Das blaue Band

Bernhard Kellermann

Bernhard Kellermanns 1938 veröffentlichter Roman „Das blaue Band“ verarbeitet an Hand des fiktiven Luxusliners – im Gegensatz zu „Titanic“ mit drei funktionierenden Schornsteinen ausgestattet – „Cosmos“ den Untergang des gehobenen Bürgertums nicht nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, sondern mit dem Einzug der nationalsozialistischen Tyrannei. Wie im Nachwort der Neuauflage expliziert erwähnt wird, musste sich der Autor aufgrund der Zensur und der schwarzen Liste, auf welcher er sich nach 1933 mit befunden hat, in Bezug auf Anspielungen oder Vergleiche zurückhalten. 

Interessanterweise erschien fast zeitgleich allerdings als deutsprachige Ausgabe in London – 1938- und New York 1940 der 1935/1936 begonnene Roman „Titanensturz“ aus der Feder Robert Prechtls. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Roman unter dem signifikanten Titel „Der Untergang der Titanic“ mehrfach nachgedruckt worden. Auch Prechtl verbindet mit dem Untergang des modernsten Schiffes der damaligen Zeit das Ende einer Epoche. Er konzentriert sich mehr auf den realen wie moralischen Untergang der korrupten in erster Linie deutsprachigen Wirtschaftsbosse und Bankiers, während ihre amerikanischen Kontrahenten in Person Astors dem Tod mutig ins Auge blickten. 

Ob Kellermann in Kenntnis von Prechtls Werk seine Handlung auf ein fiktives Schiff verlegt hat, lässt sich nicht mehr ermitteln. Beide Werke gehen – Prechtl in den Text eingewoben, Kellermann im Titel – davon aus, dass die „Titanic“/“Cosmos“ auf einer Rekordfahrt zur Erlangung des blauen Bandes für die schnellste Atlantiküberquerung gewesen ist. Die reindeutsche Behauptung ist durch verschiedene auch technisch unterstützte Quellen widerlegt worden. Kellermanns Roman gibt diese Idee eine ungeahnte Dynamik, beginnend in dem Moment, wo die „Cosmos“ die imaginäre Startlinie überschritten hat.

Wie bei Prechtl nimmt sich Kellermann ausgesprochen viel Zeit, über einen rein technischen Ton hinsichtlich des Luxus und der kraftvollen Dynamik der „Cosmos“ hinausgehend die einzelnen Passagiere und ihre gesellschaftlichen Standesdünkel einzuführen und bis zur Grenze der Glaubwürdigkeit an den Rand des kitschigen Klischees die unsichtbaren Bande untereinander zu beschreiben. 

So ist der Amerikaner Gardener ein klassischer Selfmade Millionär, der sich aus den Tiefen seiner eigenen Kohlegruben nach oben gearbeitet hat. Jetzt werden seine Bergwerke von Streiks erschüttert. Die Arbeiter fordern bessere Bezahlung und umfangreichere Sozialeistungen. Gardener steht zwischen allen Fronten. Obwohl er noch kein reiner Kapitalist geworden ist, kann und will er auf die Forderungen seiner ehemaligen Kumpels nicht eingehen. Kellermann zeigt die fehlende Entschlusskraft dieser Neuindustriellen, welche die Spannungen und Unruhen noch verschärft.

