Das Implantat

Daniel H. Wilson

Daniel H. Wilsons zweiter Science Fiction Roman "Amped" ("Das Implantat") greift verschiedene Jugendbuchthemen wie Entfremdung und soziale Veränderungen genauso auf wie die Urängste des Menschen vor einer überlegenen Spezies, die er sich in diesem Fall mittels Implantaten selbst gezüchtet hat. Viele Ideen werden allerdings zu wenig nachhaltig extrapoliert und das Ende ist patriotisch pathetisch offen, so dass neben den eindimensionalen Charakteren und der aufgesetzten Liebesgeschichte zu viele Flanken offen bleiben, um nachhaltig zu überzeugen. 

Wie so oft steht am Anfang eine gute Idee. Mittels Implantaten im Gehirn können körperlich oder geistig behinderte Kinder oder junge Menschen geheilt werden. Im günstigsten Fall leben sie ein unbeschwertes Leben, zynisch gesprochen im ungünstigsten Fall werden sie zu Überschlauen, denen ihre Mitmenschen wieder misstrauen.

 Owen Gray ist 29 Jahre alt und arbeitet als Lehrer an der Taylor Allerdice High School. Er kann nicht verhindern, dass sich eine seiner Schülerinnen vom Dach stürzt. Zu sehr haben sie die Implantate zu einer Außenseitern gemacht. In Nachrichtenblöcken und fiktiven Foren zeigt Wilson die parallellaufende politische Veränderung innerhalb den USA nachhaltig auf. Menschen mit Implantaten wird die Geschäftstüchtigkeit entzogen, da sie zu intelligent sind und ihre jeweiligen Geschäftspartner übervorteilen könnten. Ihre Rechte werden beschränkt und eine offensichtlich republikanisch patriotische Partei versucht sie Träger aus dem öffentlichen Leben zu entfernen. In drastischen effektiven Bildern zeigt Wilson, wie die normalen Menschen sich bekannten Progromen folgend gegen ihre Implantatsmitmenschen wenden, ihre Habe wie in Grays Fall auf die Straße schmeißen oder sie bei den Behörden anzeigen. Diese Extrapolation verschiedener aus der Vergangenheit und Gegenwart bekannter Exzesse wird vom Autoren auch sehr gut gestaltet, der Leser vielleicht ein wenig zu belehrend in das Geschehen einbezogen.

Gray wendet sich in seiner Verzweiflung an seinen Vater. Dieser offenbart ihm, dass seine Verletzungen als Kind sehr viel schwerer als angenommen gewesen sind und dass er in einer illegalen Operation ihm nicht nur die normalen Implantate, sondern spezielle, semimilitärische Komponenten eingepflanzt worden sind. Er soll sich zu einem ehemaligen Kollegen und Freund seines Vaters nach Eden begeben, einer der wenigen Oasen, in denen die Implantatsträger noch ungestört leben können.

Mit dieser Aufweichung der Kriterien unterläuft der Autor unbewusst und teilweise frustrierend den sehr guten Beginn des Romans. Insbesondere gegen Ende des Romans wird diese spezielle Software wieder wichtig und zusammen mit einem ihm bislang unbekannten zwölften Mitglieder dieser aufgelösten Eliteeinheit erhält Gray „übermenschliche“ geistige Fähigkeiten, die er allerdings zu Gunsten des Plots nicht in Superheldenmanier einsetzt. Trotzdem überspannt der Autor hinsichtlich der Glaubwürdigkeit und das allgemeine Bild betreffend auch der Ängste seiner Mitmenschen den Boden und etabliert den potentiellen „Übermenschen“, vor dem der radikale Senator und Präsidentschaftskandidat Joseph Vaughn zu warnen sucht. Es ist leider einer von zahlreichen Kompromissen des ganzen Buches.

