Tracer

Rob Boffard

“Tracer” ist nicht nur der Debütroman des Briten Rob Boffard, es ist der erste Band einer ganzen Trilogie um die Läuferin Riley, eine Tracerin. Im übertragenen Sinne könnte man sie auch als Kurierin auf der im Orbit um die Erde kreisenden Raumstation bezeichnen. Dort leben die letzten Menschen, während die darunter liegende Erde unbewohnbar geworden ist. Viele werden unbewusst auch an Franka Potente als Lola denken, die in Tom Tywkers „Lola Rennt“  ein vorläufiges Happy End zumindest sich erlaufen hat.

Ähnlich dynamisch fängt der dystopische Thriller Boffards auch an.  Boffard fügt seiner Geschichte einen Rahmen hinzu. Ein Raumschiff verlässt die Raumstation, nimmt Kurs auf die Erde. Es treten technische Schwierigkeiten auf und das Raumschiff droht in der Atmosphäre zu verglühen. Der Leser kann diese spannend geschriebene Szene nur schwer einordnen. Erst während des finalen Showdowns, der leider auch teilweise unwahrscheinlich und emotional wie bei einer Fernsehshow überladen erscheint, werden die Zusammenhänge zwischen dem Abflug des Raumschiffs und dem perfiden Plan überdeutlich. Es ist leider nicht das einzige Mal, dass der Autor auf Tricks zurückgreift, die im Film/ Fernsehen auch heute noch nicht unbedingt überraschend funktionieren, aber in Buchform zu simpel gestaltet, zu wenig nuanciert herausgearbeitet erscheinen.   

 Die isolierte Welt der Raumstation lernt der Leser in erster Linie aus Rileys Perspektive kennen. Im Vorbeirennen erläutert sie das Leben und Überleben auf der überfüllten Station.  Der Leser begleitet sie auf einer Mission, bei der sie von einer Bande angegriffen und ihre „Fracht“ beinahe gestohlen wird. Erst als die Täter erkennen, was sie evtl. gestohlen haben, fliehen sie.  Ab diesem Moment ist Riley nicht mehr nur ein stolzer Tracer, sondern gegen ihren Willen Mitwisserin in einer komplexen Verschwörung, an deren Ende die Zerstörung eines großen Teils der Station stehen könnte.  Von diesem Augenblick an befindet sie sich im Grunde auf der Flucht. Sie kann über weite Strecken des Plots nur reagieren, wobei an einigen Stellen sich ihre Verfolger auch dümmlich anstellen. Es gibt mehr als eine Szene, in welcher sie eigentlich hätte außer Gefecht gesetzt werden können. Der Aufbau des Buches und die immer stärker werdende Fokussierung auf ihre Handlungen und ihr persönliches Schicksal setzen allerdings voraus, dass sie überleben und auf den letzten einhundertfünfzig Seiten auch agieren kann.  Wie bei ihren Missionen – als Läuferin agiert sie nur selten im Team – ist sie auf sich alleine gestellt. Sie agiert entschlossen und instinktiv teilweise sogar gegen ihr eher rudimentär vorhandenes Wissen. Cineastisch dürfte das konsequent und logisch sein. Aber es wirkt genauso unglaubwürdig und konstruiert, wenn Riley wirklich immer wieder intelligentere Gegner – einer der letzten fliegt mit einem riesigen Messer in der Achse der Station wie in einem Horrorfilm auf sie zu – ausschalten und hereinlegen kann.  Da das Tempo aber in diesen Szenen sehr hoch ist, wird die Schwäche ein wenig ausgeglichen.

 Während die Handlung teilweise zu einfach, zu eng fokussiert konzipiert worden ist, überzeigt die Zeichnung der wichtigsten Figur. Ein wenig orientiert sich Boffard noch an den unzähligen Jugendbuchserien wie „Die Tribute von Panem“ mit seiner Riley. Aber er distanziert sie auch von diesen Publikationen. Positiv kann der Leser schwer mit ihr Warmwerden. Erzähltechnisch setzt dabei Boffard auf eine für ein Debüt nicht einfache Konstruktion. Es gibt einige Szenen, in denen sie als Ich- Erzähler aus der subjektiven Perspektive berichtet und man ihren Gedankengängen bis in die Details folgen kann. Dann tritt der Erzähler einen Schritt zurück und zeichnet aus der dritten Person Perspektive ein umfassenderes Bild der Situation und lässt auch Meinungen von „außen“ zu.  Dabei verzichtet der Autor auf zu kitschige an Charles Dickens Nachfolger erinnernde Szenen und zeichnet sie als junge Frau, die mit trockenem Humor und einem ordentlichen Schuss Selbstbewusstsein weniger durchs Leben als die Station rennt.

