Tha Magazine of Fantasy & Science Fiction May/ June 2022

Sheree Renee Thomas

Sheree Renee Thomas bricht im Frühsommer mit einer weiteren Tradition des Magazins. Der Leser findet keine Novelle in der Ausgaben. Neben zwei längeren Noveletten von etablierten Autoren tummeln sich über ein Dutzend Kurzgeschichten, teilweise nur Miniaturen in der Doppelnummer. Im Gegensatz zu Neil Clakres „Clarkesworld“, die die Internationalisierung des Magazins eher verbal vorantreibt, debütieren unter Sheree Renee Thomas nicht nur viele Autoren, sie kommen aus allen Herren Ländern und vertreten nicht selten literarisch unterentwickelte Landschaften wie die Karibik oder Afrika. Hinzu kommt die thematische Breite von einer modernen Geschichte aus „1001 Nacht“ bis zu Norman Spinrads kritischem Kommentar zur Wohnungsnot in New York. Daneben finden sich die üblichen Kolumnen von der Wissenschaft über di Fillipos sarkastische Suche nach einem neuen James Bond, den Filmkritiken oder zwei Buchkolumen, in denen die beiden Autoren das Genre von Fantasy bis Hard Science Fiction durchstreifen.

Als für den Inhalt verantwortliche Redakteurin führt Sheree Renee Thomas in dieser Ausgabe das alt ehrwürdige Magazin weiterhin in die literarische Moderne und kehrt zu den experimentellen Ausgaben eines Anthony Bouchers zurück, der vor allem auf Originalität und erzählerische Klasse, aber weniger wissenschaftlichen Fakten Wert legte.

Die zwei längeren Texte stammen aus der Feder Norman Spinrads und Albert E. Cowdreys. Beide konzentrieren sich im Grunde auf die normalen Menschen nicht unbedingt in anormalen  Zeiten, sondern besonderen Herausforderungen. Bei „The Big Many“  wird eine Familie mit unterschiedlichen Katastrophen beginnend mit einer Zwischeneiszeit über Krieg oder Suchen konfrontiert. Auch wenn der Plot gewaltig erscheint, konzentriert sich der Autor auf die einzelnen Charaktere und den Zusammenhalt der Familie. Immer ein wenig am Rande des Kitsches, aber inhaltlich überzeugend.

In „The Canopy“ von Norman Spinrad erfordert vom Leser doch einiges an Überzeugungsarbeit. Der Fahrstuhl ist ausgefallen und die Immobilienmaklerin Christine kann nach Feierabend nicht aus der Lobby des Royal Roost zu ihrer teuren Wohnung in der 59th Etage gehen. Treppensteigen möchte sie nicht- diese Prämisse muss der Leser akzeptieren, ansonsten funktioniert die Geschichte nicht. Ein Hotelzimmer kann sie sich auch nicht leisten. Auf den Gedanken, viel Geld zu sparen und in ihr Büro zurückzukehren, kommt sie nicht. Ein Polizist bietet fünf anderen Leuten und ihr an, sie über die Verbindungen  zwischen den einzelnen Hochhäusern in luftiger Höhe aufs Dach des Royal Roost zu führen, von dort muss sie nur 21 Etagen hinuntergehen. Natürlich gegen Bezahlung. Auf den Dächern der Hochhäuser leben die Obdachlosen. Hochhausbesitzer sind verpflichtet, auf den Dachflächen denen Wohnraum anzubieten. Einige bezahlen für die Nutzung der Fahrstühle, anderen ist die Fahrt verwehrt. Dadurch sind sie arbeitslos.

