Titans Kinder

Aiki Mira

„Titans Kinder“ ist Aiki Miras erster Roman. Die Grundlage bildete „Wir werden andere sein“ aus der Anthologie „Eden im All“. 

Während der Anthologietitel nur bedingt das Thema der Kurzgeschichte, aber auch des Romans streift, gilt der Titel der ursprünglichen Novellet auch für den ganzen Roman. Damit soll nicht ausgedrückt werden, dass „Titans Kinder“ ein zu simpler Titel ist, aber die „Veränderung“ umfasst mehr als nur die Kinder des Saturnmondes. 

Im Jahre 2022 startete die in Hamburg lebende Aiki Mira literarisch im Genre durch. Drei Kurzgeschichten konnte sie auf der Shortlist für den Kurd Laßwitz Preis platzieren, mit „Utopie 27“ gewann sie den Preis. „Utopie 27“ erschien in der von Uli Bendick, Mario Franke und ihr zusammengestellten Anthologie „Am Anfang war das Bild“, die ebenfalls für den Kurd Laßwitz Preis nominiert worden ist.

In den letzten Jahren publizierte die/der zu Gaming und Jugendkultur forschende Autorx unter anderem in Exodus, im phantastisch! Magazin oder Queer* Welten.

Aiki Mira nutzt für die Geschichte klassische Science Fiction Strukturen, wobei der technische Hintergrund eher ambivalent genutzt wird. Eine Crew bestehend aus der Ingenieurin Sunita, der Bioinformatikerin Rain und Marlon mit einer nicht näher spezifizierten Aufgabe soll eigentlich zum Mars fliegen. Sie erhalten vom Titan einen Notruf und werden angewiesen, ihren Kurs zu ändern. Da Sunita und Rain für einen globalen Konzern BionX arbeiten, müssen sie dem Notruf folgen. Marlon sieht vor allem einem um Jahre verlängerten Flug.  

Technisch erscheint diese Ausgangslage  wackelig und arg konstruiert. So erstaunt den Leser, das in dieser Zukunft Raumschiffe ohne viel Star Trek Brimborium umgelenkt werden können und plötzlich ein gänzlich anderes Ziel ansteuern können, ohne das die Besatzung zusätzliche Nahrungsmittel an Bord nehmen müssen oder mehr Treibstoff benötigt wird.

Der Titan gilt als eine Art No- Go Zone. So vermittelt es zumindest die Autorin. Aber im Laufe der Handlung stellt sich heraus, dass mehr als ein Konzern auf dem Titanmond verbotene Forschungen betreibt und vor allem trotz einer von Szene zu Szene perfekt oder lückenhaft  erscheinenden Flugüberwachung – das wird zweimal im Roman deutlich gemacht – es möglich ist, quasi im optischen Schatten etwas zu errichten, das über Jahre forschen kann, ohne das es einen Kontakt zur Erde gibt. Der Hinweis auf biologische Kampfstoffe wirkt antiquiert und ist unnötig. 

Spannungstechnisch muss die Autorin gegen Ende ihrer Geschichte einige Punkte relativieren. Ansonsten wären die Besucher aus dem Nichts gekommen. Inhaltlich hätte ein derartiges Überraschungsmoment allerdings kontraproduktiv gewirkt, da die „Vorbereitung“ auf die möglicherweise unfreundlichen Besucher ein wichtiges handlungstechnisches Element ist.

Im Vergleich zur ursprünglichen Novelle hat Aiki Mika aber die Struktur der Geschichte verändert. Konzentrierte sie sich in der Ausgangsstory mehr auf den Flug zum Mars und die widersprüchlichen Meinungen an Bord des Raumschiffs, setzt die Autorx jetzt sehr viel mehr auf die Ereignisse in der Titanstation und die entsprechenden Folgen. Dadurch fällt der technisch ein wenig holprige Auftakt nicht so sehr ins Gewicht.

Kaum haben die drei in einer Symbiose arbeitenden und lebenden Astronauten  den Titan und die Station mehrere Jahre nach dem Notruf erreicht, stellen sie fest, dass  nur ein Besatzungsmitglied von ebenfalls  Dreien übrig ist und die ihnen erzählte Geschichte nicht mit den aufgefundenen Fakten übereinstimmt.

