1996 erschien zum ersten Mal ein Roman nur noch nach einem Treatment von Arthur C. Clarke. Im Nachwort unter anderem zur deutschen drei Jahre später im Heyne Verlag veröffentlichten Ausgabe schreibt der Brite von seiner ersten direkten Begegnung mit einem allerdings schwächeren Erdbeben in Indien. Kurze Zeit später verfasste er für einen möglichen Film ein Treatment von vielleicht eintausend Wörtern, aus denen der talentierte amerikanische Schriftsteller Mike McQuay schließlich “Stärke 10” erschuf. Mit nur fünfundvierzig Jahren verstarb Mike McQuay kurz nach der Fertigstellung dieses Buches. Arthur C. Clarke separiert in diesem Nachwort auch die Zusammenarbeit mit Gentry Lee unter anderem an den “Rama” Fortsetzungen und “Craddle” von der Kooperation mit Mike McQuay. Die anderen mit Lee geschriebenen Bücher waren aus der Sicht des Briten klassischen Kooperation mit abwechselnd geschriebenen Kapiteln, “Stärke 10” basiert eben nur auf einer Art freiem Expose, aus dem Mike McQuay schließlich einen gänzlich eigenständigen Roman erschaffen hat. Michael P. Kube- McDowell sollte “Waffenruhe” in der gleichen Art und Weise verfassen, während die Kooperationen mit Stephen Baxter mehr auf Augenhöhe erfolgten. Fredrik Pohl setzt schließlich einige Jahre nach Arthur C. Clarkes Tod in “Das letzte Theorem” wieder eine Art Treatment in Romanform um.
Mike McQuay hat innerhalb kürzester Zeit eine Reihe von Romanen geschrieben. Darunter unter anderem die Filmadaption zu John Carpenters “Die Klapperschlange”, aber auch einen Band aus der in Asimov´s Robotcity spielenden Serie. Der früh verstorbene Amerikaner ist ein cineastischer Autor, der sehr viel Wert auf Action, Dynamik und eine straffe Handlungsführung legt.
Bei der Lektüre von “Stärke 10” fällt die fast klassisch strukturierte Handlung auf. Im Prolog wird der ambivalent Protagonist für sein späteres Leben gezeichnet. Wie in “Twister” hasst der Protagonist Lewis Crane in diesem Fall keine Stürme, sondern Erdbeben. Mit sieben Jahren hat er seine Familie und das Elternhaus an ein Erdbeben verloren. Auch sein linker Arm ist teilweise gelähmt. Seit diesen Jugendtagen hat er eine Obsession. Er möchte Erdbeben nicht nur exakt voraussagen und Menschen retten; im Laufe der Handlung schält sich ein weiterer sehr gewagter Plan heraus. Er will Erdbeben die Existenzgrundlage nehmen und damit greifen Clarke/ McQuay auf eine Idee zurück, die Val Guest mit einer vergleichbaren Ausgangsprämisse, aber einer gänzlich anderen Extrapolation schon in dem 1961 entstandenen Film “Der Tag, an dem die Erde Feuer fing” angewandt haben.
Dreh- und Angelpunkt des Buches ist Lewis Crane. Wie eingangs erwähnt versucht er mit seiner Erdbeben Obsession nicht nur sein Trauma zu überwinden, seine offene Wunde zu schließen, sondern auch die inneren Dämonen zu besiegen. Er führt ein Team von Spezialisten an, seine Stiftung wird von öffentlichen Geldern unterstützt. Gleich zu Beginn erweist er sich hinsichtlich der Erdbebenvorhersagen auch als Pragmatiker, der nicht nur an Ort und Stelle ist, sondern an der Front mit simpler Technik (Spaten und Schaufeln) mehr Hilfe bringt und leistet als die großen Politiker. Auch wenn seine Thesen immer wieder angezweifelt werden. Kernpunkt seiner Forschung ist eine Art interaktives Modell der Erde, in welche nicht nur alle gegenwärtigen Messdaten fließen, sondern geschichtliche Erdbebenaufzeichnungen, um so eine Chronologie der Vergangenheit, aber auch Zukunft zur Verfügung zu haben.
Lewis Crane ist aber nicht nur ein körperlich verkrüppelter Mann der Tat, er ist auch ein Alkoholiker, dessen Arbeit nicht direkt, aber zumindest teilweise von seinem öffentlichen Alkoholkonsum beeinträchtigt wird.
