Der zeitgereiste Napoleon

Der zeitgreiste Napoleon, Hayford Peirce, Thomas Harbach, Rezension
Hayford Peirce

Hayford Pierce 1987 veröffentlichter, im Original „Napoleon Disentimed“ genannter Roman vereinigt zwei Aspekte der Science Fiction, die auf den ersten Blick gar nicht zusammenpassen, inzwischen aber zu einer Art Standardthema verschmolzen worden sind. Auf der einen Seite die Idee der Zeitreise und damit einhergehend eine grundsätzlich anders verlaufende Geschichte, auf der anderen Seite die Erschaffung von Parallelwelten. Pierce macht es sich relativ einfach. In England wird an der Parallelweltmaschine gearbeitet, in Deutschland an einer Zeitmaschine. Das die ganze humoristische Geschichte ihren Ausgangspunkt in einer Welt nimmt, in welcher Napoleon und seine Dynastie sehr viel länger gelebt und Europa vereint haben, ist ein skurriler, von Pearce unauffällig effektiv eingesetzter Ausgangspunkt der Geschichte. Der 1942 geborene Hayford Pierce greift bei seinem ersten Science Fiction Roman auf Elemente seiner zahlreichen Thriller und vor allem Kurzgeschichten zurück. Während „Der zeitgereiste Bonaparte“ in Deutschland alleinstehend veröffentlicht worden ist, publizierte Pierce ein Jahr später noch eine Art Fortsetzung mit seinem nicht immer charmanten Gauner und Opportunisten MacNair „The Burr in the Garden of Eden“. Rückblickend ist „Der zeitgereiste Napoleon“ eher voller Klischees und das offensichtliche Ende – bis auf die Variation mit den Türken – ist absehbar, weil Pierce seine Figuren zu opportunistisch und vor allem zu wenig dreidimensional zeichnet. Aber diese Vorhersehbarkeit, der Hang wie bei einer guten amerikanischen Screwball Komödie das Geschehen nicht zu simplifizieren, sondern im Grunde an allen Stellen zu komplizieren, funktioniert vor allem nach dem rasanten Auftakt im vielleicht zu phlegmatisch, zu wenig den Plot und zu stark einzelne Szenen betonenden Mittelteil ausgesprochen gut. Dank starker, ungläubiger Dialoge und einer absichtlichen Gegenüberstellung einzelner Szenen baut Pierce die typischen Versatzstücke des Genres um und beginnt sie in Kombination mit guter historischer Recherche effektiv einzusetzen.  

Im Mittelpunkt der Geschichte steht neben Napoleon und seinen „verlorenen“, also nicht aufgezeichneten Jahre zwischen 1806 und 1808. Diese dienen aber in der zweiten Hälfte des Buches eher als MacGuffin, denn Pierce fasst jetzt die einzelnen Handlungsbögen rasant zusammen und spielt nicht mehr mit der Idee eines „Fisches außerhalb des Wassers“. Ohne Frage ist der Identitätstausch auch eine originelle Idee, die in vielen Zeitreisegeschichten eher angedeutet als bis zum Ende durchgespielt worden ist. Diese Variation scheint aber auch eher aus der amerikanischen Komödie vor allem der dreißiger/ vierziger Jahre zu stammen, in der nicht selten auch mit einem Tuch vor dem Kopf sich ein Mann/ eine Frau vor Bekannten zu verstecken suchten. Pierce arbeitet aber rückblickend diesen Aspekt zu wenig nachhaltig ab und trotz oder gerade wegen aller Missverständnisse hätten diese Passagen über die Versetzung eines treuen Untergebenen nach Helsinki besser ausgearbeitet werden können. Sie stehen am Ende einer Kette, die mit einem Autounfall in den USA beginnt. Sir Kevin Dean de Courtney MacNair of MacNair ist ein intelligenter Schmallspurganove, der vor allem von Betrügereien lebt, die er mit umfangreichen Tarngeschichten selbst einleitet. Bei einem nächtlichen Unfall fällt ihm eine wertvoll erscheinende, mit Diamanten besetzte und doch modern wirkende Krone in die Hand. Diese Krone ist eine Zeitmaschine. Als er sie ausprobiert, landet er in einem Labor und kann sich an nichts erinnern. In dieser offensichtlichen Parallelwelt hat Napoleon Europa unter seiner langen Herrschaft vereinigt. Sowohl der Erste als auch der Zweite Weltkrieg fanden nicht statt.  Im Laufe der Handlung werden zwar weitere Hintergründe dieser Welt offenkundig, aber beginnend mit der primitiven Luftfahrt im Vergleich zu den gigantischen Zeppelinen oder der ambivalent eingesetzten Technik bleiben viele Aspekte eindimensional. MacNair findet sich für einen Mann mit seinem Hintergrund in dieser Welt relativ schnell sehr gut zurecht, auch wenn unterschiedliche Gruppen hinter seiner Krone her sind. Wie schon eingangs erwähnt verbindet der Autor zwei Subgenres. Während die Zeitreise erst im zweiten Teil des Buches effektiv wie kriminell mit dem Austausch Napoleons gegen einen Doppelgänger und eine Erpressung des französischen Staats zielgerichtet und doch über das „Ziel“ hinausschießend eingesetzt wird, haben andere Wissenschaftler eine Maschine entwickelt, mit der man anscheinend nicht nur in Parallelwelten eintreten kann, sondern wie es sich für diesen humoristischen Roman auch gehört, aus ihnen Menschen quasi herausholen kann. Und welches Objekt eignet sich mehr, als der bürgerliche Doppelgänger MacNairs, der zwar weniger offensichtlich verschlagen, aber hintergründig sehr viel gemeiner agieren kann. Die Begegnungen zwischen den Männern zweier Welten und ihren gemeinsamen Interessen – mit wenig Arbeit an der Seite einer schönen Frau möglichst finanziell unabhängig zu werden – werden von doppeldeutigen Dialogen begleitet, wobei Pierce selten zum abschließenden Punkt kommt.

