Projekt Pluto

Lucy Kissick

„Projekt Pluto“ – im Original nach dem eigentlichen Projekt „Plutoshine“ benannt – ist der Debütroman der Britin Lucy Kissick. Das Buch ist für den Arthur C. Clarke Award als bester britischer Roman nominiert worden. Terraforming liegt der jungen Britin in mehrfacher Hinsicht am Herzen und stellt auch die stärkste Seite dieses stringenten, allerdings auch stellenweise schematisch aufgebauten Buches dar. Sie arbeitet inzwischen als Chemikerin in einem auf Treibstoffe spezialisierten Labor im englischen Lake District. Vorher war sie Geochemist an der Oxford Universität mit dem Schwerpunkt Wasser auf dem Mars. Sie hat die wechselseitige Beeinflussung von großen Wasserflächen auf dem Mars hinsichtlich des damaligen Klimas und andersherum analysiert. Auch bei ihren Hobbies stellt Wasser eine Besonderheit dar.

Historisch ist es einer der wenigen Romane, die eine Besiedelung von Pluto in Angriff nehmen. In der langen Geschichte unseres Sonnensystems in Kombination mit Science Fiction Geschichten haben sich die Menschen auf fast allen Planeten und zahlreichen Monden mit Kolonien und nicht nur Stützpunkten niedergelassen, aber eine Kolonisierung des Plutos – weil der Planet eben da ist und die interstellare Raumfahrt trotz der technischen Möglichkeiten verteufelt wird – ist neu.

Eine zeitliche Einordnung des Romans ist schwierig, weil Lucy Kissick sowohl mit wissenschaftlich- technischen Fortschritt als auch biologischen Entwicklungen teilweise für eine Wissenschaftlerin erstaunlich fahrlässig umgeht. Der Leser muss glauben, dass die Menschen schon Terraforming Projekte auf dem Mars und dem Merkur durchgeführt haben. Auf den Monden des Saturn wurden rudimentäre Spuren von Leben gefunden, so dass eine Besiedelung dieser Himmelskörper nicht in Frage gekommen ist. Ungefähr zweihundert Jahre in der Zukunft spielend hat sich eine kleine Gruppe von Menschen in der zweiten Generation auf Pluto unter der Führung eines charismatischen Wissenschaftlers niedergelassen und wollen eigentlich ihr Leben unter den Kuppeln in relativer Dunkelheit führen. Clavius Harbour ist dieser Ellen Musk der Zukunft, der – wie schon angesprochen – über eine zweite Firma auch die Möglichkeiten interstellarer Raumflüge entwickelt, das Projekt aber fallengelassen hat. Auf Details geht die Autorin nicht mehr ein. 

Lucian Merriweather ist der Außenseiter. Er hat schon mehrere Terraforming Projekte auf dem Merkur und dem Mars initiiert. Aufgrund der langen Jahrhunderte umfassenden Planungen kann er keine der Projekte abgeschlossen haben, die Veränderungen auf den Planetenoberflächen mittels entsprechender Sonneneinstrahlung über Lichtreflektionen können gerade erst angefangen haben. Dabei muss in der Praxis unterschieden werden, das es technisch ein gewaltiger Unterschied ist, auf bzw. über dem Merkur zu arbeiten oder sich den Pluto als Ziel anzusehen. Der Merkur hat quasi zu viel Sonne, Pluto braucht im übertragenen Sinne eine Erleuchtung. Merriweathers Ziel ist es, einen gigantischen Spiegel über der Kolonie auf dem Pluto zu errichten, der das Sonnenlicht auf die Oberfläche ableitet, um durch eine Fokussierung so eine akzeptable Umgebung im ewigen Eis zu schaffen.

Auf Pluto trifft Lucian Merriweather nicht nur auf Zustimmung. Clavius Harbour sieht sich in seiner Autorität eingeschränkt. Seine Kinder Edmund und vor allem die zehn Jahre alte Nou haben etwas zu verbergen. Nou ist seit einer Begegnung außerhalb der Basis verstummt. Anscheinend ist es auf der  Suche nach Lebensformen zu einem Unfall gekommen. Niemand will darüber sprechen.