Umgeben wird er von seinem besten Wissenschaftler, einem Farbigen namens Dale Newborne. In dieser inzwischen nahe an der Gegenwart spielenden Geschichte haben sich die USA in einem Bürgerkrieg fast zerfleischt und die Farbigen regieren in den “Kriegsgebieten” an der Westküste mit der Idee, irgendwann einen islamistischen Staat auszurufen. Dale Newborne trifft sich mit dem gesuchten Führer dieser Organisation und ahnt nicht, dass er zu dessen politischen Spielzeug werden könnte.
Mehr und mehr steht zwischen den beiden Männern eine talentierte Frau, die beste Imagerin, die es auf dem Markt gibt. Sie soll das Globusmodell mit Leben erfüllen. Während Dale Newborne ihr mehr und mehr mit seinen altbackenen Thesen den Atem nimmt, ist Lewis Crane deutlich aufmerksamer, aber emotional im Grunde isoliert. In vielen Szenen dient sie als Mittler zwischen dem Leser und dem Geschehen, in dem ihr wichtige Informationen berichtet werden oder sie diese interpretiert.
Es ist nicht der erste derartig charismatisch getriebene Charakter, der in Arthur C. Clarkes Werk auftaucht. Je weiter Clarke und McQuay den Bogen in “Stärke 10” spannen - im Grunde umfasst er tatsächlich inklusiv des Epilogs mehr als ein Leben - , um so stärker erinnert Crane an Dr. Vannemar Morgan, den visionären Architeken aus “Fahrstuhl zu den Sternen”. Beide sind getrieben von ihrem individuellen Ehrgeiz. Beide finden erst spät und dann kurz Frieden. Lewis Crane hat das Glück, abschließend sogar von zwei Frauen begleitet zu sein, die seine fachlichen wie emotionalen Schwächen auf sehr unterschiedliche Art und Weise ausnutzen. Auch Dale Newborne wird von zwei Frauen beeinflusst bzw. benutzt.
Im Gegensatz zu klassischen Hollywoodwerken kommt es zwar zu einer finalen Konfrontation zwischen den Männern (sogar streng genommen dreimal), aber Clarke und McQuay nutzen sie teilweise basierend auf Arthur C. Clarkes Altersweisheit, um endlich aus der Vergangenheit und dem individuellen Scheitern zu lernen und Gemeinsamkeiten zu erkennen. Es ist ein klassisches Clarke, das jeder Katastrophe am Ende auch ein Anfang innewohnt und wenn schon nicht die Menschheit aufzuklären ist, wenigstens eine neue perfekte Welt entstanden kann, in welcher Freiheit, Respekt und vor allem friedliche zukunftsorientierte Forschung eine Rolle spielen. Am Ende von “Fahrstuhl zu den Sternen” besucht ein außerirdisches Wesen die Erde und sieht, was Dr. Vannemar Morgan erschaffen hat. Am Ende von “Stärke 10” wird diese zukünftige Vision aus einer anderen, subjektiven Perspektive behandelt. Natürlich könnte das Ende streng genommen auch kitschig erscheinen, in dem der Weg zwar ein Ziel, aber dank einer technischen Innovation basierend auf dem allgegenwärtigen, aber nicht ambivalent eingesetztem Globus nicht mehr DAS Ziel ist. Aber eine solche Argumentationskette fortzuführen, wäre kleinkariert.
“Stärke 10” ist aber mehr als nur ein Abenteuerroman mit einer kontinuierlichen Jagd nach dem nächsten Erdbeben, um auf der einen Seite rechtzeitig zu helfen, auf der anderen Seite allerdings auch die entsprechenden Daten für weitere genauere Vorhersagen einzusammeln.
Ein wichtiger durchlaufender Faden ist auf der politischen Ebene die durch den rassistischen Bürgerkrieg zerfleischte USA. Auf der anderen Seite beherrschen multinationale Konzerne chinesischer Herkunft im Grunde den Weltmarkt. Ein wenig zu euphorisch hat ein Geschäftsmann die Schulden der USA aufgekauft und saugt das Land mit Zinszahlungen aus. Natürlich möchte der Konzernchef neben dem allgegenwärtigen Status als Präsidentenmacher unbedingt Lewis Cranes Erfindung haben, um damit aktiv Geld mit der Angst zu verdienen. Wie es sich für einen derartigen Roman gehört, wird er am Ende mit der Gefahr und weniger dem Geschäft bedroht. Ein weiterer Aspekt ist die radikale Vernichtung der arabischen Länder durch einen Atomschlag Israels. Wie ein Mahnmal zieht eine riesige radioaktive Wolke um die Welt.