Auch wenn die Handlung über fast zweihundert Jahre spielt, hat der Leser selten das Gefühl, als unterscheiden sich die Menschen dieser unterschiedlichen Welten sehr. Das mag darin begründet sein, dass der technologische Fortschritt der späten neunziger Jahre noch nicht so exzessiv gewesen ist wie im 21. Jahrhundert und vor allem MacNair sich ehr gut mit der Geschichte Napoleons auskennt, aber ein wenig mehr Schwierigkeiten hätte man bei dem Austausch und der Reise in die Vergangenheit inklusiv der Liebesgeschichte mit einer nimmersatten Verwandten Napoleons erwarten können. Vielmehr spielt Pierce die Karte, dass Erfindungen wie die Toilettenspülung oder der Champagner nur durch die Zeitreisenden gemacht worden sind. Das ist zumindest im zweiten Punkt historisch gut vorbereitet, wirkt aber eher wie eine Seitenschinderei, da MacNair anscheinend nicht in der Lage ist, seine Idee effektiv und weniger pragmatisch umzusetzen. Aber wahrscheinlich gehört es sich für einen Westentaschengangster, seine Coups immer groß aufzuziehen, um als Sieger dazustehen.               

Im Vergleich zu vielen anderen humoristischen Texten ist der Plot allerdings ambitioniert angelegt. Auf verschiedenen Ebenen spielend und sich vor allem gegen Ende überlappend setzt Pierce mit einer Bombenexplosion ein frühes, dunkles Zeichen, das er aber in der humorigen, aber nicht an Slapstick erinnernden Art und Weise nutzt, um dem Leser und weniger den Protagonisten die potentiellen Gefahren aufzuzeigen. Paranoia und Verschwörungen finden dagegen nicht statt. Die meisten Gefahren bereiten sich anschließend die Zeitreisenden/ Parallelweltler mit ihren unterschiedlichen Interessen im Grunde selbst.  Es gibt auf jede Aktion eine Reaktion, wobei die komplizierten Pläne sich im Verlaufe der einzelnen Stadien mehr und mehr auflösen. Mit einem Augenzwinkern und einer vernünftigen Portion Humor nimmt Pierce weniger das Genre auf die Schippe, sondern erzählt eine Gaunergeschichte, wobei er eher überraschend die Idee von Paradoxa oder nicht gegenseitig aufhebenden Ereignisse eher ignorierend umschifft. Damit nimmt er seiner ohne Frage durch die Kombination der Genres in zweifacher Hinsicht komplexen Geschichte an einigen Stellen ihre Effektivität und konzentriert sich auf unnötige Kompromisse. Der Leser kann an jeder Stelle dem Geschehen folgen. Auch wenn er wie die einzelnen Figuren nicht immer sicher sein kann, auf welcher Ebene/ Welt er sich momentan aufhält, sind die Unterschiede manchmal zu gering und die Lektüre einer Zeitung reicht, um den jeweiligen Protagonisten mit dem Leser über die Schultern schauend auf den neusten Stand zu bringen. Auch grundsätzlich wird die Idee der Zeitreise vor allem für einen aus den achtziger Jahre stammenden Roman von den Figuren genau wie die Idee der Parallelwelt – beides wird ja gleichzeitig erforscht und könnte miteinander verbunden werden, was keiner der Wissenschaftler wirklich möchte – zu leicht akzeptiert. Das lässt den umfangreichen Text älter erscheinen als er in Wirklichkeit ist. „Der zeitgereiste Napoleon“ ist ein unterhaltsames Buch,  das deutlich mehr Tiefgang anbietet als es auf den ersten Blick erscheint. Das aber aus seiner surrealistischen Grundprämisse abschließend nur blubberndes farbiges Wasser macht und deswegen eher durch gut geschriebene Teile denn als homogenes Ganzes im Gedächtnis bleibt.       

 

 

 

Taschenbuch
Originaltitel/Verlag:
Napoleon disentimed [1987] Tor [USA]
Autor: Hayford Peirce
Verlag/Jahr/Seiten: Heyne / 1992 - 364 Seiten
Reihe: Heyne SF 4926
     ISBN: 3-453-05847-X     ISBN13: 978-3-453-05847-7
US ISBN: 0-812-54898-1     ISBN13: 978-0-812-54898-3
Übersetzung: Michael Windgassen