Der Leser muss,  wie das Titelbild der Ausgabe eindrucksvoll zeigt,  akzeptieren, dass jemand sich auf Hängebrücken zwischen den Hochhäusern quasi auf den Weg nach Hause macht,  verschiedene Kommunen auf den Dächern durchqueren muss und am Ende erkennt, dass diese Person sich gegenüber den Benachteiligten aus Arroganz falsch verhalten hat. Ohne diese Persönlichkeitsentwicklung würde die Geschichte noch absurder erscheinen. Die Story funktioniert auch nur, wenn man einzelne Fakten ignoriert. Es wäre weniger  beschwerlich, die 59 Etagen zu Fuss zu laufen.  Natürlich dauert es, aber der eingeschlagene Weg ist länger und vor allem viel teurer. Es erscheint ebenfalls unwahrscheinlich, dass ein Hochhaus mit mehr als achtzig Etagen und anscheinend einigen hundert Wohnungen nur einen Fahrstuhl hat. Meistens befinden sich zwei Fahrstuhlschächte auf jeder Seite. Außerdem ist abschließend die Wartezeit nicht nur im Verhältnis gering, Christine wird sogar informiert, das die Fahrstühle wieder  gehen. Mit einem Anruf aus der Lobby auf ihr Handy.    

Unabhängig von den konstruierten Situationen erweist sich Norman Spinrad weiterhin als ein überzeugender Erzähler mit teilweise bitterböse Ironie und einem Auge für die gesellschaftlich und sozial Ausgestoßenen, die sich mit Einschränkungen auf den Dächern wohler fühlen als die Menschen in den überteuerten Wohnungen.      

 Beeindruckender ist Fawaz Al- Matrouks Auftaktgeschichte „The Voice of a Thousand Years“ Die Handlung ist vorhersehbar. Ein alter Verkäufer, der auch Uhren repariert, hört eine Stimme. Sie kommt aus einem Instrument. David erläutert, das er vor vielen tausend Jahren auf der Erde gestrandet ist, erst als Baumgeist, später in dem Instrument. Er wünscht sich einen Körper zurück. Viel erstaunlicher ist, dass der Autor die ältere Generation als erfahrener, weiser und vor allem weniger verblendet als die Jugend in der aufgeheizten islamischen Welt darstellt. Der Stil und die geschmeidige, getragene Art der Erzählung überdeckt die vorhersehbare, aber trotzdem auch ergreifende Handlung.

Auch bei Julie Le Blancs “The Mechanic” unterwirft sich in diesem Fall die Protagonistin freiwillig einer Sisyphusarbeit.  Auf einer unwirtlichen Welt muss sie ihr Haus verlassen, in die Stadt geht, Ersatzteile kaufen, einen Überfall abschütteln und zu Hause weiterarbeiten. Stimmungsvoller, überraschender und hinsichtlich der Charakterisierung kraftvoller als Fawaz Al- Matrouks Story ergänzen sich die beiden Texte hinsichtlich der Herausforderungen, denen sich die im Grunde ihres Herzens einsamen, aber verantwortungsbewussten Menschen sich stellen. 

 Viele der kürzeren Texte basieren auf klassischen Science Fiction Ideen. In „Cold Trade“ (Aliya Whiteley) suchen interstellare Händler eine Welt mit umfangreichen Meeren auf. Sie wollen dort mit den unter Wasser lebenden Bewohnern  Handel treiben, welche das Grundkonzept des Kaufens/ Verkaufens nicht verstehen und aufgrund ihrer perfekten Umgebung auch nicht nötig haben. Die Händler versuchen auf Teufel komm raus einen Deal abzuschließen, dabei ist die Marktanalyse schon fahrig. Die Herausforderung ist zu groß und die Autorin versucht ihrem unglaubwürdigen Plot eine finale Pointe zu geben, die leider stark konstruiert erscheint.

Die originellste Prämisse und ein Beweis für die Internationalisierung des Magazins ist “Give Me English” von Ai Jiang. In ihrer Welt sind Sprachen oder besser Wörter eine Währung. Man verkauft sie. Als Fantasyelement ohne wissenschaftlichen Hintergrund fügt die Autorin hinzu, das ein verkauftes Wort nicht mehr gehört werden kann. Eine Aussiedlerin aus China versucht in den USA klarzukommen, wo die Reichen sprachgewandt und die Armen notgedrungen taubstumm sind.   