Eva Königstein ist eine gefeierte Musikerin, die sich auf einer Konzertreise in die USA begeben hat. Begleitet wird sie von ihm langjährigen väterlichen Freund und strengem Lehrmeister. Ebenfalls an Bord ist ihr Ex- Ehemann und der Vater ihres einzigen Kindes, der sie immer noch trotz einer schwierigen Scheidung liebt und sich als ihr einziger Impressario sieht. Zusätzlich reist ihr noch platonischer Verehrer und Nachbar ihres Hauses in Heidelberg mit. So steht die so erfolgreiche, aber auch emotional isolierte Frau im Grunde zwischen allen Stühlen. In Bezug auf Eva Königssteins Verhalten ihrer in erster Linie männlichen Umwelt gegenüber erkennt der Leser Kellermanns Intention, den Roman in einem frühen Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts anzusiedeln, auf der anderen Seite aber auch moderne Strömungen der Nachkriegsgesellschaft mit beruflich sehr erfolgreichen, privat aber zu Skandalen neigenden Frauen zu extrapolieren. Manch geschliffener Dialog wirkt aus heutiger Sicht antiquiert, aber verfolgt den Zweck, die auf der „Cosmos“ versammelte und zum Untergang in realer wie metaphorischer Hinsicht verdammte Gesellschaft zu charakterisieren. Wenn Königssteins geschiedener Mann dramatisch überzogen erst seine Ex- Frau beschimpft, Ihr das Besuchsrecht entzieht und dann an Bord des Schiffes Selbstmord begehen möchte, kann der Leser zwischen Kitsch und Tragödie sich entscheiden. Kellermann überspannt den emotionalen Bogen und unterminiert die Glaubwürdigkeit seiner Figuren. Königssteins Begegnung mit ihrem platonisch Angehimmelten und dem Ex- Mann ist nicht das einzige Dreiecksverhältnis. So streiten sich zwei junge Heißsporne um eine extravagante Schauspielerin, die nicht geliebt, sondern verehrt werden möchte. Oder drei Schwestern reisen mit einer Varietenummer nach New York, die alle von einem natürlich ebenfalls an Bord befindlichen Mann bewundert werden. Kellermanns bunter, sogar für die Zeit provokant erotischer Reigen mit lesbischen Anspielungen und vorehelichem Sex wird so zu einem Zirkus der Eitelkeiten, den der Autor im Angesicht der Katastrophe erstaunlich unsentimental und die Grundintention des Plots negierend wieder auflöst.      

 

Vielleicht ragt der eitle wie affektierte Direktor der Reederei genauso aus dem ansonsten solide, aber zu oberflächlich gezeichneten Ensemble heraus wie der amerikanische Reporter Prince, der die Außenwelt mit sensationellen Nachrichten von Bord für die damalige Zeit ausgesprochen aktuell, aber auch teilweise verklausuliert hinsichtlich der Wettfahrt versorgt. Obwohl der Kapitän für sein Schiff verantwortlich zeichnet, schiebt Kellermann die Schuld an das Katastrophe dem für diese Aufgabe ungeeigneten Direktor der Reederei zu. Er will unbedingt den Geschwindigkeitsrekord auf der Jungfernfahrt. Das wird deutlich, als es dem Kapitän indirekt verboten wird, für eine vielleicht ein Leben rettende Operation das Schiff für eine Stunde in der ansonsten ruhigen See treiben zu lassen. Wenige Stunden später wird der schwerkranke Mann stoisch sein Schicksal hinnehmen und mit der „Cosmos“ untergehen.  Nach der Katastrophe steigt der Direktor durch einen Spalier von Offizieren, die ihn mehr oder minder aufgrund seiner Feigheit verachten, wie das historische Vorbild in das letzte Rettungsboot, das die „Cosmos“ verlässt, um die Nachbearbeitung der Katastrophe zu koordinieren. Auch wenn heute nicht mehr eruiert werden kann, nach welchem Vorbild Kellermann diese Karikatur eines verantwortlichen Unternehmers gezeichnet hat, sind die Ähnlichkeiten gegenüber Ismay unverkennbar. Mit ihm überlebt – ohne dass jemand Anstoß nimmt – der rasante und verliebte Reporter Prince, der schließlich der Welt das Ausmaß der Katastrophe ins Gesicht schreibt. Innerhalb von drei schlaflosen Tagen und Nacht schreibt er auf knapp zweihundert Seiten die Ereignisse der Nacht nieder. Auch hier stimmt Kellermanns Fiktion mit der Realität überein. Obwohl Prince trotz seiner selbstverliebten Arroganz ein nuanciert gezeichneter Charakter ist, stößt auf, dass er das sinkende Schiff in einem Rettungsboot verlassen hat. Er vollbringt keine Heldentaten oder hinterlässt irgendwelche positiven Spuren. Er reagiert auf die von ihm nicht zu beeinflussenden Ereignisse. Und wenn er sich am Ende des Buches ins moderne „Kloster“ nah Afrika zurückzieht, um wieder menschlich zu werden, befriedigt dieser Gang nach Canossa herzlich wenig. Als Amerikaner überzeichnet Kellermann Prince, als Berichterstatter wird er letzt endlich nicht benötigt.  