Noch mehr als während der gekürzten Reise statt zum Mars auf den Titan spielt Aiki Mira mit bekannten Science Fiction Sujets. Der Leser hat das Gefühl, sich in einem vertrauten Themenfeld zu befinden,  angereichert um die Idee der Space – Symbiose.

In dieser Hinsicht präsentiert sich Aiki Mira ambivalent.  Die Zusammenstellung der jeweiligen Teams sicherlich auch in sexueller wie intellektueller Hinsicht wirkt wie die Ausbildung von modernen Familien. Aiki Mira wechselt auch die Perspektive und beschreibt die Schwierigkeiten zwischen zum Beispiel dem asexuellen Rain und der einzigen auf dem Titan lebenden Astrobiologin Verve Delacroix. Diese Szene ist überzeugend beschrieben und zeigt die mögliche Zerbrechlichkeit der Space- Symbiosen.  Während des Epilogs präsentiert Aiki Mira einen weiteren Schritt zu einer perfekten, vielleicht auch perfektionierten Familie.

Aber die zwischenmenschlichen Dramen wirken teilweise zu sehr in den Hintergrund gedrängt. Auch wenn alle Figuren mit ihren Ecken und Kanten gut charakterisiert sind und der Leser sie voneinander unterscheiden kann, erwartet über keinen durchgehenden Erzähler an der  Seite verfügende Betrachter ohne Sensationsgier  oder die „Lust des Voyeurs“ einfach mehr. Vielleicht wollte Aiki Mira auch nur aufzeigen, dass selbst Transgenderfamilien oder die von ihr mehrfach angesprochene Space Symbiose nur eine andere Art der Familie und nichts Sensationelles oder Verwerfliches ist. Durch diese unaufgeregte, aber bestimmte Art und Weise werden mögliche Vorurteile oder Hemmungen auf Seiten der Leser gut wie pragmatisch zur Seite geräumt. Dann verfällt sie aber auch wieder in Klischees, wenn die Mitglieder aus der einen Familie etwas Neues suchen oder die Partner absichtlich/ unabsichtlich betrügen. Hier springt Aiki Mira zu sehr hin und her und benutzt pragmatisch die aus anderen Büchern eher vertrauten Klischees, um Dramaturgie im Grunde unnötig zu erzeugen. 

Für einen Roman mit knapp zweihundert Seiten Umfang gibt Aiki Mira ihren Figuren sehr viel intellektuellen Freiraum und definiert sie positiv weniger über ihre eigenen Einstellungen/ Vorurteile, sondern ihre Handlungen in ihnen unvertrauten Räumen bzw herausfordernden Situationen.  Am Ende sind es wenige Actionszenen inklusive der Idee einer Selbstopferung nach einem Alleingang, die am vertrautesten und damit auch am einfachsten zu greifen sind. Das kann ein Leser positiv wie negativ sehen. 

Vielmehr agiert Aiki Mira mit einigen Klischees gegen die Stereotype. So ist Marlon Khoury vielleicht auf den ersten Blick das am meisten klassische Rollenmodell, das neben der Migräne sich als pansexuell definiert, aber vor allem hinter zwei „Frauen“ her ist. Marlon ist auch die erste Identifikationsfigur des Lesers, in dem er quasi über die Neuorientierung der Mission und damit die Verlängerung um mindestens sieben bis acht Jahre (Hin- und Rückflug) spricht. Rain ist von ihrer Herkunft her britisch bis zum Tee, aber sexuell nonbinär. Sie sucht,  wie ein Junge auszusehen, gibt sich vom Verhalten her allerdings weiblich.  Sie reagiert auf ihr Umfeld empfindsam bis empfindlich.

Auf dem Titan beginnt sich der Fokus zu verschieben. Während Marlon als Protagonist in den Hintergrund tritt, übernimmt Rain fast widerwillig in wichtigen Szenen nicht unbedingt die Kontrolle, aber sie trifft Entscheidungen.  Nicht nur für sich.

