Pandemie

Hans Jürgen Kugler, Rene Moreau u.a. (Hrsg)

Statt eines Vorworts präsentiert Michael Kootz mit „Kummerkonzert“ einen Einblick in die Zeit des ersten Lockdowns, als selbst gut gemeinte Aktionen wie Hausbesuche von Superstars katastrophale Aktionen und Reaktionen ausgelöst haben. Pfiffige Geister sind zu dieser Zeit noch in irgendwelche Gartenanlagen oder in öffentliche Parks gegangen, um ihre Feiern natürlich mit dem nötigen Abstand durchführen zu können. Dominik Irtenkauf fasst in seinem Nachwort „Corona- Challenge“ nicht nur die Geschwindigkeit zusammen, mit welcher die bittere Virusrealität im Grunde die Science Fiction überholt und konsequent zum nächsten literarischen Schritt gezwungen hat, sondern geht auf einzelne Kurzgeschichten genauso ein wie auf eine Handvoll von Science Fiction Romanen, die sich mit der Thematik auseinandergesetzt haben. Die Aufzählung muss unvollständig bleiben, zeigt aber, wie lange sich Schriftsteller mit dieser Thematik schon auseinandersetzten. 

 Die Anthologie selbst ist in fünf große Abschnitte eingeteilt, wobei die Überschriften die Richtung vorgeben, aber nicht sklavisch auch das Programm sind. Das zeigt sich schon im ersten Abschnitt „Schlimmer geht immer!“, in welchen Robert Schweizer zum Beispiel beschreibt, das die gegenwärtigen Viren nicht das Ende, sondern der Anfang sind. Selbst „SARS- CoV 3“ ist nur ein Zwischenschritt. Die Isolation einzelner Gruppen – erst die Alten, dann die Kinder – verbessert die Situation nicht, sondern verschlimmert sie. Robert Schweizer macht aber auch zwischen den Zeilen deutlich, wie viel Glück trotz der zahlreichen Tote die Welt bislang gehabt hat. Ein Virus mit einer anderen Sterberate, die in der Vergangenheit vor allem in Asien grassiert haben, würde die gegenwärtige Zivilisation gänzlich aus den Angeln heben.

 Armin Möhles „Wir sind für Sie da!“ hat weniger mit der Pandemie zutun, sondern beschreibt ein „perfektes“, aber zeitlich endliches System der medizinischen Vorsorgung, basierend auf Microbots. Das Problem dieser Geschichte ist, dass der Leser spätestens mit dem unmoralischen Angebot das Ende der Story frühzeitig erkennt und anstatt den Text satirisch zu gestalten erzählt Armin Mühle in einen zu ruhigen, zu sachlichen und dadurch auch zu distanzierten Stil.

 Auch Henrik Wylers „ENCE“ ist eine der Geschichten, deren Pointe zu schnell erkennbar ist. Da hilft auch nicht die Tagebuchform, die unterstreicht eher noch die grundlegende Schwäche des Plots.

 Aus der Masse positiv heben sich die Geschichten heraus, in denen trotz aller absurd erscheinenden Sicherheitsmaßnahmen ein anarchistisches Moment sich erfolgreich durchschlägt und für „Chaos“ sorgt. Sowohl Bernd Grdseloffs „Antivirus“ wie auch Thomas Kolbes „Mens sana in corpore sano“ beschreiben ausführlich eine futuristische wie perfekte Welt, in welcher sich nicht nur die Protagonisten mit allen möglichen Sicherheits- und Desinfektionsmaßnahmen umgeben eingeigelt haben. In beiden Geschichten gibt es aber ein äußeres bzw. inneres Ereignis, das diese perfekt paranoiden Virusschutzmaßnahmen durchdringt und die gesicherte Existenz der Protagonisten nicht nur sozial in Frage gestellt. Beide Autoren haben sich viel Mühe gegeben, eine erschreckend wirkende, aber konsequent entwickelte Welt aufzubauen, die sich grundlegend von der Gegenwart unterscheidet, aber trotzdem nicht in allen Punkten abschließend absurd erscheint.     

 Marianne Labisch „Einsichten“ beschreibt die Kontraste in der modernen Gesellschaft. Auf der einen Seite die reiche Oberschicht, auf der anderen Seite die Vergessenen, die vom Abfall der Sozialgesellschaft leben. Es ist die Geschichte zweier junger Mädchen und ihrer zufälligen Begegnung kurz vor der Schließung des Zoos. Mariane Labisch fügt ihrem gut geschriebenen Plot wenige überraschende Wendungen hinzu, aber die Story lebt von den dreidimensionalen Charakteren und dem Versuch, zumindest in einzelnen Mitgliedern der Oberschicht durch aktives Erfahren vor Augen zu halten, dass deren perfekte Gesellschaft ein Schein ist.

