Beiträge zur Geschichte und Bibliographie der utopischen und phantastischen Literatur

Jakob Bleymehl

Mit dem Nachdruck von Jacob Bleymehls  1965 ursprünglich im Spiritusumdruck entstandenem sekundärliterarischen Werk legt Dieter von Reeken nicht nur eine seltene Sammlerausgabe einem hoffentlich breiteren Publikum vor, er öffnet eine weitere Tür für an der Phantastik vor 1900 interessierte Leser. In seinem Vorwort schreibt Bleymehl, das es ihm weniger um die Vollständigkeit nach 1900 geht, sondern einen breiten textlichen Überblick über die relevanten Themen von Utopie und Dystopie zu geben und im Anhang umfangreich die wichtigsten Fakten der veröffentlichten Werke sowohl chronologisch immerhin vom Jahre 800 vor Christus bis 1948  als auch alphabetisch aufzulisten.  Sowohl Herausgeber Dieter von Reeken als auch mit Professor Bleymehl dessen Sohn gehen auf die Bedeutung des Sammlers utopisch phantastischer Literatur ein. Dabei gibt Professor Bleymehl auch einen Einblick in das private Leben des Bäckermeisters wider Willen und dessen aufgrund einer schweren Krankheit in Jugendjahren lebenslangen Affinität zur Literatur im Allgemeinen und dem phantastischen Genre im Besonderen. In den sechziger Jahren gab Jakob Bleymehl in seiner „Sammlung Antares“ – alle „Bände“ sind im Anhang aufgelistet – insbesondere dreißig Neuausgaben von utopisch- phantastischen Romanen und eigenhändig zusammengestellten Erzählungen heraus. Als Band 18 erschien der jetzt nachgedruckte Sekundärband.

Das Herzstück ist Bleymehls Übersicht über die wichtigsten Trend der phantastischen Literatur bis ins frühe 21. Jahrhundert, die mit leicht ironischem Unterton aber ausgesprochen vorausschauend viele relevante Punkte zusammenfasst, die wichtigsten eingetroffenen Entwicklungen extrapoliert, auf eingetroffene Erfindungen hinweist und mit einigen Fazits verblüfft.  So beginnen fast alle Kapitel mit den alten Griechen und insbesondere bei den politisch gesellschaftlichen Schriften geht es um die Enteignung des Privateigentums und die Förderung des  Gemeinschaftswesens bis hin zu Gruppenessen. Die Dystopie geht noch einen Schritt weiter. Dem Menschen wird nicht nur Hab und Gut genommen, auch die gedankliche Freiheit wird komplett eingeschränkt.   

Das „Morgendämmern“ sind die ersten mehr oder weniger politischen Texte, in denen idealisierte Gesellschaften entworfen worden sind, deren Wurzeln aus der Obrigkeit heraus ein perfektionierter Sozialismus in Reinkultur sein soll. In einem der späteren Abschnitt zeigt Bleymehl auf, dass zwischen Theorie – ein phantastisches Werk – und Wirklichkeit – eine kleine Gruppe von Menschen mit dem Autoren siedelt sich in der paradiesischen Einsamkeit an – immer noch der Egoismus des Menschen steht, der die interessanteren Utopien unterminiert, während aus Bleymehls Sicht die Dystopien nicht nur dunkel, sondern erzähltechnisch eher zu belehrend und langweilig sind.

