Der Weg nach Frankreich

Jules Verne

Bis Mitte 2012 war der 1887 von Jules Verne veröffentlichte Roman „Chemin de France“ die einzige Ausgabe der „Voyages Extraordinaries“, der nicht ins Deutsche übersetzt worden ist. Der Jules Verne Club griff das Vorhaben auf und ließ den Roman von Gudrin Hermle übersetzen. Die Clubmitglieder erhielten eine optisch an die Hartleben Ausgaben angelehnte Fassung des Romans. Sven Roger Schulz integrierte diese Fassung in die Reihe seines Verlages Dornbrunnen. Er publizierte eine Taschenbuchausgabe mit alle Illustrationen der französischen Ausgabe. Wie bei einigen anderen Jules Verne Publikationen des Dortmundr Verlages ist die Geschichte mit einem kurzen Nachwort, der Karte des Wegs nach Frankreich und schließlich auch umfangreichen Fußnoten versehen, in denen einige Begriffe Jules Vernes genauso erläutert werden, wie geographische Schwächen der französischen Erstausgabe, die für den vorliegenden Text korrigiert worden sind.

 

„Der Weg nach Frankreich“ ist ein historischer Abenteuerroman, der vor allem im 19. Jahrhundert auf beiden Seiten der Grenze so populär gewesen ist. Wie viele der außergewöhnlichen Reisen enthält das Buch keine technischen Innovationen, sondern beschreibt die Herausforderungen, welche die Protagonisten auf ihren geplanten oder nicht selten ungeplanten Reisen erwarten. Im Mittelpunkt steht der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland am Vorabend der französischen Revolution. Geschichtliche bzw. historische Daten hat Jules Verne bis zur Belehrung in die Geschichte integriert.

 

Es lässt sich nur spekulieren, warum dieser Band bis ins 21 Jahrhundert nicht ins Deutsche übersetzt worden ist.  Kriege sind immer aus der eigenen Perspektive populärer denn aus der Sicht des Gegners. Dieses ungeschriebene Gesetz galt bis Clint Eastwood Doppelfilm, der eine der grausamsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs aus Sicht der Amerikaner, aber auch der Japaner beschrieb. Beide Filme kamen fast zeitgleich in die Kinos, die Einahmen sprachen Bände. Die amerikanische Sichtweise stellte an den US Kinokassen die japanische Version deutlich in den Schatten. Der Blickwinkel auf den Krieg könnte einer der Gründe sein. Viele Experten sprechen auch von einer Deutschfeindlichkeit im Werke Jules Vernes. Es gibt auch einige andere Romane, in denen sich der Franzose kritisch mit den Deutschen auseinandergesetzt hat. Diese Roman wurden übersetzt und waren auch in Deutschland Erfolge. Der Unterschied zwischen Geschichten wie „Robur, der Eroberer“ und/ oder „Die 500 Millionen der Begun“ liegt aber in der Ausgangsbasis. Die Grundlage dieser Geschichten ist kein Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich, sondern phantastischere Ideen. Hier steht der Krieg und die Auswirkungen auf eine Handvoll Franzosen im Mittelpunkt der Geschichte, die aus Preußen ausgewiesen werden und 20 Tage Zeit haben, um in die französische Heimat zu kommen, deren innere Grenze durch die einmarschierenden preußischen und österreichischen Truppen auch in Bewegung sind. Das macht die Flucht selbst nach Überschreiten der Grenze doppelt schwierig.