Kaum beginnen die ersten Arbeiten, scheint jemand das Projekt sabotieren zu wollen. Dieser setzt auch Menschenleben aufs Spiel, während Lucian Merriweather eine Verständigung Basis zu der stummen Nou sucht.

Für eine Wissenschaftlerin als Autorin ist „Projekt Pluto“ ein ausgesprochen ambivalentes Lesevergnügen, das im Gegensatz zu den utopisch-technischen Romanen eines Arthur c. Clarkes mehr auf der Charakterseite als der Science Fiction/ wissenschaftlichen Seite funktioniert.  

Lucian ist ein Ingenieur, dem die Mission zu Beginn über den Kopf zu wachsen scheint. Er ist von sich überzeugt, meint sicher, den richtigen Weg gehen zu wollen. Dabei stellt er besonders auf Pluto die bisherigen Lebensbedingungen nach einem erfolgreichen Abschluss des Terraforming Projekts weit nach seiner Lebensdauer auf den Kopf. Aber er will die ersten Schritte gehen, wobei es erstaunlich ist, wie „schnell“ die Menschheit die Technik so weit nach draußen befördern konnte. Aber Lucian reagiert auf die Herausforderungen vielleicht ein wenig zu schnell, zu inhaltlich pragmatisch. Die Sabotage Möglichkeit bringt ihn nicht aus dem Tritt. Mit der jungen Nou beginnt er, sich mittels der Gebärdensprache zu verständigen, die er aufgrund eines schweren Unfalls seiner Schwester erlernt hat. Im Biotop findet er die attraktive Biologin anregend, auch wenn er auf der emotionalen Ebene eine Niederlage einstecken muss. Mit den Bewohnern der Basis kommt er gut klar, auch wenn sie in ihm auch einen Störenfried sehen. Auf jeden Herausforderung hat er irgendwie eine Antwort. Die Autorin macht aus Lucian keinen Superhelden, aber vieles geht in diesem konstruiert wirkenden Thriller auch zu glatt.

Nou ist ein vielschichtiger Charakter. Sie leidet nicht nur unter den Folgen des Unfalls und einer möglichen Begegnung mit fremden Lebewesen außerhalb der Basis. Wie ihr Bruder kann sie es schwer bis unmöglich dem dominanten Vater recht machen, der seine Kinder psychologisch unter Druck setzt, um die emotionale Leere in sich selbst zu füllen. Seine Frau hat ihn verlassen und mit den Kindern zurückgelassen.

Clavius Harbour ist der dominante Manipulator, der in doppelter Hinsicht einen Plan an. Plutoshine ist ihm als Projekt ein Dorn im Auge, aber er hat verschiedene Mittel, um zumindest in der Theorie mitzuspielen und doch das Terraforming abzulehnen. Erst gegen Ende klärt die Autorin die Leser über die verschiedenen Zusammenhänge auf. Der Saboteur wird entlarvt. Auf der einen Seite ist es eine Überraschung, eine bislang unscheinbare Nebenfigur. Auf der anderen Seite ist es natürlich nicht alles und wie in einem guten Krimi muss man sich nicht immer auf die Idee eines Einzeltäters verlassen, wobei Clavius Harbour zusätzlich einzelne Methoden einsetzt, um mehr als die eigenen Spuren zu verwischen. Zu Beginn und gegen Ende der Geschichte zieht die Autorin das Tempo ordentlich an und konzentriert sich auf den doppelten Konflikt mit dem Terraforming sowie eine möglichen First Contact Begegnung. Manches muss Lucy Kissick während des Finals nacharbeiten, aber generell gelingt es ihr sehr gut, die verschiedenen Aspekte und vor allem auch die unterschiedlichen Perspektiven im Rahmen einer verbalen Erkenntnis Runde abseits der Action Handlung aufzuarbeiten. Die Motive und Vorgehensweise werden klarer. Der Leser kann mit Einschränkungen die Handlungen einzelner Plutobewohner, aber nicht deren Mittel verstehen. Das ist die emotionale Stärke dieses Buches, das sich aber hinsichtlich der Coming-of-Age Geschichte Nous und Lucians Bemühungen, ihr die Stimme zurückzugeben, immer ein wenig am Rande des Klischees bewegt und stellenweise im mittleren Abschnitt erstaunlich stereotyp erscheint.

