Clarkesworld 118

Neil Carke

Neil Clarke geht wie in jedem Jahr auf die besondere Bedeutung vom “Readerscon” für ihn persönlich und sein Magazine ein.  Viel interessanter ist das Interview mit Michael Swanwick, in dem er nicht nur über seine neue Kurzgeschichtensammlung spricht, sondern die Reisen, welche ihn auch zu seinen längeren Arbeiten inspiriert haben. Swanwick ist ein so routinierter Erzähler, dass er die Schwächen der Fragen ausgleicht. Peter Watts spricht in „Another Word“ über das Abbrennen von Brücken. Er ist kein einfacher Kolumnist, der seine eigenen Schwächen als Herausgeber eher im Hintergrund propagiert, während er über die Medienlandschaft, die Aufmerksamkeit für sein Werk und schließlich auch seine Popularität durch den Grenzvorfall berichtet. Die Kanten sind zu akzeptieren, ansonsten wirkt Peter Watts ein wenig zu exzentrisch.  Christopher Mahon schreibt über die märchenhaften Vorlagen, aus denen Autoren wie William Morris die viktorianischen Fantasy Storys geschmiedet hat. Anfänglich vielleicht ein wenig zu detailverliebt geht der Autor schließlich im Zeitraffer auf einige wichtige frühe Autoren des Fantasy Genres ein.

Die beiden Nachdrucke „Nahiku West“ aus der Feder Linda Nagatas und „Lion Walk“ von Mary Rosenblum sind futuristische Kriminalgeschichten,  in denen das konsequente wie die Persönlichkeit unterminierende Upgrade von Menschen keine unwichtige Rolle spielt. „Lion Walk“ ist dabei die befriedigendere Arbeit, denn Mary Rosenblum konzentriert sich vor allem auf die Atmosphäre. In einem der letzten Reservate auf der Erde werden wilde Tiere wieder zurück gezüchtet, so dass sie nicht mehr kybernetisch überladen erscheinen, sondern natürlicher und in ihren Lebensräumen sich für die Touristen „normal“ verhalten. Die Anlage wird von einer Außenseiterin Tahira geleitet, die im Grunde wie die Tiere aus einer anderen, längst vergessenen Zeit stammt. Morgens sieht sie, wie ein junges, leicht bekleidetes Mädchen von den Löwen angegriffen und getötet wird. Ihr Vorgesetzter sagt, sie soll einen der Löwen als Bauernopfer töten, um die Öffentlichkeit zu beruhigen, während sie der Meinung ist, dass der Tod des Mädchens als Snuff Porno initiiert worden ist.  Anscheinend ist das Sicherheitssystem manipuliert worden.  Während der Beginn mit dem interessanten, dynamischen Auftakt, den verschiedenen Fakten und Vergleichen sehr gut gelungen ist, hängt der Plot im Mittelteil ein wenig durch, da der zugrundeliegende Kriminalfall mit der Hilfe von innen zu leicht zu durchschauen ist. Es fehlt hier eine grundsätzliche Bedrohung. Die Jägerin mit einer persönlichen Rechnung wirkt zu sehr als Ablenkung, zumal sie nicht ihren Instinkten folgt und auf der anderen Seite auch nicht in diese Richtung absichtlich geschickt worden ist.  Es sind die wilden Tiere, die vom Menschen bewundert und geschützt im Grunde auch nur ein politisches Spielzeug sind, dass jederzeit beseitigt werden kann. Auch die kantige, intelligente und sich nicht einschüchtern lassende Tahira ist ein vielschichtiger, dreidimensionaler Charakter, welche die Geschichte nicht nur zusammenhält, sondern viele Ereignisse greifbar macht. Eine dunkle Story, in welcher natürlich die Menschen wieder ihr größter, geldgieriger und hinterhältiger Feind sind, während die angefeindeten Wildkatzen nur ihren Instinkten folgen.   „Nahiku West“ gehört zum „Nanotech Succession“ Zyklus, an dem die Autorin seit vielen Jahren arbeitet. Während Mary Rosenblum ihr Verbrechen ganz offen in den Mittelpunkt der Ermittlungen stellt, muss Polizeioffizier Zeke Choy erst einmal herausarbeiten, ob es wirklich Beschuldigter bei einem Verbrechen sein kann, dessen Existenz erst einmal bewiesen werden muss.  Das Zielobjekt Key Lu konnte von einem Orbital zum anderen wechseln, ohne einen Kratzer zu erleiden. Dadurch unterschreibt er sein eigenes Todesurteil. Mit dem aus ihren längeren Arbeiten bekannten Hintergrund und vor allem der Fokussierung auf einen zweitrangigen Charakter aus einem dieser Roman; dem intensiven an Scotts „Blade Runner“ erinnernden Hintergrund und der gut zu Ende geführten Kriminalhandlung unterhält diese Geschichte ausgesprochen gut, auch wenn im direkten Vergleich „Lion Walk“ sehr viele brisante aktuelle Themen anreißt und von den Protagonisten her zugänglicher ist. Beide Nachdrucke können qualitativ überzeugen und bilden einen der Höhepunkte dieser Ausgabe. 