 

       Bis auf die drei Schornsteine und den stetig wiederholten und alle Passagiere wie Mannschaftsmitglieder antreibenden Hinweis auf die Rekordfahrt ähnelt Kellermanns "Cosmos" zu sehr dem Original. Das reicht bis zum Hinweis, dass das Schiff unsinkbar ist. Auch das Untergangsszenario mit dem Streifen des Unterwassereis, dem Absinken über den Bog und schließlich auch die Tragödie, das ein Schiff in unmittelbarer Nähe mit abgeschalteter Funkanlage die Tragödie indirekt mit verfolgt hat, gleicht den bekannten Ereignissen der Nacht. Für Kellermann steht die überhöhte Geschwindigkeit in Kombination mit ungewöhnlichen Wetterverhältnissen zweifelsfrei fest. 

 

In Bezug auf die Opferzahlen wird der Autor wenig konkret. Das Schiff ist im Gegensatz zur "Titanic" überbucht. Mehr als dreitausend Passagiere sollen sich anfänglich an Bord befunden haben. Da auch hier nur für einen Teil Rettungsboote zur Verfügung gestanden haben, müsste die Opferzahl deutlich höher sein. Auch retten zwei Schiffe schließlich die Überlebenden aus den Rettungsbooten, während in der Realität nur ein Schiff - die "Carpathia" - Überlebende aus den Booten geborgen hat. Der Zusammenstoss und Untergang des Schiffes nimmt ein Viertel des Buches ein. Zu wenig konzentriert der Autor sich auf den Ablauf der Katastrophe und sucht eine Allegorie auf den Untergang des gehobenen wie dekadenten Bürgertums angesichts des drohenden Zweiten Weltkriegs und der Diktatur durch die Nationalsozialisten. 

Das blaue Band, der Geschwindigkeitsrekord wird zu einer Sucht. Stilistisch ansprechend schreibt Kellermann von einem über das Meer fliegenden Giganten. Immer schneller, immer weiter. Ohne Rücksicht auf die Gefahren, bis in Form des Eisberges dieser Traum zerbricht. Ob er den Untergang des Schiffes mit dem Größenwahn der Nazis, der schließlich in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs endete, gleichsetzen wollte, lässt sich am vorhandenen Text nicht mehr erkennen. 

 

In vielerlei Hinsicht ist "Das blaue Band" von Kellermann ohne Frage ein auf der emotionalen Ebene ambivalent bis interessant geschriebenes Buch, das plottechnisch trotz der anderen, in erster Linie deutschen Namen und einem wenig begründeten Ausflug ins latent Übersinnliche mit einem zweiten Gesicht zu eng an der Realität des Untergangs der "Titanic" klebt und im Vergleich zu Prechtl sehr viel intensiver, mit lebendiger charakterisierten Figuren deutlich zurückbleibt. In Hinblick auf Kellermanns eigenes Werk hat sich der Autor seit "Der Tunnel" (1913 entstanden) deutlich zurückentwickelt und liefert - ohne Frage unter dem Druck der Zensur entstanden - einen wenig fiktiven, zu aufwendig verschlüsselten Roman ab, der unterhält, stellenweise kitschig anrührt, aber nicht zum Nachdenken anregt.

 

Bernhard Kellermann, "Das blaue Band,

Roman, Hardcover, 333 Seiten,

Suhrkamp Verlag