 

Als Roman wirkt „Der Weg nach Frankreich“  eher wie eine Geschichtsstunde denn ein klassischer Jules Vernes Roman. Der Ich- Erzähler hat den Text als älterer Mann nach dem Ende seiner Militärzeit niedergeschrieben. Als die Geschichte spielt, konnte er gerade rudimentär lesen und schreiben. Lange Zeit hat sich nicht die Notwendigkeit ergeben, bzw. der frühe Tod seiner beiden Eltern hat den Ich- Erzähler und die beiden Schwestern buchstäblich im Regen stehen lassen. An Schule und Bildung war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu denken. Die Geschichte beginnt sehr gemächlich. Ausführlich stellt sich der Erzähler vor, macht deutlich, dass er etwas Anderer als immer nur die Kriegsgeschichten zum Besten geben will, die er ansonsten bei Brot, Käse und Wein in der örtlichen Kneipe von sich gibt. An einer anderen Stelle lässt Jules Verne seinen Protagonisten sogar mit dem Leser sprechen und diesem deutlich sagen, dass zumindest der Verfasser dieser Zeilen die Geschichte trotz aller Wirrungen und Irrungen überleben muss. Das unterminiert die Spannung, aber lässt sich nicht ändern. Es ist eine erstaunliche Anmerkung, die zu einem Zeitpunkt der Handlung eingebaut ist, als der Plot wirklich ins Rollen gekommen und neben der erzwungenen Rückreise nach Frankreich auch eine persönliche Konfrontation zwischen einem arroganten deutschen Offizier und einem Mitglieder der kleinen Gruppe mehr und mehr dominiert. In diesem Konflikt steht eine Frau im Mittelpunkt, die sehnsüchtig drauf wartet, endlich ihren Geliebten heiraten zu können. Der aufdämmernde Krieg hat die Pläne in letzter Sekunde durchkreuzt.

 

Bis zum Ausbruch Krieges entwickelt Jules Verne ein interessantes Szenario. Der Rittmeister in der französischen Armee nimmt zwei Monate Urlaub, um seine Schwester im fiktiven, aber aufgrund der Beschreibungen auch klar zu erkennenden Belzingen zu besuchen. Das liegt vor den Toren Potsdams. Hier arbeitet seine Schwester für eine Französin, die einen Deutschen geheiratet hat. Franzosen und Deutsche leben in diesem kleinen Ort grundsätzlich friedlich nebeneinander und profitieren von gemeinsamen Geschäftsbeziehungen. Allerdings macht Jules Verne deutlich, dass man vor allem der deutschen Justiz nicht trauen darf, die verdiente Provisionen nicht dem rechtmäßigen, französischen Kaufmann zugestehen will. Wie bei Jules Verne üblich nimmt der Autor diesen Faden gegen Ende der Geschichte noch einmal auf und macht aus der juristischen Niederlage einen viel wichtigeren Sieg fürs Leben. Es sind diese auf den ersten Blick in der präsentierten Theatralik unwahrscheinlichen Wendungen, welche Jules Verne lebendig beschriebene Geschichten auch heute noch lesenswert und einzigartig in ihrer jeweiligen Konstellation machen.

 

Der Krieg zwischen Österreich/ Preußen und Frankreich droht auszubrechen. Der Ich- Erzähler wird von den örtlichen Behörden – alles feige, schleimige Kriecher – schon vorher verdächtigt, tief im potentiellen Feindesland zu spionieren. Die Franzosen haben nur 20 Tage Zeit, Preußen zu verlassen und nach Frankreich zurückzukehren. Auf welche Art und Weise, mit welchen monetären Mitteln bleibt ihnen überlassen. Während ein Mitglied der kleinen französischen Gemeinde zum deutschen Militärdienst eingezogen wird, macht sich der Ich- Erzähler mit den ihn anvertrauten Menschen auf den Weg nach Frankreich.

 

Lange Zeit beschränkt sich Jules Verne in diesem routiniert gestalteten Abenteuerroman auf die klassischen Beschwerlichkeiten der Reise. Nachts drohen Räuber, die Straßen könnten unpassierbar sein und ein Gewitter erschreckt die Pferde am Gespann. Dazwischen werden die zurückreisenden Franzosen von den deutschen Behörden skeptisch trotz ihrer Passierscheine angesehen und müssen fast immer den dreifachen Preis löhnen. Söldnertruppen müssen sie ausweichen.

