Mit “Sherlock Holmes Society” startet Sylvain Courdie eine weitere Reihe von Sherlock Holmes Abenteuern, wobei diese Trennung von den Einzelgeschichten, in denen der Detektiv mit Vampiren kämpfte, einem Zeitreisenden begegnete oder gar im Necronomicon blätterte, eher irritierend ist. Denn diese Geschichte, deren ersten beiden Folgen als Splitter Double unter dem Titel „Die Keelodge Affäre“ erschienen sind, beinhaltet eine Reihe von markanten phantastischen Elementen, der so weit reicht, das eine weitere bekannte Schöpfung der viktorianischen Gruselgeschichten Eingang in den Sherlock Holmes Kanon gefunden hat. Dabei nutzt Cordurie die Tragik dieser Gestalt und führt nicht nur den berühmten Sherlock Holmes anfänglich auf eine „falsche“ Spur, sondern die Interaktion zwischen den dramatischen Ereignissen in dem kleinen britischen Küstenort und der zugrundeliegenden Idee ist bestechend einfach und doch überzeugend.
Auch die Idee, dass ein Trittbrettfahrer Jack the Ripper verkörpern könnte, wird am Ende des zweiten Albums überzeugend und erstaunlich effektiv in den fließenden Plot eingebaut. Dabei befremden die ersten Szenen. Sherlock Holmes mahnt Watson, nachdem der Detektiv den angreifenden Frauenmörder von hinten erschossen hat, dass er zukünftig ein wenig rücksichtsloser agieren soll. Es ist nicht der letzte Exzess in diesem Band. Sherlock Holmes wirkt vielleicht auch gegen den Willen als Marionette von seinem Bruder missbraucht deutlich einsilbiger, exzentrischer und gegenüber Kriminellen und anderen Wesen deutlich rücksichtloser. Auch die Dialoge zwischen Watson und Holmes sind bis zum tragischen, aber auch ein wenig zu einfältigen Cliffhanger am Ende des zweiten Albums erstaunlich distanziert. Holmes ist sich nicht zu schade, seinen Freund auch von anderen Menschen verbal nieder zu machen und seine angebliche Überlegenheit zu demonstrieren. Was gegenüber dem doppeldeutigen Mycroft vielleicht angemessen ist, entfremdet im Verhältnis der beiden Freunde, zumal Holmes auch sehr wenig auf den persönlichen Verlust eingeht, den der gegenüber Frauen emotionalere Watson relativ schnell im Verlaufe des Handlungsaufbaus erlitten hat. Es ist bezeichnend, dass Courdies Watson sehr schnell zum Alkohol greift und Sherlock Holmes in einer der wenigen zufriedenstellenden Szenen quasi mit dem Freund den Kummer ertränkt, bevor im zweiten Album die eigentliche Ermittlungsarbeit beginnt. Befremdlich ist zumindest anfänglich, dass eher Unglaube bei den beiden Freunden vorherrscht. Bedenkt man, wem Sherlock Holmes in Courdies Geschichten bislang schon begegnet ist, sollte eher Abscheu als Überraschung vorherrschen, zumal Sherlock Holmes relativ schnell auf eine eher chemische Möglichkeit kommt als ein Öffnen der Tore der Hölle, wo es später George Romero in „Dawn oft he Dead“ impliziert hat.
Zusammen mit dem Zeichner Stephane Bervas hat Courdie im Auftakt Album allerdings eine eindrucksvolle und unheimliche Geschichte verfasst. Kaum hat Sherlock Holmes den potentiellen „Jack the Ripper“ gestellt, wird er von Mycroft zu einer kleinen englischen Siedlung am Fuß der so typischen Steilküste gerufen. Das Dorf ist von Elitesoldaten umstellt, überall stehen primitive Raketenwerfer. Die Gruppe muss sich zur Erkundung Schutzanzüge anziehen. Anscheinend hat ein unbekannter Virus alle dreihundert Einwohner des Dorfes und eine Freundin Doktor Watsons, die zur Untersuchung des Phänomens hinzugezogen worden ist, zu lebenden Toten, zu Zombies werden lassen. Sherlock Holmes, Doktor Watson und die Soldaten beginnen mit ihrer Suche in der Ortschaft. Absichtlich an einen an zahlreiche im Ersten Weltkrieg spielende Comics angelehnten Zeichenstil entwickelt Bervas das Szenario. Schwarzweiß Töne, dunkle Erdfarben und immer wieder verzerrte Perspektiven unterstreichen die Gefahr in dieser Situation. Ganz bewusst erdrücken die zahlreichen Details die einzelnen Charaktere. Courdie dagegen folgt den Maßstäben, die George Romero schon diesem Subgenre verliehen hat. Isolation hilft nicht. Die Gefahr lauert im Keller. Kopfschüsse und Feuer sind das einzige Mittel, das hilft. Sherlock Holmes findet relativ schnell die mögliche Brutstätte dieses absichtlich ausgestreuten Virus heraus, wobei die eher ambivalent vorgetragenen Erkenntnisse sowie der Anschlag des potentiellen Täters auf Holmes und seine Soldaten spannend, intensiv und durch die Nutzung verzerrter Perspektiven auf Augenhöhe dargestellt wird. Selten ist eine Sherlock Holmes Geschichte so wenig deduzierend und so Action lastig vorgetragen worden. Kaum aus dem Dorf entkommen und von Mycroft als Arm der Regierung seiner Aufgabe wieder entbunden, ermittelt Sherlock Holmes natürlich im zweiten Album auf eigene Faust weiter. Während Bervas vor allem bei den angesprochenen Szenen im Dorf gänzlich überzeugen konnte, ist der inzwischen an Bord gekommene Zeichner Eduard Torrentes eher ein Meister der Perspektiven, der das viktorianische London bis in die Tanzsäle der Obrigkeit dreidimensional darstellen kann, während seine dynamischen Sequenzen weniger realistisch als surrealistisch erscheinen. Auch im Aufbau hinkt die Geschichte ein wenig hinterher. Im Gegensatz zu Doyles Vorlagen oder vielen Kanon Geschichten verfolgt der Leser Sherlock Holmes Ermittlungen auf Augenhöhe, wobei einige der Bogenschläge wie mit der norwegischen Bank, die gerne das Verbrechen unterstützt und den auf das Konto einer Ärztegemeinschaft erfolgenden Einzahlungen genauso bemüht erscheint wie die zu offensichtliche Spur zu einem potentiellen Täter, der gerade sein Alter Ego abgelegt hat. Auch hier ignoriert Courdie allerdings die literarische Vorlage und geht seinen eigenen Weg, wobei er sich nicht abschließend positioniert. Interessant ist auch, dass erstens Sherlock Holmes sind wieder ausgesprochen rücksichtslos verhält, obwohl er zu diesem Zeitpunkt nicht alle Fakten kennt und zweitens um Spannung bis zum vorliegenden Höhepunkt zu erzeugen, Courdie auf die Naivität des Detektivs setzen muss, der seinen Gegner in die Enge zu drängen sucht, aber vor allem angesichts der kürzlich erhaltenen Informationen bis zum vermeintlichen Jack the Ripper nicht vorsichtige Schlüsse zieht, sondern unfreiwillig seine Freunde in Gefahr bringt. In diesen ersten beiden Bänden ist Courdie noch in der Entwicklungsphase. Während im ersten Album die Gefahr drastisch und bildlich als perfides Experiment – da schon vorher an Menschen gearbeitet worden ist, erschießt sich der ganze Sinn dieser zu auffälligen Übung bislang dem Leser nicht - entwickelt worden ist, wirkt der zweite Teil ein wenig ruhiger. Sherlock Holmes kann mehr in seiner gewohnten Rolle agieren, wobei wie schon eingangs erwähnt, sowohl die Interaktion mit dem nur im Hintergrund agierenden Doktor Watson sehr schwierig ist als auch das Verhältnis zu Mrs. Hudson eher aufgesetzt erscheint. Die verschiedenen angerissenen Themen und vor allem der abschließende Plan hinter der „Keelodge Affäre“ erschließt sich positiv für das ganze Album dem Leser noch nicht. Auf der anderen Seite wirkt dieser deutlich jüngere und dynamischere Sherlock Holmes – die Müdigkeit der vor dem Verschwinden in der Schweiz liegenden Jahre ist komplett verschwunden – auch ein wenig befremdlich. Vielleicht ein wenig zu kalt, zu offensiv und damit auch zu distanziert von seiner Umwelt fehlt ihm die Beziehung zum Leser. Und damit auch zu Doktor Watson, der in Selbstmitleid fast ertrinkend interessanterweise nicht an Sherlock Holmes Seite gegen die potentiellen Feinde und vielleicht indirekt auch gegen die aus seiner Sicht rücksichtslos mit den ihr anvertrauten Menschen umgehenden britischen Regierung „kämpft“, sondern Holmes an entscheidenden Stellen sogar im Weg steht, ihn fast wie ein dickköpfiger Junge hemmt.
Zeichnerisch ergänzen sich Bervars und Torrentes, wobei das erste Album mit seiner erdrückenden Handlung natürlich den intensiveren, beängstigenderen Eindruck hinterlässt. Im Vergleich zu dem ein wenig bemühten Kampf gegen die Vampire und den Besuch des Zeitreisenden – beide Geschichten spielen in der im Anhang aufgeführten Chronologie vor dem „Society“ Abenteuer – ist die Verbindung phantastischer, aber nicht ganz übernatürlicher Elemente mit dem viktorianischen Zeitalter Sherlock Holmes in den vorliegenden beiden Alben bislang am besten gelungen.
Autor | Sylvain Cordurié |
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Zeichner | Stéphane Bervas, Eduard Torrentes |
Einband | Hardcover |
Seiten | 112 Seiten Überlänge |
Band | 1 von 2 |
Verlag | Splitter |
ISBN | 978-3-95839-275-5 |