Auch wenn es keine Erklärungen gibt, überzeugt die Geschichte durch die interessante Prämisse und die in sozialer Hinsicht klassische Umsetzung, wobei es für den Leser schwer ist, den Wert des verkauften Wortes wirklich zu ermessen. 

 "Green Street: Or A Recapitulation in Reverse. A Report From the Map Cell of Turret 15, Compiled By S. R. Mandel, Chief Cartographer. Excerpted from The Knowledge Project: An A-to-Zed is that City We Adjust Know" von S.R. Mandel trägt stolz einen längeren Titel als es die Kurzgeschichte ist. Auch hier ist die Prämisse auf den ersten Blick interessant, aber nicht logisch. Eine Gruppe von Menschen geht auf einer überwachsenen Straße verloren. Der Leiter der Behörde für  Kartographie versucht nicht nur die Verschollenen zu finden, sondern auch gegen den Personalmangel ankämpfend die eigene Arbeit beenden.  Die Charaktere sind gut gezeichnet, die absurde Prämisse mit der notwendigen Ernsthaftigkeit vorgetragen und selbst die Pointe ist zufriedenstellend.  

Auch wenn grün im Titel ist, spielt “Breathless in the Green” eher unter Wasser. Es ist eine von vielen eher surrealistischen Kurzgeschichten dieser Sammlung, deren Pointe klar erkennbar ist und die eher auf Stimmungen als stringenten Plots basieren. So lebt eine Kreatur unter Wasser und lockt vor allem Kinder an, die in ihrem See/ Bassin ertrinken. Ein Mädchen möchte nicht passiv ertränkt werden, sondern eher aktiv an dem Prozess mitwirken, was die Kreatur verwirrt.  Bei  "Ninety-Five Percent of the Ocean" ( Jennifer Hudak) geht es um ein Mädchen, das quasi ihr Spiegelbild auf der anderen Seite des Ozeans sieht. Beide fühlen sich nicht vollständig und müssen quasi miteinander verschmelzen. James Enges beschreibt in “The Hunger” die Flucht eines jungen Mädchens aus einer vertrauten Umgebung. In einem Skelettwald begegnet sie nicht nur einem Fremden, sondern muss erkennen, das die Untoten ganz andere Bedürfnisse haben als sie glaubte.   "L'enfant Terrible" von Mark H. Huston beschreibt eine kleine Kreatur, die von einem Zauberer gefangen gehalten wird. Je mehr der Leser im Gegensatz zu Mark Hustons Protagonisten über den Hintergrund erfährt, desto eher kann die Gefahr eingeschätzt werden. Selbst im chinesischen Beitrag von P.H. Lee "An Ill-Fated Girl Happens to Meet an Ill-Fated Man" geht es um die Liebe zwischen einem Jungen und einem Mädchen. Sie lernen sich kennen, sie verlieren sich und der Himmel beginnt in dieser romantischen, aber auch kitschigen Fantasy zu Weinen. 

Alle Texte sind gut geschrieben. Auf den ersten Blick fühlt sich der Leser vom Geschehen auch angesprochen. Aber hintergründig arbeiten die Autoren zu wenig an den Pointen, vieles ist zu leicht erkennbar oder macht streng logisch betrachtet keinen Sinn. Diese Schwäche oder vielleicht auch Stärke - wenn man alles nur als unerklärliche Fantasy betrachtet - zieht sich wie ein roter Faden durch Sheree Renee Thomas’ Ära als verantwortliche Chefredakteurin. Je kürzer die Texte, je mehr die Autoren direkt auf eine nicht immer zufriedenstellende Pointe zusteuern, um so deutlich wird dieses Manko unabhängig von der technischen Souveränität - Sprache, Stil.    