Dabei dominiert immer noch die Reise in ferne Gefilde, wo das Ideal gefunden wird. In einem späteren, aus Sicht des Autoren akzeptablen, aber gegen die Meinung der Literaturkritik verstoßenden Abschnitt wird er auch die Robinsonaden als Utopien sehen. Bildet nicht Robinson Crusoe eine Art "Alleinstaat" mit einer perfekten Gewaltenteilung? In den fernen Ländern findet selbst Plato eine Utopie, wobei er in Griechenland - modernes Gedankengut - die ungerechte Verteilung der Güter als Laster allen Übels ansieht. Während der Zugang zu allen Gütern unbeschränkt, gleichberechtigt und frei sein soll, darf das Demokratieverständnis dem perfektionierten theoretischen Kommunismus entgegenstehen. Nicht jeder soll regieren, die Elite soll an die Macht kommen, um dann eine Gleichbehandlung aller Menschen anzustreben. Diese in sich widersprüchlichen Gedankenmodelle durchziehen - wie Bleymehl auch süffisant anmerkt - viele Utopien. Dabei variieren die Arbeitstage, das Heiratsfähige Alter oder schließlich auch die Bildung, aber die Grundprinzipien wirken in diesen Zusammenfassungen wie der Versuch, vor dem Mantel einer perfekten Demokratie andere Regeln durchzusetzen, für die es keine nachhaltigen Argumente gibt. Alleine eine Utopie sieht vor, dass Menschen zehn Jahre verheiratet bleiben müssen, das eine Wiederheirat nur mit Geschiedenen vollzogen werden kann und vor allem das der nächste Ehepartner nicht jünger als der bisherige Ehepartner sein darf. Kein Lolitakomplex im Paradies. Der nächste Abschnitt "Gottesstaat und Tausendjähriges Reich" - viele Kapitel laufen inhaltlich in der Gegenwart des 20. Jahrhunderts aus, wobei Bleymehls in diesen Fällen nur einzelne Hinweise gibt - setzt sich mit der Religiosität als Droge fürs Volk, aber auch politische Macht auseinander. Dabei werden einige Bücher im Grunde zu kurz vorgestellt und laden den Leser ein, selbst auf die Suche zu gehen. Bezeichnend sind auch Bleymehls Kommentare zum Dritten Reich, das er selbst durchlebt hat. Neben der politischen Zensur konzentriert er sich in seinen Beiträgen auf die Satiren, welche weniger die Regierung, sondern die gesellschaftliche Veränderung mehr oder minder scharf aufs Korn nehmen. Die "Utopien" beginnen nicht bei Thomas Moore, sondern deutlich früher und fließen quasi in den nächsten Abschnitt mit den "Eutopia" - kein erfundener, sondern nur selten verwandter Begriff basierend auf einer Schrift aus dem Jahr 1711 - ein. Auch hier geht es weniger um die gesellschaftlichen Entwicklungen, welche in den Schriften diskutiert werden, sondern in einer Art literarischen Zeitraffer werden wichtige Aspekte aufgelistet, in einigen Fällen auch diskutiert. Diese Reise endet bei den Dystopien. In diesem Kapitel wird der Leser mit "Wir", "1984" oder "Schöne neue Welt" vielleicht die meisten Werke finden, die ihm vertraut erscheinen. Bleymehl will nicht in die Details gehen und bis auf die warnenden Hinweise wirkt das Kapitel vielleicht zu sachlich, aber auch angesichts der Flut von interessanten Veröffentlichungen zu einseitig europäisch. Auf der anderen Seite hat der Autor einen sehr pragmatischen Ansatz, wenn er davon spricht, dass die Utopisten und Eutopisten im Grunde neutral sind, da sie die Gegenwart kritisieren, während die Dystopisten alles abgeschafft haben möchten.

Zu den Abschnitten, in denen der Leser von Bleymehls literarischer Erfahrung am meisten profitiert, gehört ohne Frage "Laputa und Balnibarbi", in denen er von Jonathan Swifts Werk hinausgehend dessen einzigartige Weltsicht analysiert, verschiedene Variationen vorstellt und vor allem mit dem kitschigen Bild eines Kinderbuches aufhört. Das der dritte Abschnitt selten gelesen worden ist, wird von ihm genauso bestätigt wie Swift abschätziges Bild des Menschen. Folgt man Bleymehls Theorie, dürfte es aber keine Utopien geben, da immer der Mensch sein schlimmster Feind ist.

Mit "Ikaros, Dädalos und Kapitän Nemo" beginnt ein neuer Abschnitt seiner Reise durch die Literatur. Der Mensch entwickelt sich vom Intellektuellen teilweise im Elfenbeinturm zu einem Pragmatiker, der mit der Erfindung technischen Werkzeuges zumindest seine Umgebung zu erobern sucht, ohne das davon ein intellektueller Reifeprozess beeinflusst sein könnte. Dabei unterscheidet der Autor zwischen technischen Voraussagungen und eingesetzten Erfindungen. Der Kreis wird sich aber sowohl hinsichtlich seines Vorworts als auch der Auflistung utopischer Werke schließen, da Bleymehl sowohl Jules Verne als auch Hans Dominik als zu zugänglich für seine Studie sieht und deswegen das Kapitel schnell abhandelt. Der rote Faden wird später in "zukünftiges Zeitreisen" als auch dem "homo superior" als ausschließlich Ausdruck des 20. Jahrhundert wieder aufgenommen. In "Ad Astra" findet sich ein Verweis auf Kurd Laßwitz, Carl Grunert oder Albert Daiber mit seinen Reisen zu Mars dagegen finden nicht statt.