Der Widerspruch zwischen bewohnten Planeten des Sonnensystems -  keine der Welten scheint länger als 50 Jahre bewohnt zu sein- und den parallel laufenden Terraforming Prozessen mit den Risiken für die Bevölkerung wird allerdings nicht aufgeklärt. Der Pluto hat eine Schwerkraft, die vielleicht 1/7 der Erde beträgt.        

Die Kinder – Nou ist auf dem Pluto geboren worden – weisen keine körperlichen Veränderungen auf, die Menschen können ohne künstliche Schwerkraft sich in der Station bewegen und selbst Lucian hat keine körperlichen Probleme.  Medizinisch zeigen sich keine Fortschritte. Das Leben auf dem Pluto wirkt in vielen Abschnitten wie das potentielle Leben auf einer Mondbasis mit luftleerem Raum um die Station, aber ansonsten keine Probleme. Auch benehmen sich die Menschen eher wie Bewohner der Erde, welche anscheinend durch ökologische Katastrophen für die Menschen immer unbewohnbarer geworden ist.

Da hilft auch nicht, dass die Autorin politisch- soziale- ökonomische Ideen der Gegenwart in die Zukunft übertragen hat. Zwar geht es nicht um Reichtum gegen Ökologie, aber eigene Interessen werden gegenüber wichtigen Entdeckungen hervorgehoben und mögliche Spuren verwischt. Insbesondere das Geheimnis, das die Menschheit erschüttern könnte, entpuppt sich für Science Fiction Leser weniger als Überraschung, sondern als „Normalität“. Zu viele Autoren beginnend mit Arthur C. Clarke über zum Beispiel Hubert Horstmann aus der ehemaligen DDR bis zu Cixin Liu haben sich mit dieser Prämisse deutlich besser befasst als es  Lucy Kissick gelingt.

Es ist vielleicht das richtige Buch für Science Fiction Gelegenheitsleser, die von der zugrundeliegenden verrückten Idee eines Terraforming des Plutos als Himmelskörper näher an der Unendlichkeit zwischen den Sonnensystemen als innerhalb angesprochen werden. Die Ausgangsprämisse ist auch ausreichend verrückt und bizarr. Sie erweckt schnell die Aufmerksamkeit der Leser, aber die Autorin kommt in vielen Punkten über die Theorien nicht hinaus. Angesichts ihres Hintergrunds verfängt sie sich stellenweise in zu langwierigen Erläuterungen, bei denen Nou die Ohren für die Leser hinhalten muss.  Hier wäre auf der theoretischen Seite weniger mehr gewesen, während auf der emotional zwischenmenschlichen Seite das kompakte Buch erstaunlich gut mit einigen Klischees Passagen funktioniert und über zahlreiche genretechnisch bekannte Mechanismen während des Handlungsverlauf hinweg tröstet.

„Projekt Pluto“ ist eine solide Lektüre, vielleicht sogar ein mit Abstrichen gelungenes Debüt, das aber in vielen Punkten leider auch in den eigenen, zu tief gegrabenen Startlöchern hängen bleibt und rückblickend zu wenig aus den beiden Potentialen – Terraforming und First Contact – macht, um Stammleser des Genres nachhaltig zu beeindrucken.    

    

   



Projekt Pluto: Roman

  • Herausgeber ‏ : ‎ Heyne Verlag; Deutsche Erstausgabe Edition (12. Juli 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 544 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3453322592
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3453322592
  • Originaltitel ‏ : ‎ Plutoshine