 Heidrun Jänchens „Wenn der Pagolin stirbt“ nimmt eine alte Science Fiction Idee auf. Der Überbevölkerung der Erde soll Einheit geboten werden, in dem man quasi das Geschlecht der Kinder manipuliert. Natürlich stehen hinter den Forschungen der sympathischen, an der Reaktivierung verstorbener Tierrassen eher interessierten Protagonisten, finstere Mächte, deren zweite Manipulationsebene außer Kontrolle gerät. Die Autorin erzählt ihre Geschichte mit einer überzeugenden, nicht naiven, aber auch nicht unbedingt rücksichtlosen jungen Forscherin, die über nachvollziehbare Ziele verfügt. Das Ende ist pragmatisch. Der Erzählstil mit einer überzeugenden Präsentation der hoffentlich noch fiktiven Fakten und deren Auswirkungen ist überzeugend.

 Hans Jürgen Kugler versucht in der letzten Geschichte dieses Abschnitts fast das Gegenteil. In „Die Insulaner“ erzählt er in einem expressiven Stil im Grunde die Geschichte der Menschheit in ihren letzten Tagen und die Ironie, das sich die vorher in ihrer Lebensweise bedrängten Insulaner, auf der Insel Erde auch nicht sicher fühlen werden, wobei der Leser mehr weiß als die Protagonisten. Der Stil wirkt allerdings ein wenig belehrend und minimiert den Spannungsaufbau.

 Der zweite große Abschnitt des Buches „Wir( r ) sind Virus!“ besticht durch eine Reihe von interessanten Geschichten, wobei zum Beispiel einige der Texte wie Heidrun Jänchens Story auch hier Platz gefunden hätten. Christian J. Meiers „Stich“ packt sehr viele Ideen auf wenige Seite. Aus der Forschung an der Mücke wird ein Elefant, der Teile der Menschheit zu ihrem Glück zwingen soll. Der Plot wirkt teilweise vielleicht auch durch seine Komprimierung unnötig kompliziert als auch komplex, aber der Autor vertraut seinen sprachlichen Bildern, die eindrucksvoll illustriert worden sind, um quasi auf Umwegen ein hoffentlich gutes Ergebnis zu erzielen. Bei Heidrun Jänchen folgt der Plot der gegenteiligen Route, in dem ein guter Ansatz durch die ominösen Mächte im Hintergrund konterkariert wird, während sich bei Christian J. Meier nicht nur die Sicherheitschefin die Frage stellt, ob derartig weitreichende Forschung als One-Man-Show in die Hände eine zweifelhaften Kandidaten gelegt werden sollte.

 Zu den Höhepunkten der Anthologie gehört Werner Zilligs „Der Klient“. Es finden sich zahlreiche Anspielungen nicht nur auf den Richard Burton Streifen „Der Schrecken der Medusa“, aber erstaunlicherweise nicht auf die literarische Vorlage sowie „Das Omen“. Aus der Perspektive eines Psychiaters werden insgesamt fünf Therapiesitzungen mit einem Patienten beschrieben, der anfänglich meint, mit etwas in sich drinnen töten zu können. Das Ende mit der letzten Offenbarung lässt sich angesichts des Themas der Anthologie schnell erkennen, aber die intensiven Beschreibungen und Werner Zilligs eindringlicher wie erfahrener Stil machen die Geschichte zu einer interessanten Lektüre, die in ihrer nihilistischen Stimmung auch ein wenig an das letzte Viertel von Terry Gilliams „12 Monkeys“ erinnert.    

 Auch Rainer Schorms „Pantognosia... oder : Erinnerungspathologie“ ist eine der besten Geschichten dieser Sammlung. Wie einige andere Autoren entwickelt er im Grunde aus Versehen eine eigene Seuche. Genetic Learning ist der neue Trend mit entsprechenden Folgen. Dieser beschreibt der Autor drastisch, aber auch nachvollziehbar. Es ist positiv gesprochen eine neue Welt, die negativ ausgedrückt so gänzlich anders ist, wobei eine Reihe von Risiken auf dem Weg dahin wissentlich ignoriert worden sind.