Der aufmerksame Leser merkt aber, dass sich Jakob Bleymehl in der Vergangenheit wohler fühlt als in der utopischen Literatur des 20. Jahrhunderts, von der er augenscheinlich vor allem van Vogt mit seinen außerordentlichen Ideen schätzt. Zwischen den zuvor angesprochenen  liegen mit "Muspilli, Ragnaröl" die Weltuntergangsgeschichten - hier fehlt auch der Hinweis auf Shelleys "The Last Man" - sowie den "was wäre wenn..." Texten zwei kurze Exkurse, die theoretisch wieder zu den Anfängen zurückgehen. Eine gescheiterte Menschheit richtig sich endgültig zu Grunde, weil sie in den idealisierten Utopien nicht überleben konnte.

Obwohl umfangtechnisch begrenzt geht Bleymehl so weit, dass er einem Buch mit "Merkwürdiges Land Aipotu" ein ganzes Kapitel widmet. Hier liegt auch die Stärke des ganzen Stoffes. Der Leser wird aus den gängigen Quellen zwar nicht selten die technischen Daten dieser verschollenen Werke entnehmen können, aber Bleymehl hat sie gelesen und eingeordnet. Auf der anderen Seite ignoriert er die ebenfalls von Butler geschriebene, aber nicht auf Deutsch veröffentlichte Fortsetzung zu „Aipotu“. Diese wird zumindest im Anhang erwähnt. Für die Ein-Kapitel-ein Buch Strategie ein wenig unbefriedigend. Wegen dieser fast intimen Perspektive mit pointierten Kommentaren leben diese Arbeiten nicht nur fort, sie reizen zur eigenen Suche, die heute ohne Frage auch dank des Internets oder der Gutenburgarchive leichter ist. Einige Bücher sind auch in kleinsten Auflagen nachgedruckt worden. "Dye Na Sore, Elfenbeinturm, Shangri La" könnte ein Abschluss sein. Mit diesen hier erwähnten Kontrasten - buddhistisches Ideal und Streitschrift gegen die Nazis - könnte der textliche Teil ohne Probleme enden. Die Ausblicke wirken zu unbestimmt, zu philosophisch bemüht, als dass eine derartig lebendige geschriebene Studie vergessener Literatur so enden sollte. Es ist eine Rundreise durch die wichtigsten Themen, die Bleymehl als Fächer sieht, dessen Ursprung in den antiken Schriften liegt. Es ist ein Startpunkt einer Reise, die Bleymehl Zeit seines Lebens unternommen hat und die neben den neunundzwanzig anderen Bänden der "Edition Antares" in dieser Sammlung endete.

Auch wenn die meisten Leser den unterhaltsamen Textteil bevorzugen werden, sind es die Auflistungen in "Teil II", welche die eigentliche Tür öffnen. Während sich Bleymehl trotz seiner Kenntnisse in Englisch und Französisch auf deutsche Veröffentlichungen konzentriert hat, finden sich sowohl in der Chronologie als auch der Bibliographie Auflistungen von Veröffentlichungen aus aller Welt. Wichtig ist weniger die kurze Zeit nach der Erstveröffentlichung erschienene Ergänzung, sondern die Sammlung sekundärliterarischer Arbeiten, die Bleymehl bei seiner Exkursion hinzu gezogen hat. Zusammengefasst ist Bleymehls angesichts der primitiven technischen Möglichkeiten und die Schwierigkeit, diese seltenen Bücher zu finden, umfassenden, vielleicht wie der Autor selbst ikm Vorwort sagt fast perfekte Zusammenstellung zumindest bis 1900 eine der wichtigsten Neuveröffentlichungen des Jahres. Auch wenn das Internet jetzt die Suche erleichtert, braucht der Interessierte einen Ausgangspunkt und davon finden sich im Text Dutzende, im Anhang wahrscheinlich tausende. Herausgeber Dieter von Reeken wahrscheinlich mit dem als Helfer an der Erstauflage schon beteiligten Heinz J. Galle  hat auch dank der Unterstützung der Familie Bleymehl ein Kleinord wiederentdeckt und eine potentielle Schatzkammer in einer sorgfältig gestalteten, handlichen Neuausgabe wieder geöffnet.  

         

 

Nachdruck der Erstausgabe 1965 im Neusatz
Broschüre, 257 Seiten, 2 Fotografien, 8 Reproduktionen, Vorwort von Prof. Gerhard W. Bleymehl, Anhang
17,50 € — ISBN 978-3-940679-88-8

Kategorie: