Fehlstart ins Atomzeitalter

Heinz J. Galle

Heinz J. Galle persönlich gefärbte, aber auch die fünfziger und sechziger Jahre aus der Weisheit des Alters sehr kritisch reflektierende Studie über den positiven wie negativen Einflusses der Atomforschung ist als fokussierte Ergänzung zu Galles “Wie die Science Fiction Deutschland eroberte” und Rainer Eisfelds “Die Zukunft in der Tasche” zu verstehen. Dieter von Reeken und Heinz J. Galle sehen es nicht als sekundärliterarisches Werk oder umfassende Studie aller im Notfall utopischer Veröffentlichungen dieser Epoche zum Thema friedliche Nutzung der Atomenergie oder Angst vor dem dritten atomar geführten finalen Weltkrieg, sondern als Erinnerung an eine Zeit, die für inzwischen zwei Generationen Geschichte vorstellt und die mit dem natürlichen Aussterben der vor dem Zweiten Weltkrieg geborenen Menschen immer weitere aus der verbalen Erzählung in den Bereich der Geschichtsbücher rückt. Vielleicht muss der Leser Galles auf fundiertem Sammelwissen aufgebaute Studio auch als deutsche Antwort auf Joe Dantes wunderschönen und leider in diesem Buch aufgrund des Entstehungsdatum in den neunziger Jahre nicht erwähnten “Matinee” sehen, in welchem der Regisseur die Angst vor dem Atomkrieg im Schatten der Kubakrise mit der Faszination von Monsterfilmen zu einem unlösbaren Knäuel verbunden hat.

Heinz J. Galles langes Essay beginnt natürlich am 06. August 1945, dem Tag des ersten Atombombenabwurfes, auch wenn die erste in einem Laboratorium ablaufende Kettenreaktion am 2. Dezember 1942 den eigentlichen Einstieg in das Atomzeitalter darstellte. So stellen die ersten beiden Kapitel aus heutiger Sicht eine bizarre, sicherlich naive Auseinandersetzung mit der atomaren Gefahr im Allgemeinen und einem Atomkrieg im Besonderen dar. Heinz J. Galle spricht mehrmals von der Blauäugigkeit der Medien, die die Folgen des potentiellen Atomkriegs verherrlichten. Wie es sich für manche Katastrophe gehört, sind die Medien aufgrund der wahrscheinlich absichtliches Desinformationen durch Politiker, Militärs und schließlich auch Wissenschaftlern von falschen Voraussetzungen ausgegangen . Galle stellt die damals wie heute real existierende Atomwaffenwelt und die nukleare Bedrohung vor. Dabei zitiert er nicht nur diverse eher pseudowissenschaftliche Studien und zeigt Bilder von Bunkern wie der amerikanischen Atomfamilie, sondern zerfetzt die diversen Verdummungsbücher wie die Atomfibel. Im zweiten thematisch anschließenden Kapitel zeigt Galle den Optimismus der sich in erster Linie an ein jugendliches Publikum wendenden Wissenschaftsmagazine, wobei der Autor ignoriert, dass die von ihm beschriebenen “Wellen” durch Amerikas Magazine wie Science Fiction Literatur knappe zwanzig Jahre vorher gerauscht sind. Wie viele Raumschiffe sind im Golden Age mit Atomkraft geflogen und wie oft griffen Captain Future und Co. Zu strahlenden Superwaffen? Interessanterweise suchte zumindest ein Magazin “Hobby” die Konfrontation mit den Fans als die Verbrüderung mit jungen Leuten, die sich intensiver mit einer natürlich glorifizierten Zukunft auseinandersetzen.

Mit “Die Marke Atom verkauft sich gut” beginnt die Auseinandersetzung mit der in erster Linie utopischen Literatur, wobei Galle gleich mit einer Reihe von verdummenden Jugendbüchern beginnt. Aus heutiger Sicht kommt es einer beschämenden Selbsterkenntnis gleich, dass viele SF Fans nur Literatur in den ihnen bekannten Reihen und nicht die warnenden Romane eines Langes oder Wörners anerkannten, die sich mit den Folgen unkontrollierter und unkontrollierbarer Nutzung der Wunderenergie sehr viel intensiver und kritischer auseinandersetzen. Vielleicht geht die Katharsis ein wenig zu weit, wenn Galle beschämend aus seinen damaligen, eher jugendlich naiven Rezensionen zitiert. Mit zahlreichen Bildern und kurzen Inhaltsangaben geht der Autor auf qualitativ in beiderlei Richtung bemerkenswerte Beispiele der damaligen utopischen Literatur ein, von denen viele eine Lektüre auch heute noch verdienten. Die verdienstvolle Arbeit Wolfgang Jeschkes im Rahmen seiner “Science Fiction Classcis” wird überdeutlich, wenn man die meisten der von Heinz J. Galle erwähnten Titel als heute noch antiquarisch leicht zu erhaltende Taschenbuchausgaben finden kann.

Galles Essay lebt aber förmlich auf, wenn er zu seinen speziellen Steckenpferden kommt: “Atom” in dicken und dünnen Büchern. Mit dicken Büchern sind die speziellen Leihbücher gemeint, die ein für die fünfziger Jahre einzigartiges Phänomen darstellten und die dünnen Bücher bzw. Heftromane sind die zahlreichen Science Fiction und Kriminalserien. In beiden Sektoren wird der Bogen über die fünfziger Jahre hinaus zu den ersten publizistischen Versuchen nach dem Zweiten Weltkrieg geschlagen. Mit seinem locker leichten Stil stellt der Autor eine Reihe von überwiegend negativen, aber zumindest unterhaltsamen “Atom” Schmökern sowie die wenigen Höhepunkte vor. Auch wenn der Autor mehrmals betont, dass sich “Atom” als Verkaufsschlager erwiesen hat, muss er selbst im Verlauf des Kapitels relativierend feststellen, dass angesichts der zahllosen Veröffentlichungen - alleine mehr als eintausend “Terra” Hefte aufgeteilt und in verschiedene Unterserien bzw. die Ableger der ersten “Utopia” Serie aus den Verlagen Pabel und Moewig - sich die Zahl der reißerischen Atomgeschichten doch in argen Grenzen hält. Fiese Außerirdische finden sich in mehr Heften als zweckentfremdete Atombomben bzw. Unfälle mit spaltbaren Material. Da Heinz Galle in erster Linie die Serien abarbeitet und auf die einzelnen für diese Studie relevanten Hefte hinweist, wirkt dieses Kapitel trotz zahlloser Informationen und sehr gutem Bildmaterial ein wenig hektisch hin und her springend. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, die einzelnen, erstaunlich wenig variierten Themen als Ganzes abzuhandeln und die Publikationen diesen Handlungssträngen zuzuordnen. So ist zum Beispiel Lester Del Reys “Atomalarm” in den fünfziger Jahren in Deutschland veröffentlicht worden. Geschrieben hat der Amerikaner das Buch allerdings schon in den vierziger Jahren - im gleichen Jahr, in dem für Heinz Galle das eigentliche Atomzeitalter begann, 1942 - lange vor dem Abwurf der ersten Atombombe. Herauszuheben ist auch, dass Lester Del Rey eine friedliche Nutzung der Atomkraft als Grundlage seines Katastrophenszenarios genommen hat. Damit hebt sich der Roman auch hinsichtlich seiner Prämisse vom dem Einheitsbrei ab. Galles Konzentration auf überwiegend deutsche Veröffentlichungen der fünfziger und sechziger Jahre schließt insbesondere die internationalen Veröffentlichungen bis auf ganz wenige Ausnahmen aus, was die Behandlung des Themas atomare Bedrohung ein wenig einseitig erscheinen lässt. Auf der anderen Seite wollte Heinz Galle seine Studie auch nicht zu sehr ausweiten. Damit verzichtet der Autor nicht auf selbstkritische Anmerkungen hinsichtlich des Geschmacks des Unterhaltungsliteratur lesenden und fordernden Publikums sowie seinem eigenen jugendlichen Optimismus.
In “Weltuntergang auf der Leinwand: Atomare Katastrophen im Film” präsentiert Heinz Galle einen Überblick über die wichtigsten Katastrophenfilme mit kurzen Inhaltsangaben und einigen überwiegend kritischen Anmerkungen Dieses Kapitel lebt von dem sehr seltenen Werbematerial, das Dieter von Reeken und Heinz Galle zusammengestellt haben. Auch hier erwähnt Heinz Galle zumindest einige Produktionen, die es nicht über den großen Teich geschafft haben. Das Kapitel leidet aber unter der Beschränkung auf offensichtlich phantastische Filme, so vermisst man das lange Zeit in Deutschland unterdrückte zynische Ende von “Kiss me Deadly”, in dem die Jagd auf einen Koffer mit der nuklearen Verseuchung des Antihelden endet, oder die zahlreichen Versuche deutscher Synchronstudios, mit geschickter Synchronisation aus Uran Rauschgift zu machen. Während Heinz Galle bei den literarischen Veröffentlichungen immer wieder über die Grenzen des Genres hinausgeschaut hat, wirkt die Auseinandersetzung mit den cineastischen Variationen nicht tiefgehend genug. Ausgeglichen wird dieses Manko durch die abschließende Auseinandersetzung mit den heute bis auf wenige Sammlern unbekannten Sammelbildern, die verschiedenen Produkten beigegeben worden sind. Hier strahlt die verheißungsvolle Zukunft besonders hell. Die Abbildungen dieser seltenen Sammelbilder sind exzellent und das zweigeteilte Titelbild des Bändchens gibt einen guten Eindruck, mit welcher Leuchtkraft sie ein in erster Linie jugendliches Publikum in den fünfziger Jahren in ihren Bann geschlagen haben.
Abgeschlossen wird der Band durch ein ausführliches Quellenverzeichnis sowie ein Glossar.
Heinz J. Galle erweist sich immer wieder als kritischer Mahner der aus seiner Sicht in eine Sackgasse gelaufenen friedlichen Nutzung der Atomenergie. Kein Endlanger, keine Sicherheit vor Umweltkatastrophen und eine jahrzehntausende Erbschaft an die kommenden Generationen. Aus der Gefahr vor dem Atomkrieg ist inzwischen die Gefahr eines Cyberkrieges geworden. Mit seinem reichhaltig bebilderten Essay beschwört der Autor überwiegend unterhaltsam überzeugend die Naivität der fünfziger und die Angst der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts wieder herauf und zeigt die Wechselwirkung der in erster Linie politisch militärischen Entwicklungen in einer Reihe von populären Massenmedien. Alleine aufgrund der zahllosen kurz vorgestellten Beispiele ist dieses Essay- Bändchen eine Anschaffung wert. Heinz J. Galle weiß insbesondere bei der phantastischen Unterhaltungsliteratur sowie im positiven Sinne der Bezeichnung der Trivialveröffentlichungen sein umfangreiches Wissen als langjähriger Sammler ohne zu belehren zu präsentieren. Hinzu kommen - wie mehrmals schon angesprochen - die interessanten und drucktechnisch sehr überzeugend wieder gegebenen mehr als einhundert Abbildungen, die den Fehlstart ins Atomzeitalter adäquat illustrieren.

Heinz J. Galle: "Fehlstart ins Atomzeitalter"
Sachbuch, Softcover, 149 Seiten
Dieter von Reeken 2013

ISBN 9-7839-4067-9710

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