Auf seiner Odyssee nach Eden lernt Gray die USA der nahen Zukunft von einer ihm bislang unbekannten Seite kennen. Misstrauen und Angst reagiert das Land. Als er sein Gesicht auch noch zusammen mit den meist gesuchten Terroristen über die Leinwände flimmern sieht, scheint die Flucht aussichtslos.Um Spannung zu erzeugen, bemüht sich Wilson, dem zu ausschweifend geschriebenen Mittelteil Dynamik in Form einer allgegenwärtigen Gefahr zu geben. Das funktioniert nicht unbedingt, da der Leser an keiner Stelle am Erfolg der Mission zweifelt und Gray selbst für einen Lehrer sich aus einigen schwierigen Situationen förmlich herausreden kann. Der Charme dieser Abschnitte liegt in den ungewöhnlich natürlich und überzeugend entwickelten Nebenfiguren, welche dem Leser länger im Gedächtnis bleiben als die Hauptcharaktere. Hinsichtlich der finalen Konfrontation laufen die einzelnen Spannungsbögen – Verschärfung der politischen Situation und Konflikte im „Eden“ Lager selbst – sehr geradlinig und nicht immer nachhaltig zufriedenstellend zusammen.

Wilson hat aber eine gänzlich andere Intention. Auf einer politisch relevanten Ebene möchte er die Frage des „Mensch seins“ und des Zusammenlebens in einer „Zivilisation“ untersuchen. Hinsichtlich der Zivilisation dreht er teilweise zu wenig selbst ironisch wie Boulle mit seinem „Planet der Affen“ Roman die Prämissen einfach um. Nicht mehr die unterdurchschnittlich entwickelten Menschen müssen geschützt werden, sondern die normalen Durchschnittsbürger suchen sich vor den Intelligenzen zu schützen. Die in den Einschüben veröffentlichten Gesetze und ihre Begründungen erscheinen absurd, beinhalten aber ausreichend sozialen Sprengstoff, um gegenwärtige Entwicklungen in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Hinzu kommen die Vorurteile auf beiden Seiten, wobei Wilson in vielen Punkten zu oberflächlich bleibt. Die Implantatstechnologie ist neu, hat aber schon über den normalen Status hinaus zu gesellschaftlichen Veränderungen geführt. Im Grunde könnte sie eine Art Wettrennen darstellen. Die kranken und behinderten Mitmenschen gesunden und werden überdurchschnittlich intelligent. Wie wirkt sich die Technologie auf einen Menschen aus, der schon von Beginn an intelligent oder überdurchschnittlich begabt ist? Welche Auswirkungen hätte eine Art Wettrennen? Da diese Technologie anscheinend mehr und mehr zu einem Massenprodukt wird, wirken die diskriminierenden Beschränkungen der in diesem Fall Ewiggestrigen polemisch passend, aber soziologisch nicht immer effektiv. Auch die Unterdrückung der Implantatsträger durch die Übernahme niederer, in erster Linie körperlicher Arbeiten macht in dieser Hinsicht wenig Sinn. Isolierte Kommunen, die auf jegliche Technik verzichten und ihre Implantatsträger aus Furcht vor Übergriffen isolieren wären logischer.

Gesellschaftlich fehlt Wilson auch im Schlussdrittel der Mut, die von ihm aufgestellten Thesen insbesondere in rassistischer Hinsicht manifestieren zu lassen. So entlarvt der Autor die gewalttätigen Übergriffe auf die normalen Menschen von gesellschaftsgefährlichen Implantatsträgern als Teil einer Verschwörung, welche augenblicklich das rechtsradikal patriotische Gedankengut in sich zusammenfallen lässt. Dadurch muss sich der Autor nicht mehr den Geistern stellen, die er so interessant hervorgezaubert hat. Das keine seiner Ansätze am Ende beantwortet worden ist und die einfachen Menschen vielleicht weiterhin Angst vor dem Übermenschen haben, wird relativiert.