Während die Nachdrucke sich vor allem um eine kybernetische Zukunft Sorgen machen, sind die Erstveröffentlichungen in ihrer Mehrzahl im Grunde „weird Science Fiction“. „Helio Music“ von Mike Buckley eröffnet diesen Rahmen.  Es geht um Musik und die Unterdrückung der Menschen, die auf den Status von verwertbaren Waren reduziert worden sind.  Es ist die Geschichte eines jungen Mädchens, die aufgrund ihrer musikalischen Neigungen dieser dunklen Zukunft zumindest in ihrem Inneren entkommen kann.  Ein seltsamer Mann nimmt sie aufgrund ihrer Fähigkeiten auf. In der Mitte des Handlungsbogens bricht der Autor absichtlich mit den Erwartungen der Leser  in dem er die junge Frau zum Opfer und Täter gleichzeitig werden lässt. Es ohne Frage schwierig bis unmöglich, dieses Gefühlschaos wirklich überzeugend und ohne Kitsch/ Pathos zu beschreiben, aber Buckley geht einen guten Weg, um sowohl den dunklen Hintergrund als auch die Hoffnungen/ Enttäuschungen der einzelnen Protagonisten im Vordergrund zu einer konzentriert erzählten Kurzgeschichte zu verbinden.  Auch in „Fish Dance“ von Eric Schwitzgebel steht der Protagonist vor schwierigen Entscheidungen irgendwo zwischen Himmel und Hölle, dem Organischen oder Synthetischen. Während die junge Protagonistin in der ersten Geschichte zu einem Werkzeug umgeformt wird, geht es hier um die Entscheidung, nach dem tödlichen Unfall der Tochter Mensch zu bleiben oder eine künstliche Intelligenz zu werden.  Schwitzgebel bietet keine Lösungen an, sondern provoziert teilweise mit zu übertriebenen religiösen Bildern, welche die Verarbeitung eines Traumas, eines Verlusts teilweise zu experimentell relativieren als das sie dem Protagonisten und damit stellvertretend auch dem Leser helfen, solche Situationen zu akzeptieren. Stilistisch zu herausfordernd fehlen die notwendigen emotionalen Zwischentöne.

Viele Leser nehmen die Fußnoten in Texten nicht zur Kenntnis. Bei „The Sentry Branch Predictor Spec: A Fairy Tale“ von John Chu sind diese Fußnoten ein elementarer Bestandteil der ganzen Geschichte.  Der absichtlich distanziert technische Stil ist eine Komponente dieses modernen Märchens mit verschiedenen immer wieder gut voneinander getrennten Wegen, welche anscheinend die Maschine für den Menschen auswählt. Auf der anderen Seite versucht John Chu neben dem technokratischen Standard auch die zwischenmenschlichen Aspekte herauszuarbeiten und scheitert hier auf erstaunlicher breiter Front, so dass die grundlegende Idee anfänglich gut extrapoliert ist, die einzelnen Wege aber nicht überzeugend genug herausgearbeitet worden sind.