 

Am Ende gibt es teilweise ein Happy End. „Der Weg nach Frankreich“ ist kein untypischer Jules Verne. Zu oft hat der Franzose derartige Themen in seinen Geschichten aufgegriffen. Da wäre zum Einen der zeitliche Druck. „In 80 Tagen um die Welt“ und „Der Kurier des Zaren“ sind in dieser Hinsicht markante Beispiele. Jules Verne impliziert, dass nach Ablauf der Pässe eine Überquerung der französischen Grenze von deutscher Seite nicht mehr möglich ist. Allerdings arbeitet der Autor dieses Szenario auch nicht abschließend heraus. Zu Beginn haben die Reisenden sehr viel Zeit und könnten bei einem normalen Reiseverlauf nach zwölf oder dreizehn Tagen die Grenze überschreiten. Gegen Ende der Geschichte geht es nur noch um Stunden, wobei – wie schon angedeutet – die Invasion Frankreichs nicht unbedingt die Grenzen, aber die Einflusssphären deutlich zu Ungunsten der kleinen Gruppe verschoben hat.

Neben dieser Familiengeschichte integriert Jules Verne historische Themen. „Familie ohne Namen“, „Mathias Sandorf“ oder Einschränkungen auch „Die geheimnisvolle Insel“ mit der anfänglichen waghalsigen Flucht seien hier stellvertretend genannt. Vielleicht wirken die vor allem auch militärischen Beschreibungen innerhalb der französischen Armee und die ein wenig naive Sicht des Rittmeisters auf die sich in Frankreich entwickelnde Revolution als Ganzes betrachtend belehrend und die Handlung des Romans erdrückend, aber die ziehen vor allem aus heutiger Sicht den Leser zurück in das 18. Jahrhundert. Jules Verne hat seinen Roman ja auch knapp einhundert Jahre nach den Ereignissen geschrieben. Der Rahmen spielt ungefähr vierzig Jahre nach der erzwungenen Reise nach Frankreich.

 

Alleine die bisherige Seltenheit dieser soliden, ein wenig konstruierten und sehr patriotischen Geschichte lohnt die Anschaffung der liebevoll gestalteten und preislich absolut akzeptablen Ausgabe des Verlages Dornbrunnen. Es gibt hinsichtlich der Qualität keinen Grund, warum „Der Weg nach Frankreich“ nicht gleich ins Deutsche übersetzt worden ist. Am wahrscheinlichsten sind kommerzielle Gründe. Eine aus französischer Sicht geschriebene Geschichte, im Deutsch- französischen Krieg von 1792 spielend, verkauft sich eben schlechter als die klassischen Abenteuerstoffe Jules Verne. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Zeit den Roman vergessen. Es war billiger, bekannte Stoffe nachzudrucken. Die wenigen Versuche von Verlagen wie Piper mit bislang unbekannten Stoffen Jules Verne waren kein kommerzieller Erfolg beschiede, so dass sich eine Übersetzung nicht lohnte. Erst die auch druck- und vertriebstechnischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts haben in doppelter Hinsicht nicht nur die Wiederentdeckung dieser Geschichte, sondern generell unbekannter Stoffe durch verschiedene Book-on-Demand Verfahren ermöglicht. „Der Weg nach Frankreich“ ist nicht die einzige empfehlenswerte Jules Verne Erscheinung im Verlag Dornbrunnen, aber durch das Schließen der Lücke in den „Voyage Extraordinaires“ vielleicht die Wichtigste.



Der Weg nach Frankreich (Taschenschmöker aus Vergangenheit und Gegenwart)

  • Herausgeber ‏ : ‎ Verlag Dornbrunnen; Neuauflage 2018 (22. Januar 2018)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 197 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3943275299
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3943275292
  • Originaltitel ‏ : ‎ Le Chemin de France
  • Abmessungen ‏ : ‎ 12 x 1.5 x 19 cm
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