 Das zweite Kapitel besteht aus einer Reihe von kleineren Geschichten. Ute Wehrles „Rache ist süß“ gehört zu den zynischen Stories, die Alfred Hitchcock so gerne präsentierte. Alles ist klar geplant, nur erstens kommt es anders als man zweitens denkt. Anne Grießers „Landpartie“ nimmt sich aus eines fast klassischen Plots an. Das Stehlen einer Identität bzw. die Übernahme eines Vakuums. Ein Einbrecher plant den perfekten Coup, das Ausbreiten der Viren inklusiv der entsprechenden Schließung der Grenzen verteilt seinen Plan. Die improvisierte Alternative macht aus dem Verbrecher noch keinen Engel, aber er wird akzeptiert. Mehr als er bisher erleben durfte.

 Alexa Rudolphs „Der Tod auf vier Pfoten“ ordnet alle Schuld den Katzen zu. Sie haben eine mörderische Seuche weiter getragen und werden von den Menschen gejagt. Die Ausrottung der Art steht kurz davor, als sich zwei Rentner einer im Park ihres Seniorenheims ausgesetzten Katze annehmen. Die Autorin führt ihren Plot konsequent zu Ende, aber im direkten Vergleich zu Ute Wehrles zynischen Ende oder Anne Grießers konsequent durchdachtem finalen „Schlag“ überzeugt der Plot nicht so sehr. Vieles wirkt zu distanziert erzählt, auch wenn ihre Implikationen hoffentlich niemals wahr werden.

 „Tod einer Gutmenschenschlampe“ von Karlheinz Schiedel ist eine zweischneidige Geschichte. Die Idee wird nicht abschließend ausgearbeitet und der Leser weiß nicht recht, ob es sich wirklich um eine Terroristin handelt oder sie sich Teile ihrer Handlungen nur bildlich derartig stark vorstellt, dass sie Realität werden. Das Ende ist zwar fatalistisch, aber da der Leser kaum eine emotionale Beziehung zur Protagonistin aufbauen konnte, verfehlt sie ihre beabsichtigte Wirkung. 

 Im nächsten Abschnitt „Die Liebe in Zeiten der Corona“ finden sich prozentual die stärksten Geschichten der Anthologie. Christian Endres eröffnet den Abschnitt mit „Die Pepper- Prinzessin“, in welcher eine Art Händlerprinz seine persönliche Rapunzel aus den Fängen der Familie auf ihrem isolierten Grundstück zu retten versucht. Christian Endres locker flockiger Stil mit pointierten Monologen des Aussteiger, den die Seuche zu einem wichtigen Verbindungsglied machte entschädigt für das ein wenig überstürzte Ende.

 Nicole Rensmanns „Acht Minuten Leben“ spielt in den achtziger Jahren. Wahrscheinlich in einer Parallelwelt, in welcher es die DDR nicht gibt. Ansonsten wäre die Reise in dieser Form nicht möglich gewesen, da Westberlin ja eine komplett abgeriegelte Stadt gewesen ist und Straßensperren allgegenwärtig waren. Es ist aber die einzige Schwäche dieser Geschichte. Eine Seuche bricht aus, die Menschen sind in Panik. Die Medien bestehen aus Fernsehen und Rundfunk, sowie der Tageszeitung. Die Protagonistin erlebt, wie sich ihre Familie mehr und mehr isoliert und barrikadiert. Zusammen mit ihrem Freund will sie nach Berlin zum Robert Koch Institut, um die Hintergründe zu erfahren.

 Der Hintergrund ist ausgesprochen gut entwickelt. Die achtziger Jahre mit ihrer Musik, aber auch ihrem bürgerlich spießigen Leben erwachen zum Leben. Die Charaktere sind in ihren Handlungen überzeugend und der Ausbruch der Seuche ( passend COVID 82 genannt) überzeugend.

Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren und Autorinnen dieser Sammlung hat sich Nicole Rensmann einen kleinen Schuss Optimismus bewahrt.

 Karla Weigand „Der Zimmerer-Sepp und die schöne Unbekannte“ lebt weniger vom Plot, der absichtlich sehr offen und erkennbar gestaltet worden ist, sondern von der Naivität des Protagonisten, dem eine unbekannte Schöne in der Nacht vor die Tür gespült wird. Karla Weigand operiert mit märchenhaften Elementen und zeichnet aus der Perspektive des ewigen Junggesellen mit männlichen Bedürfnissen den Ausbruch der Katastrophe nach.