Neben den vier mittleren Texten präsentiert die 118. „Clarkesworld“ Ausgabe auch eine Novelle.  Jack Schoutens „Sephine and the Leviathan“ ist eine von Action dominierte Space Opera, in der es um das Schicksal der Zwillinge Sephine und Rokri geht,  die über die geheimen Koordinaten der Heimatwelt ihrer Leute verfügen. Natürlich gibt es die Antagonisten, die mit aller Macht diese Daten in ihren Händen haben wollen. Der Auftakt ist eher eine Aneinanderreihung von Klischees und bekannten Mustern, bis durch den Absturz der Zwillinge über einer unbekannten Welt der Fokus sich wendet und andere Ideen/ Aspekte wichtiger werden.  Wenn ein nicht näher bezeichnetes Schiff die beiden Zwillinge allerdings mit einigen Jahren zeitlichem Unterschied aufnimmt, dann schließt sich der Kreis. Die Figuren sind solide gezeichnet, wobei sich der Autor auch den Vorwurf gefallen lassen muss, seine futuristische Welt ausführlicher und vor allem auch bizarrer beschrieben zu haben als die Handlungen der Zwillinge, die sich angesichts der gemachten Erfahrungen zu leicht manipulieren lassen. Dabei ist sich der Autor nicht sicher, ob diese Manipulation aus der Situation heraus erfolgt ist oder langfristig geplant erscheint.  Bis zum furiosen und zufriedenstellenden Ende ist das Tempo der Erzählung hoch, so dass die Ideen auch für einen Roman ausgereicht hätten.  Auf der anderen Seite ist die Ausgangsprämisse insbesondere mit der ambitionierten bösen Macht zu oft im Genre angewandt worden, als das sie auch in einem gut geschriebenen Text nicht überzeugen kann.          

Zeitreisegeschichten sind in „Clarkesworld“ eher selten. Wenn Neil Clarke sich für diese Thematik entscheidet, dann handelt es sich meistens um kraftvolle, aussagekräftige Texte, die vor allem sich mit den menschlichen Komponenten und weniger Zeitschleifen oder Paradoxa auseinandersetzen. So erhält in A. Ques „Against the Stream“ der Protagonist nach  einer gescheiterten Ehemann und dem Verlassen werden durch die Geliebte eine zweite Chance, um sich rückwärts mit dem ganzen Wissen der Gegenwart gehend in seine ehemalige Frau noch einmal zu verlieben.  Ohne technische Extrapolation könnte es auch eine Reise des Geistes sein, an deren Ende die bittersüße Erkenntnis steht, dass eine zweite Chance auch das Aufgeben der Fehler und dem daraus erwachsenen Wissen bedeutet.  Que gelingt es, die „Deus ex Machina“ Mentalität aus dieser Thematik zu nehmen und eine Reise zurück nicht mit einer grundsätzlich zweiten Chance zu vergleichen. Am Ende stellen sich der Protagonist wie der Leser der jeweiligen Verantwortung und den Entscheidungen, die er getroffen hat, so dass das phantastische effektive eingesetzte Element mit dem humanistischen Spannungsbogen effektiv zusammenfällt.  

Zusammengefasst eine solide „Clarkesworld“ Ausgabe mit thematisch unterschiedlichen Texten, wobei sowohl die beiden Nachdrucke als auch die übersetzten, von asiatischen Autoren stammenden Storys überzeugen können.  Ein dunkles, den Tenor der vor allem kurzen Storys dieser Ausgabe treffendes Titelbild eröffnet den Blick auf einen bunten Reigen von sieben mindestens kurzweilig zu lesenden Texten.

www.clarkesworldmagazine.com

E- Book, ca. 100 Seiten