 Ihre Antagonisten sind deutlich eindimensionaler gezeichnet. Es ist ja eine Welt mit begrenzten Resourcen. Eine im wahrsten Sinne des Wortes gebrauchte Welt. Es ist schade, dass die beiden Antagonisten weniger gemeinsam zuschlagen, sondern sich gegenseitig zu übertrumpfen suchen. Der Plan entspricht James Bond Dimensionen, wobei wie es sich gehört, er natürlich lang und breit von der Hinterfrau stellvertretend Riley und damit der „Welt“ erläutert wird.  Ein wenig Originalität hätte dem Buch in dieser Hinsicht gut getan.

 Dafür ist die künstliche Welt sehr überzeugend  gezeichnet. Bei einem Film würde der Zuschauer davon sprechen, dass er sie atmen kann.  Die Resourcen werden immer kleiner. Eine Rückkehr auf die Erde aufgrund der eher ambivalent beschriebenen Katastrophe nur nach einem umfangreichen Terraforming Prozess möglich.  Dunkle enge Gänge. Die Betriebssysteme stellen nach und nach ihre Arbeit ein oder werden eher mit gutem Willen und Kaugummi von den frustrierten deprimierten Technikern zusammengehalten. Frisches Wasser ist eine Seltenheit und die Züchtung von Gengemüse funktioniert nicht. Die Proben sind für den Menschen tödlich.  Wie die menschliche Gesellschaft zerfällt die Station.

Politisch bleibt Boffard bei bekannten Mustern. Einige Sektoren sind der Anarchie Anheim gefallen und werden von Banden kontrolliert.  Die Regierung in Form einer Oligarchie kontrolliert andere Bezirke der Station mit eiserner Hand. Schwarzmarkthandel scheint die einzige Möglichkeit zu sein, dass sich die Bevölkerung überhaupt ernähren kann. Trotz drastischer Geburtenkontrolle leben doppelt so viele Menschen auf die doch gigantischen Station als für die sie eigentlich geplant worden ist. Dabei wirft Boffard eher indirekt eine interessante Frage auf.  Warum haben sich die Menschen angesichts der anscheinend nicht überraschend gekommenen Katastrophe nicht eingegraben? Unterirdische Städte wären nicht nur billiger und effektiver gewesen, mehr Menschen hätten überleben können. Die Handlung hätte sogar über weite Strecken so ablaufen können. Nur der finale Showdown passt nicht ganz. Unabhängig von dieser wie einige andere hintergrundtechnisch kaum geklärte Fakten konzentriert sich der Autor darauf, eine erdrückende Atmosphäre zu erschaffen, in der trotzdem meistens im Verborgenen der Faktor Menschlichkeit zumindest ein Schattendasein führt.  

 Ohne Frage gehört „Tracer“ zu der neuen Art von Science Fiction, die eine junge Generation eher als Alternative zum Kino sieht. Cineastisch wird ein großes, aber nicht immer großartiges Bild gemalt. Nicht selten lassen sich die Ausgangsideen mit einigen wenigen Sätzen zusammenfassen und vor allem muss der Plot ein hohes Tempo haben. Einzelne Versatzstücke werden nicht selten auch ein wenig konstruiert in den Handlungsbogen eingepasst und die Motivation der einzelnen Figuren sollte klar zu erkennen sein. Alle diese Prämissen erfüllt „Tracer“ teilweise sogar überdurchschnittlich gut.  Wie einige andere Debütromane verfügt „Tracer“ über einen sehr starken, sehr gelungenen Auftakt, bevor der Handlungsbogen glatter wird und sich die ersten Kompromisse einschleichen. Gegen Ende mit der fast obligatorischen Durchquerung der Station auf dem Weg zur Kommandozentrale präsentiert  der Autor zwei/ drei gute Situationen, bevor der finale Showdown in der angesprochenen James Bond Manier mit einem halben Happy End abläuft.  Tempotechnisch überzeugend zeigt „Tracer“ als Debüt eine Reihe von sehr guten starken Szenen, aber auch zahlreiche Schwächen, die den Roman als zu glatt, zu wenig mit echtem Herzblut als einen kommerziellen Erfolg im Auge geschrieben erscheinen lassen.

 

 

 

  • Taschenbuch: 512 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag (9. Mai 2016)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453317343
  • ISBN-13: 978-3453317345
  • Originaltitel: Tracer - Outer Earth