Zusammen mit Tami ist Raini in der Lage, es bei Spielen mit künstlichen Intelligenzen aufzunehmen. Tami schafft ein Unentschieden, Raini hat keinen menschlichen Gegner mehr. Diese Komponente spielt gegen Ende des Buches eine wichtige Rolle, lange inhaltlich vorbereitet.  

Selbst der potentielle Antagonist Abram Krasnikov entspricht nicht dem Klischee, auch wenn ganz bewusst über den Horizont geblickt wird. Seine Handlungen werden teilweise im Off zusätzlich erläutert. Da die Geschichte als Ganzes weder die im Untertitel angesprochene „Space Utopie“ ist noch eine klassische Space Opera oder gar Military Science Fiction, hat Aiki Mika auch ein wenig mehr Spielraum. Die Story braucht grundsätzlich keinen klassischen Antagonisten wie auch keine normale Spannungsverlaufskurve. Daher darf der Antagonist nicht nur schwächeln, sondern am Ende sein dogmatisches, borniertes und der eingeleiteten Evolution auf dem Titan zuwiderlaufendes Verhalten überdenken.   

  Weiterhin positiv ist, das die Space Symbiose nicht den klassischen Handlungsrahmen erdrückt oder nur im Mittelpunkt von Allem steht,  sondern Aiki Mira vor allem eine stringente Geschichte erzählen will und sie auch stilistisch sehr ansprechend mit einigen Ecken und Kanten in sich geschlossen entwickelt.

Drei andere inhaltliche  Elemente werden unter anderem in der Station auf dem Titan präsentiert. 

Der potentielle Erstkontakt mit einer außerirdischen sich entwickelnden Intelligenz steht nicht nur in einem engen Zusammenhang mit der herausfordernden Oberfläche des Titans und deren Fauna, sondern auch in den körperlichen Veränderungen, denen die “Menschen” während ihres mehrjährigen Aufenthalts unterworfen werden. Zwischen dem ersten vor allem aus der Novelle bestehenden Abschnitt und den beiden folgenden Teilen- auch durch mehrere Jahre getrennt - durchlaufen auch die Astronauten/  Wissenschaftler einen ihren Körper verändernden, sich dem Titan anpassenden Prozess. Manches wird älteren Lesern/ Zuschauern hinsichtlich der Grundidee aus Filmen wie zum Beispiel der Anfang von “Species” bekannt vorkommen. Im Film “schenken” die Fremden mittels einer zweiten Botschaft den naiven Menschen “DNA” Informationen, im “Titans Kinder” erfolgt die Verwandlung einzelner Stationsmitglieder ungeplant und im Grunde auch unkontrolliert. Das unterscheidet die Geschichte unter anderem von Kathleen Weises “Der vierte Mond”, die wie Aiki Mira nicht nur die Technik ignorierte, sondern im Gegensatz zu “Titans Kinder” auch biologische Grundkenntnisse hinsichtlich der Evolution vermissen lässt. 

In dieser Hinsicht hat Aiki Mira nicht nur ihre Hausaufgaben gemacht, sondern stellt allerdings inklusive eines nur vordergründigen Mördermysteries eine interessante These auf.  Im Grunde verläuft die Entwicklung des außerirdischen Lebens in menschlichen “Dimensionen” mit Kindern bzw. Nachkommen.  Und trotzdem gänzlich anders. Zu Beginn finden sich immer wieder einige Querverweise auf die Erde. Der Verzehr von Tieren ist generell seit Jahren verboten. Daher ist die Generierung von Fischöl als wichtige Nahrungsergänzung auf der Station umstritten. Eine Auswanderung zu anderen Planeten scheitert an den dortigen Bedingungen, auch wenn Geheimlabore oder potentielle Forschungen zu Biowaffen nicht nur auf dem Titan, sondern auch auf Mars blühen. Politisch gibt es zumindest den chinesischen Block, der sich deutlich von dem Konglomerat BionX unterscheidet, das ebenfalls private Studien betreibt.  Mehr Informationen sind auch nicht notwendig, weil Expansion der Menschheit keine wirkliche Rolle spielt. Viel eher geht es um eine evolutionäre, aber auch intellektuelle Entwicklung der Menschen nicht mal zu einer neuen Daseinsebene, sondern als Variation des Bisherigen. 