Humor kommt aber auch nicht zu kurz. In “Modern Cassandra” von Julia August erhält ein Mädchen zwar direkte Vorhersagen von Apollo, aber die E- Mail Verteilung findet bei den Betroffenen nicht die notwendige Akzeptanz. In John Wiswells “The True Meaning of Father´s Day” geht es um das Treffen von unterschiedlichen Generationen von Vätern in einem Restaurant. Neben den typischen verbalen Hochstapeleien der Väter offenbart einer der Teilnehmer den Hintergrund dieses Treffens. Während Julia August ihre Farce bis zum Exzess treibt, offenbart John Wiswell nach den abgedreht lustigen Passagen zu Beginn seiner Geschichte einen ernsthaften Kern. Pointierte Dialoge und stringente Handlungsführung zeichnen zusätzlich die beiden lesenswerten Geschichten aus. 

Bei einigen der Kurzgeschichten wird die bisher vielleicht nicht perfekte, aber geordnete Welt der Protagonisten auseinandergerissen.  "Nightmares Come From Stolen Dreams" von Taemumu Richardson spielt in einer eher ambivalent gezeichneten Zukunft, in welcher ein Schlangenbändiger zusammen mit seiner vielköpfigen Schlage Träume von Kunden erfüllt. Auch in Vonda McInytres Novelle und später Roman “Traumschlange” hatte eines der Tiere an der Seite der Heilerin diese Fähigkeit. Als eine Firma zur Gewinnmaximierung versucht, die Traumdroge synthetisch herzustellen, wird aus einer kleinen Idylle, erschaffen für wenig Geld, natürlich der im Titel angesprochen Alptraum. 

Jae Steinbachers “The Angel´s Call” konzentriert sich ebenfalls auf eine von Fantasy Elementen durchsetzte Zukunft, in welcher von Außerirdischen erschaffene Engel über die Welt wandeln. Dazu wurden Menschen als Muster genommen. Ein Mädchen, das sich freiwillig gemeldet hat, versucht auf der einen Seite ihre Ängste vor und nach der Verwandlung in den Griff zu bekommen, auf der anderen Seite will sie ihren Freund vor den Fängen eines Kults retten. 

“Mother, Mother” trägt vielleicht die meisten Fantasy Elemente in sich. Es ist der Konflikt zwischen einer Mutter und ihrem Kind, wobei die Mutter gleichzeitig auch eine Naturgöttin ist, die eigentlich nicht nur für ihr Kind, sondern für alle Kreaturen da sein müsste. 

Alle drei Geschichten zeichnen sich durch nicht nur gute Prämissen aus. Sie konzentrieren sich auf die entsprechenden Protagonisten, beschreiben nicht nur deren Handlungen, sondern geben ihren Alternativen. Keine leichten Wege, die zu beschreiten sind, aber der Leser hat das Gefühl, auf Augenhöhe den jeweiligen teilweise erzwungenen Entscheidungsprozess nachvollziehen zu können, an deren Ende nicht immer ein entsprechendes Happy End steht. 

Drei teilweise moderne Gedichte runden diesen wirklich bunten und vielfältigen Reigen von literarischen Texten ab. Wie eingangs erwähnt entwickelt sich “The Magazine of Fantasy & Science Fiction” buchstäblich rasant weiter. Die Internationalisierung ist angesichts der durchgehenden Qualität der Texte überzeugend, die Übersetzungen deutlich besser als in “Clarkesworld”. Allerdings agiert die Chefredakteurin teilweise in den von ihr aufgestellten Bedingungen des “New Weird” über die jeweils ganze Ausgabe schauend zu experimentell, teilweise auch zu provokativ und könnte Jahrzehnte lange Stammleser vielleicht auch ein wenig verschrecken. Die Balance zwischen Kontinuität und Innovation stimmt noch nicht ganz, aber eine Handvoll sehr origineller Beiträge machen auch die “May/ June” 2022 Ausgabe zu einer herausfordernden, aber auch befriedigenden Lektüre.    



The Magazine of Fantasy and Science Fiction, May/Jun 2022 cover - click to view full size

Magazin, Din A 5

256 Seiten

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