Auf der persönlichen Ebene erscheint Wilson noch ambivalenter. Gray ist anfänglich ein durchschnittlicher Lehrer, der sein Implantat als notwendige Ergänzung, aber nicht intellektuelle Bereicherung trägt. Aufgrund der Folgen eines Unfalls, den er sonst nicht überlebt hätte, sieht er es wie ein künstliches Ersatzorgan an. Im Verlaufe des Plots muss er sich mit der Frage auseinandersetzen, in wie weit er das Implantat aufgrund dessen militärischer Herkunft überhaupt und jederzeit kontrollieren kann. Gibt es einen Aktivierungsbefehl, der quasi sein Bewusstsein außer Kraft setzt und ihn zu einer emotionslosen Killermaschine wie die anderen Mitglieder der geheimen Eliteeinheit machen könnte? Wilson geht aus spannungstechnischen Gründen nicht einen Schritt weiter, sondern zwei. Gleichzeitig wirft er noch einen Gegenentwurf mit dem baugleichen Implantat in den Ring, der als schlechtes Gewissen und Ventil von Grays aufgestockten gewalttätigen Emotionen funktionieren könnte. Wilson setzt vielleicht ein wenig zu hoch an. Es hätte ausgereicht, Grays aus der Bahn geworfenes Leben mit einem normalen Implantat zu beschreiben. Einem Implantat, das er zum Überleben benötigt. Vor allem kann sich Wilson gegen Ende des Romans nicht zu einer Position entschließen und schließt diesen Handlungsbogen mit einer frustrierend offenen und zu wenig nachhaltig diskutierten positiven Zukunftsvision ab. Da Gray als Charakter aber zu oberflächlich, zu eindimensional und zu wenig zugänglich beschrieben worden ist, gehen diese Intentionen ins Leere. Damit unterminiert er die Stärke des Romans: immer wieder bringt er seine Figuren in nicht immer militärische oder gewalttätige Situationen, in denen menschlicher Intellekt und implantierte Logik zusammenarbeiten müssen. Gray geht zwar auf die potentiellen inneren Zwiespalte ein, ignoriert sie aber anschließend bei der Auflösung der Situation. Mit einem stärker gezeichneten Protagonisten würden diese Extreme sehr viel besser funktionieren und der Leser könnte sich effektiver mit den „Helden“ identifizieren.

Zu den schwächsten Aspekten des ganzen Romans gehört die überflüssige Liebesgeschichte, die auf dem Niveau eines Jugendbuches in die Mitte des Spannungsbogens als Teil eines Dreiecksverhältnisses, aber keiner Dreiecksbeziehung platziert worden ist. Angesichts der Umstände wirkt die Beziehung aufgesetzt, zu wenig natürlich und vor allem nicht ausreichend vorbereitet oder gar abgeschlossen. Mechanisch setzt Wilson sie ein, um seine Figur zugänglicher zu machen und scheitert rückblickend. Ebenfalls kontraproduktiv ist der Fokus auf Gray und seinen Erlebnissen ohne die nachhaltige Nutzung der Ich- Erzählerperspektive. Mittels der zahllosen „Schaukästen“ bringt Wilson die Leser auf den neusten, absurd erscheinenden politischen Stand inklusiv diverser Kommentare. Die Folgen kann der Betrachter anschließend aus Grays Perspektive einordnen. Mit dieser Vorgehensweise verschenkt der Autor allerdings das Potential, entsprechend dreidimensionale und gefährlich erscheinende Antagonisten zu erschaffen, die ein notwendiges Gegengewicht zum zu „guten“ wie eindimensionalen Gray bilden könnten. Rückblickend erscheint der Roman dadurch auf der emotionalen Ebene unausgeglichen und noch stärker geplant als ursprünglich angedacht.   

 Zusammengefasst ist „Das Implantat“ ein Buch verschenkter Möglichkeiten, dessen Potential auf den ersten Seiten sehr gut zu erahnen ist. Eine solide, ausbaufähige Prämisse wird auf den letzten Seiten zu Gunsten eines unnatürlich erscheinenden vorläufigen Happy Ends geopfert, das keinen der unterhalb der gesetzlichen Instanzen ablaufenden „zwischenmenschlichen“ sozialen Prozesse beeinflusse oder gar stoppen kann. Hinzu kommt ein zu starker Fokus auf der Besonderheit von Grays Chip, der überkünstelt erscheint und die Figuren sind zu eindimensional, zu wenig nuanciert vor allem auf der Front der potentiellen Schurken gestaltet, als das sie durchaus überdenkenswerte Kritik an gegenwärtigen Exzessen ihr Ziel findet. Auf der positiven Seite bestehen die gut geschriebenen Actionsequenzen nicht nur aus einer Aneinanderreihung von Klischees, sondern sind in sich dynamisch verfasst und für den Leser nachvollziehbar. Eine interessante und ohne Frage auch aktuelle Idee wird durch die zu schematische Aufarbeitung negiert, so dass „Implantat“ nur teilweise und vor allem nicht mit diesem manipulierenden, genau die Ängste der normalen Menschen beschwörenden Titelbild seine Leser anspricht.      

 

Quality Paperback, Knaur TB
03.03.2014, 368 S.

ISBN: 978-3-426-51348-4