Andere Autoren nutzen bekannte Themen oder Bedrohungen wie den angesprochenen Erstkontakt oder das Überleben in einer fremdartigen Umgebung, um dann große Themen zu erzählen. Aiki Mira geht in der deutlich  souveränen zweiten  Hälfte des Buches einen gänzlich anderen Weg. 

Auf dem Titan erwartet  die Protagonisten neben wenig Freude viel Leid. Aber durch die jeweiligen Täler der Tränen entwickeln sich auch neue familiäre Strukturen, die weit über die bisherige Space- Symbiose als eine Art sozialem MacGuffin in der beschriebenen Form hinausgehen. Aiki Mira kann sich (noch) nicht von eher klassischen Familiendramen oder Beziehungskatastrophen lösen und gänzlich neue Strukturen beschreiben, Aber in ihrer Geschichte von einer neuen Heimat - am Ende des ersten Abschnitts wollen die drei umgeleiteten Astronauten länger auf dem Titan bleiben, weil Leben auf der Erde oder dem Mars schlechter ist -  und damit auch den folgenden Generationen macht sie deutlich, das sie bereit ist, einen Plot abseits der klassischen, aber auch klischeehaften Science Fiction Themen zu erzählen. Mutig wäre es vielleicht sogar gewesen, auf die Bedrohung durch die chinesischen Roboter, von einer künstlichen Intelligenz gesteuert oder den russisch klingenden und nach Hause berichtenden Weltbürger mit russischen Wurzeln zu verzichten und sich gänzlich auf die evolutionären Prozesse mit den im Titel angesprochenen Kindern des Titans zu konzentrieren. Die Protagonisten werden mit der Idee von Kindern konfrontiert. Gänzlich anders als es je ein Mensch erlebt hat. Aber auch quer zu ihren bisherigen Lebensplanungen, die vielleicht Nachwuchs auf der Erde, aber nicht auf dem Titan umfassen. Aber Aiki Mika scheut von kitschigen Szenen zurück. Es ist wie manches in diesem Buch ein gegenseitiger Lernprozess; der Beginn von etwas eher Anderem als gänzlich Neuem.     

 Der Epilog wirkt in mancher Hinsicht zu “hektisch”, zu abrupt und der Übergang zwischen den Antagonisten am Ende der Haupthandlung sowie den überlebenden Protagonisten inklusive der sie  vor zukünftiger Verfolgung  rettenden Hilfsorganisation konstruiert und unvorbereitet.   

Für einen Erstling (als Roman) will Aiki Mira viel. Vielleicht zu viel. Manches wirkt unglaubwürdig. Das beginnt bei den einzelnen Entscheidungswegen, die improvisiert bis teilweise aufgeblasen erscheinen, oder dem Umleiten der Mission gleich zu Beginn trotzdem der mehrere Jahre dauernden Reise und endet in der Tatsache, das die Autorx bei einzelnen Figuren positiv wie negativ durch die imaginäre Wand wollte, um unnötig Eindruck zu hinterlassen. Weniger und mutiger wäre hier mehr gewesen.  Auf der anderen Seite überzeugt das Buch durch seine sozialen Themen von der Space Symbiose bis zur Familienplanung. Es geht bei bekannten Aspekten des Genres um eine Verfremdung im positiven Sinne. Im Laufe des Buches gewinnt Aiki Mira auch an Stilsicherheit, spielt mit der zwischenmenschlichen Atmosphäre und geht nicht zu spät, aber relativ spät mutig andere Wege. Diese Pluspunkte heben “Titans Kinder” aus der Masse gegenwärtiger Science Fiction positiv heraus und machen das Buch zu einem vielschichtigen, aber nicht unbedingt sozial provokanten Debüt.

Aiki Mira
TITANS KINDER
Eine Space-Utopie
AndroSF 156
p.machinery, Winnert, Juni 2022, 196 Seiten, Paperback
ISBN 978 3 95765 294 2 – EUR 14,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 95765 810 4 – EUR 3,99 (DE)