Die Radikalisierung der islamischen Welt nicht nur im Nahen Osten, sondern vor allem in den USA inklusiv eines entsprechenden Teilstaats mit New Cairo als Hauptstadt ist ein Thema, das die Autoren immer wieder aufgreifen. Dabei stehen Clarke und McQuay dem Islam in den einschränkenden Regeln hinsichtlich der Behandlung von Frauen und dem Hang zur Gewalt auch eine wirtschaftliche Eigenständigkeit basierend auf Fleiß, Entschlossenheit und fruchtbarem Schlamm zu. Es ist vielleicht der ironisch politische Todesstoß, daß es nicht die Männer sind, welche die meisten Intrigen planen, sondern eine starke Frau im Hintergrund, die für den Machterhalt und im Grunde des Ausbau ihres familiären Einfluss über Leichen geht und sich dabei nicht scheut, das eigene Blut zu vergießen.
Clarke und McQuay haben sich viel Zeit gelassen, nicht nur die Auswirkungen von Erdbeben, sondern ihre Entstehungen zu beschreiben. Ein weiterer zusätzlicher Aspekt sind die verschiedenen unterirdischen Atombombenversuche der großen Nationen, welche auch Spuren hinterlassen haben. Atomkraft als vernichtende Kraft, aber zumindest aus Cranes Sicht auch rettender Anker. Technologischer Fortschritt in den richtigen Händen ist aus Sicht der Autoren der einzige Weg, um die ökologischen Sünden der Vergangenheit zu überwinden und vor allen den Menschen dann auch eine ideologisch freie Zukunft zu ermöglichen.
Auch wenn sich die Idee einer perfektionierten Vorhersage aufgrund von Wahrscheinlichkeiten und weniger klassischen Messdaten durch den Roman zieht, greifen plottechnisch eine Reihe von Klischees des Hollywoodkinos. Mehrere Erdbeben mit lebensgefährlichen Situationen werden ausführlich und detailreich beschrieben. Crane riskiert seinen Hals, um die Unfähigkeit in seiner Kindheit zu kompensieren. Am “Ende” während des Höhepunkts des Romans die Auseinandersetzung zwischen ideologisch geblendeten Bösen und dem von einem an Besessenheit erinnernden Sendungsbewusstsein getriebenen Crane. Es ist Ende und Anfang zu gleich. In seinem Kopf schreibt der Leser die Szenen unbewusst fort und wird dann irgendwann überrascht, das McQuay und Clarke den Handlungsbogen in einem fast sechzig Seiten umfassenden Epilog wieder auf den Kopf stellen.
Es scheint nur Verlierer zu geben, die sich mit den jeweils individuellen Situationen nach den entsprechenden Schicksalsschlägen auseinandersetzen müssen. Aber es ist wieder Crane, der einen Traum fallen lassen muss, um eine neue, eher Clarkes Zukunftsvisionen entsprechende Arbeit zu beginnen. Auf den letzten sechzig Seiten zeigt sich, dass “STärke 10” wirklich aus einer Kooperation zwischen Clarke und McQuay entstanden ist. Es wäre unfair davon zu sprechen, daß dieser Epilog sowohl auf der emotionalen Seite - McQuay- als auch der visionären Sichtweise - Clarke - besser oder interessanter ist als die ersten knapp vierhundert Seiten. Die ersten vierhundert Seiten bestehen aus der verzweifelten Jagd eines Mannes nach dem perfekten Schutz für die Menschen. Damit kann er seine eigenen inneren Wunden nicht heilen, aber sein Gewissen beruhigen. Auf den letzten sechzig Seiten mit neuer Energie und einer Vision erschafft Crane mit seinem ihm verbliebenen Team ein Denkmal für die Ewigkeit, wie es Vannemar Morgan mit dem ersten “Fahrstuhl zu den Sternen” gelungen ist. Beide Seiten haben Relevanz. Sie zeigen die Entschlossenheit eines Mannes, der dreimal in seinem Leben durch von ihm nicht zu kontrollierende Ereignisse alles verloren und der trotzdem den Glauben an das Gute tief in seinen Mitmenschen, zumindest einem Teil bewahrt hat.
Diese intime Botschaft, dieser fast naive Glaube an das Gute in den Menschen, aber auch die Bereitschaft, vieles aus dem eigenen Leben zu opfern, um große Ziele wenigstens zu ermöglichen, sind klassische Themen Arthur C. Clarkes, mit denen er sich in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder auseinandergesetzt hat. Dieses Mal lange Zeit in Form eines die Welt umspannenden Abenteuerromans.
- Herausgeber : Heyne (1. Februar 1999)
- Sprache : Deutsch
- ISBN-10 : 3453150511
- ISBN-13 : 978-3453150515