sondern eine fast alltägliche „Bestellung“ der reichen Oberschicht.

  Aus dem Chinesischen stammt Baoshus „Niuniu“. Die Prämisse ist mit Clara Madriganos Arbeit vergleichbar. Die trauernden Eltern ersetzen ihr bei einem Unfall verstorbenes Kind durch einen Roboter. Der Roboter kann nur einen sehr begrenzten Lebensabschnitt nachstellen, so dass sich jährlich die Entwicklung wiederholt. Der Vater kann diese Wiederholungen nicht mehr ertragen, während sich die Mutter verzweifelt an die Imitation klammert. 

 Auch wenn das Ende konstruiert erscheint, überzeugt die Geschichte durch die ebenfalls zeitlich wechselnde Struktur bestehend aus Szenen vor und nach dem Unfall. Allerdings wirken Baochus Charaktere nicht so lebendig wie bei Clara Madriganos, die ja mit dem Bewusstseins des Klons angesichts des nahenden „Todes“ eine weitere interessante wie tragische Komponente eingebaut hat. 

 K. Raghusudhan beschließt die Ausgabe mit „The Love Life of John Doe“.  Aus Indien stammend ist es die dritte jeweils aus einem anderen Kulturkreis stammende Story dieses Magazins, die sich mit dem Verlust eines Geliebten Menschen auseinandersetzt. Der Protagonist entwickelt – ohne technische Voraussetzungen – eine kraftvolle, im Grunde übermächtige künstliche Intelligenz, welche den Verstorbenen zumindest intellektuell ersetzen soll. Die Menschheit wird bedroht, nur wenige Überlebende versuchen abschließend das Unheil unter Kontrolle zu bringen. Die künstliche Intelligenz übernimmt sogar in einer Facette den Körper der Verstorbenen.

 Es ist eine sehr dunkle, brutale Geschichte, die einen egoistischen Narzissten zeigt. Allerdings wirkt die Entwicklung von Ausgangspunkt des Experiments bis zum Ende viel zu schnell und die Folgen bleiben angesichts der globalen Zerstörung emotional auf der Strecke.  

    A.C. Wiese präsentiert mit „To Sail the Black“ eine klassische Abenteuer Science Fiction Geschichte, ein sehr seltenes Element in „Clarkesworld“. Der Protagonist ist eine Weltraumpirat. Unwissenschaftlich besteht der Antrieb dieses Piratenschiffes aus der Kraft des Herzens einer Sonne. Kontrolliert wird er durch die Geister der verstorbenen Besatzungsmitglieder. Die Handlung besteht aus einer Leiche ohne Zunge. Ein Besatzungsmitglied. Der Kommandant muss den Täter finden. Weitere „Unfälle“ passieren.

 Der Hintergrund der Geschichte ist exotisch genug, um zu unterhalten. Die Protagonisten sind genau wie der exzentrische Hintergrund gut gezeichnet. Allerdings bedeutet diese futuristische Sage eines fliegenden Holländers am Ende auch ein wenig Verständnis für ein konstruiertes Ende, das auf dem Papier überzeugend wirkt, aber längerer Prüfung nicht standhält. Aber A.C. Wiese hat einem alten Subgenre neues Leben eingehaucht und der Plot liest sich vor allem im mittleren Abschnitt ausgesprochen spannend.   

 Technisch ungewöhnlich ist Brady Nelsons und Jamie Wahls „The Murders of Jason Hartman“. Die Geschichte wird ausschließlich in der Form von Dialogen erzählt. Der Erzähler gehört zur kleinen Elite junger Menschen, deren Intelligenz künstlich verstärkt worden ist. Allerdings hat diese Behandlung starke Nebenwirkungen.

 Die Erhöhten werden in psychiatrischen Anstalten gehalten, die an Gefängnisse erinnern. Nur wenn sie – auch nicht unbedingt logisch – den Gesellschaft einen besonderen Dienst oder Gefallen erledigen, werden sie freigelassen und damit als emotionale tickende Zeitbomben auf die normale Menschheit losgelassen.

 Es ist nicht einfach, einen Jugendlichen mit seinen altersnormalen Komplexen als eine Art Superintelligenz zu beschreiben. In dieser Hinsicht überzeugt der Text ausgezeichnet. Hinzu kommt, dass die Notwendigkeit der Dialogform abschließend zufrieden stellend erläutert wird.

 Ob absichtlich oder zufällig, die Fokussierung auf einzelne Themen tut „Clarkesworld“ gut. Bei der Novemberausgabe 2020 handelt es sich um eine der besten Nummern des Jahres. Die Internationalisierung überzeugt, zumal drei Autorinnen aus drei wirklich sehr verschiedenen Kulturkreisen sich mit einem allgegenwärtigen Thema auseinandersetzen und sehr unterschiedliche „Lösungen“ darbieten. Das macht den zusätzlichen Reiz dieser zufrieden stellenden Ausgabe aus.

 

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112 Seiten e Book