 Aus dem Spannischen übersetzt verbindet „Nemesis“ von Vladimir Hernandez Pacin Ideen aus verschiedenen anderen Geschichten dieser Anthologie. Die Rache am anderen Geschlecht ist in „Wenn der Pagolin stirbt“ von Heidrun Jänchen als Mittel gegen die Überbevölkerung ausprobiert worden. Und die perfide Logik, mit welcher die Protagonistin schließlich auch den Außerirdischen entgegentritt, entspricht einigen Paranoiaphantasien verschiedener Protagonisten dieser Anthologie. Viele kleine Ideen verbinden sich zu einer kurzweilig zu lesenden Geschichte, der wahrscheinlich ein wenig mehr Umfang sogar besser getan hätte.   

 „Fake-News“ ist der vierte Abschnitt. Die Überschrift ist nicht ganz richtig, dazu ist das Themenspektrum zu breit aufgestellt. „Blick zurück in Freude“ von Michael Hirtzy eröffnet dieses Kapitel. Zwei Arbeiter machen Pause und unterhalten sich über die sozialen Veränderungen des Virus. Die Geschichte lebte von ihrer zynischen, aber konsequenten Pointe.

 Michael Tillmann fasst den Inhalt seiner Geschichte mit der Überschrift passend zusammen: „Wie ein Ausraster eines chinesischen Provinzbeamten versehentlich die Menschheit rettete“. Allerdings spricht der Autor auch einige Wahrheiten an, für die der Ausraster seines unterbezahlten und ungeliebten Protagonisten nur bedingt hilfreich ist.

 „Planspiele“ von Monika Niehaus bezieht sich nicht nur auf einen berühmten Test aus der „Star Trek“ Serie, sondern wie ihre Miniaturen bei der „Phantastischen Bibliothek“ in Wetzlar kommt es ihr vor allem darauf an, einen komplizierten Weg zu gehen, um ein rationales und simples Ergebnis zu erzielen. Die ironischen Dialoge, die konsequente Pointierung ihrer Texte und schließlich auch die „Originalität“ ihrer Lösungen heben ihre Geschichten seit vielen Jahren aus zahlreichen Anthologien positiv hervor. Das ist auch bei „Planspiele“ der Fall.

 Jörg Weigands „VIP- auf ewig“ ist eine der Geschichten, in denen Außerirdische ihre Hände im Spiel haben. Auch Frank Neugebauers „Superphagus- die Rückkehr des Sohns“ nimmt sich allerdings deutlich komplexer wie auch stilistisch verspielter dieser Thematik an. Jörg Weigands Geschichte wirkt eher wie eine zu ernst geschriebene Parodie auf die zahllosen UFO/ Entführungsstorys, während Frank Neugebauer mit seinem brutalen Krieg, der dem Leser in Form von Besuchen des ältesten Sohns bei seiner Mutter erzählt wird, auf der einen Seite stilistisch wie gewohnt expressiv einen weiteren Bogen spannt, aber fatalistisch im Grunde keine abschließende Lösung präsentieren kann.

 Thomas Neus „Wenn der Regen fällt“ ist die einzige Geschichte, die neben einigen Anspielungen in Frank Neugebauers Text, der Kapitelüberschrift gerecht wird. Wobei auch hier noch unbedingt abschließend von Fake News gesprochen werden kann, sondern der Protagonist impliziert, dass das tödliche Virus schon vor vielen Jahren seine Wirkung verloren hat und die Menschen nicht mehr isoliert in ihren Häusern leben und mit Schutzanzügen vor die Tür gehen müssen. Das Ende wirkt ein wenig konstruiert und Thomas Neues entzieht seiner Pointe sehr viel Potential, aber der Aufbau bis zu ersten Relativierung der „Fake News“ ist gut gestaltet und bürgt eine Reihe von Ideen, die andere Autoren vor allem im ersten Abschnitt dieser Anthologie mit ihren perfekten Wohngefängnissen und der Paranoia vor jeglichem Verstoß gegen die Konformität nur angerissen haben. 

 Der letzte Abschnitt ist sinnig tituliert, „Was vom Ende übrig bleibt“. Insgesamt sechs Geschichten unterschiedlicher stilistischer Machart finden sich in diesem Abschnitt. Dabei versuchen zwei Texte, bekannte Ideen zu variieren. Renate Schianskys „Disruptive Probienten“ beschreibt die Verdummung der Menschen durch das Virus. Einfache Tätigkeiten können nicht mehr ausgeführt werden, das große Vergessen setzt ein. Da der Autor auf die Tagebuchform zurückgegriffen hat, überrascht das Ende nicht.

 Auch Andreas Timms „Papa, wie lange noch?“ ist keine besonders originelle Geschichte. Einer Handvoll Menschen gelingt die Flucht von der mit dem Virus verseuchten Erde an Bord des ersten und einzigen Raumschiffs, das hoffentlich im All einen neuen bewohnbaren Planeten findet. Die Reise ist voller Strapazen und persönlicher Opfer. Der Plot ist zu oft verwandt worden, um wirklich überzeugen zu können.

 „DomusDisease“ von Wolf Welling nutzt ebenfalls eine altbekannte Idee. Die Zivilisation ist zusammengebrochen, die Städte oder später relativiert die Häuser sind unbewohnbar. Draußen campieren die Menschen teilweise in ihren Autos, in den Städten gibt es Nomaden, welche von den Resten leben. Alles Versatzstücke, die bekannt sind. Auch die Mission des Sohns zum Elternhaus ist zumindest erahnbar. Aber Wolf Wellings Stil und die Zeichnung seiner Protagonisten, sowie das Umkehren von Vorurteilen lassen die Geschichte kurzweilig erscheinen.

 David Daubitzs „Caesar- Fragmente eines Forschungstagebuchs“ nutzen eine altbekannte Idee. Das menschliche Gehirn in eine Maschine zu transplantieren. Über weite Strecken kommt dem Leser der Plot bekannt vor. Auch die Form der Erzählung distanziert eher als das der Leser einbegriffen wird. Abschließend ändert der Autor aber die Ausrichtung und stellt sich die Frage, was nach dem „ultimativen Ziel“ kommt. Die zweite Hälfte ist deutlich interessanter und fügt dem bekannten Sujet neue Aspekte hinzu.

 Tag Null“ von Uwe Neubold schildert die Ausbreitung der Seuche vom Ende bis zum Anfang. Angesichts der Masse von „Pandemie“ Storys in dieser Sammlung ist es schwer, dem „Weg“ neue originelle Aspekte abzugewinnen, aber zumindest sucht er eine andere Ursache, einen anderen Auslöser für die ultimative Reinigung der Erde von im Grunde allem Leben. Dadurch hebt sich die Geschichte wieder aus der Masse heraus.

 „Im Zweifel für den Angeklagten“ von Uli Bendick stellt sich aus dieser Frage. In Form eines Theaterstücks wird von sehr unterschiedlichen Institutionen, personifiziert fast schon durch Chiffren nicht nur nach der Aussage gesucht, sondern die Schuldfrage gestellt. Wie bei vielen Dingen ist sie deutlicher komplexer als es selbst auf den zweiten Blick den Anschein hat. Uli Bendick schließt dem Kreis, in dem er weniger das Virus per se oder den Patenten Null in den Mittelpunkt stellt, sondern existentielle Fragen anreißt. Uwe Neubold geht einen ähnlichen Weg.

 Beide Texte wollen die Leser nachdrücklicher zum Überdenken der gegenwärtigen Situation animieren und Ursachenforschung im Grunde bei sich selbst betreiben lassen, anstatt immer mit den Finger auf andere zu zeigen.

 Neben den insgesamt dreiunddreißig Autorentexten mit einer erstaunlichen thematischen Vielfalt und vor allem Tiefe überzeugen auch die zahllosen Graphiken. Wie beim „Exodus“ Magazin sollen Hirn und Auge Hand in Hand voran schreiten. Uli Bendick hat nicht nur das storytechnische Schlusswort geschrieben, sondern ist auch nach Mario Franke  mit den meisten Graphiken vertreten. Zu ihm gesellen sich Jan Hoffmann, David Staege und Michael Vogt. Der Hang zur Computerillustration bewirkt, das die Qualität der Zeichnungen uneinheitlich ist. Viele der Bilder sollen den provokativen Inhalt der Kurzgeschichten expressiv begleiten, andere wirken dagegen ein wenig steif und lenken vom Kontext auch ab. Unabhängig von den Stärken und Schwächen der Zeichnungen und Kurzgeschichten präsentiert sich „Pandemie“ als Ganzes betrachtet wie der erste Band der „Exodus“ Kurzgeschichtenanthologien als überdurchschnittliche Themenausgabe, die dicht am Puls der Gegenwart gestaltet worden ist und durch die Vielzahl der lesens- wie ansehenswerten Beiträge zu den besten Publikation der kritischen deutschsprachigen Science Fiction des Jahres 2020 gezählt werden muss und vor allem auch für ein Mainstreampublikation uneingeschränkt empfehlenswert ist.

Pandemie: Geschichten zur Zeitenwende

  • Herausgeber : Hirnkost (1. Oktober 2020)
  • Sprache: : Deutsch
  • Gebundene Ausgabe : 462 Seiten
  • ISBN-10 : 3948675597
  • ISBN-13 : 978-3948675592