Die lange Erde

Terry Pratchett & Stephen Baxter

"Die lange Erde" ist nicht nur die erste Kooperation zwischen Terry Pratchett und Stephen Baxter, es ist - wie das frustrierend offene, erstaunlich dunkle Ende suggeriert- der Auftaktband einer ganzen Serie, die sich eher in Baxters "Evolutions" Romane einreiht denn das die "Lange Erde" eine Ähnlichkeit mit Pratchetts Scheibenwelt aufweisen könnte. Verträge für die Teile zwei bis vier sind unterzeichnet worden. Auf der anderen Seite ergänzen sich die beiden Autoren auch erstaunlich gut. Pratchetts lebhafte, aber bodenständige Phantasie paßt zu Baxters wissenschaftlich stringenten Ansatz. In der Konzeption erinnert der Schwerpunkt des Romans sogar an Baxters "Zeitschiffe", nur das Joshua an Bord des Luftschiffes "Mark Twain" in Begleitung der Schiffsintelligenz und Persönlichkeit Lobsang immer weiter nach Westen die lange Erde entlang aufbricht. Wer sich mit Pratchett frühem Werk auskennt, wird aber verblüffende Ähnlichkeiten zum ersten, noch nicht so exzentrischen "Scheibenwelt" Roman entdecken. In beiden Serien geht es im Grunde um die Erkundung eines Phänomens. Während die "Scheibenwelt" Abenteuer sich auf komische Magie und Fantasy konzentrieren, wirkt "Die lange Erde" wie der Ansatz, den Pratchett in seinen Vorscheibenwelt Science Fiction Romanen  ausprobiert hat. Das Konzept dieser neuen Serie soll auf einer nicht mehr veröffentlichten Kurzgeschichte "The High Meggas" basieren, die  Pratchett während der Veröffentlichung seines ersten "Scheibenwelt" Romans verfasst hat. Der Erfolg von "The Colour of Magic" hat den Briten bewogen, die "Lange Erde" zu Gunsten der "Scheibenwelt" Serie aufzugeben.

Die Grundidee der "langen Erde" ist eine Reihe von alternativen Erden, deren Zahl auf den ersten Blick "unendlich" erscheint. Im Gegensatz zu Fernsehserien wie "Sliders" verfügen diese alternativen Erden, einen Gedanken bzw. Sprung entfernt, über keine Bevölkerung. Sie liegen in der gleichen Zeitzone und stehen als "Eden" der Menschheit zur Besiedelung, zum Neubeginn zur Verfügung. Die Leute können auf zwei Arten in diese Welten springen. Da gibt es die kleine priviligierte Gruppe der natürlichen Wechsler, die anscheinend schon seit einigen Generationen über diese Fähigkeiten verfügen, sie aber geheim gehalten haben. Joshua ist einer dieser natürlichen Springer, ein Soldat aus dem Ersten Weltkrieg ein anderer. Sie verspüren auch nicht die mit dem Übergang in Zusammenhang stehende Übelkeit. Die andere Gruppe wird durch eine ins Internet gestellte Maschine - die Wechslerbox - aufgeschreckt, die kinderlich zusammenzubauen und als typischer Pratchetteinfall von einer Kartoffel angetrieben wird. Mit dieser Box verlassen bis auf eine Handvoll von an die Erde gebundenen Individuen Milliarden von Menschen ihre Heimat und reisen sowohl nach Osten als auch Westen der Strang der langen Erden entlang, um wie die Frontier im Wilden Westen neues Land für sich zu erschließen.

Baxter und Pratchett bauen ihren Roman wie ein Kaleidoskop um zahlreiche Ereignisse und im Grunde zwei konträre Charaktere auf. Neben dem anfänglichen Einsiedler Joshua noch die Polizistin Janssen. Aus dieser Figur können beide Autoren nicht viel machen. Sie ist auf der einen Seite neugierig und aufgeschlossen, auf der anderen Seite aber auch eine Anhäufung von Klischees, als wenn Erwachsene nur stören würden. Die einzelnen Episoden reichen vom Goldrausch - durch die unendlich vielen Welten besteht wenig Interesse mehr an raren Bodenschätzen - über die extremen Randgruppen bis zur Siedlung "Happy Landing", in welcher die guten Seiten der Menschen ohne den mehrfach kritisierten Zivilisationsdruck zu Tage treten. Da die Siedler kein Eisen mit sich nehmen können, bleiben die Siedlungen ländlich archaisch. Baxter und Pratchett bemühen sich über weite Strecken, diese zuckersüße Idealität aufrecht zu erhalten, ohne dass sie damit viel anfangen können.

"Die lange Erde" wirkt nicht nur in diesem Punkt wie ein Konzept. Auf der Reise gen Westen durchstreift Joshua viele nicht immer wirklich unterschiedliche Welten und trifft auf zwei extreme Punkte, aus denen die Autoren nicht viel machen. Zum einen hört die lange Erde irgendwann nach der millionsten Variation einfach auf und das Luftschiff landet mit seinen Insassen im Nichts. Auf anderen Variationen gibt es keinen Mond, weil der Planet zwischen Mars und Jupiter nicht zerbrochen ist. Aber bis auf ein unwirtlicheres Klima scheint es keine Unterschiede zu geben. Auch die potentielle Idee, das die Kopien irgendwann an Kraft verlieren, wird nicht weiter durchgespielt, auch wenn es der Text impliziert. Viel schlimmer ist, dass es ganz weit im Westen eine unheimliche "Kraft" geben muss, welche insbesondere zum Wechseln fähige wilde Tiere förmlich vor sich hin gen Osten und damit den Siedlern entgegen treibt. In diesen Passagen gelingen Baxter und Pratchett unheimlich intensive Bilder, ohne das vor allem der vorliegende Roman diese roten Fäden in Ansätzen aufgreift. Es bleibt zu hoffen, dass dieses gewaltige Potential in den nächsten Romanen gehoben wird.

Auf der politischen Ebene wird eine neue Gesellschaft angedeutet, in welcher die Möglichkeit des Hin- und Herspringens inklusiv der Positionsverschiebung die Chance bietet, als Terrorist jegliche Sicherheitskonzepte zu durchkreuzen. Natürlich folgt im Umkehrschluss umgehend eine Aufrüstung mittels eines Zustellen des Raums. Die Frage wird aber nicht geklärt, was mit einem Springer passiert, die in einer Mauer oder in einem Schreibtisch materialisiert. Ansonsten müßte es sehr viel mehr Tote geben. Alleine das Argument, das sich die Erden so sehr ähneln, das man seinen Sprung genau planen kann, während ab einem bestimmten Zeitraum durch einen nicht vorhandenen Mond zumindest das Klima  geändert, die Taktik aber gleich bleibt, reicht als befriedigende Erklärung nicht aus.

Genauso wirkt das Ende überzeichnet. Nachdem die Autoren mehrfach erklärt haben, dass der unendliche Raum, die freie Enthaltungsmöglichkeit auf einen natürlich primitiveren Niveau den Druck aus dem Zivilisationskessel genommen hat, drehen sie auf der alten Erde im Grunde den Schlüssel mittels einer Atombombe wieder um. Dabei wäre der Grundansatz mit einem Optimismus dem Individuum gegenüber so einzigartig anders. Die Erklärungen sind nachvollziehbar und die politische extreme Liga der zwangsweise Zurückgebliebenen mit ihrer Forderung nach Steuern und keinen Subventionen wirkt wie ein Seitenhieb auf die gegenwärtige überforderte Politik. So dramatisch der Showdown angesichts der ruhigen Plotentwicklung auch sein mag, er wirkt unnötig und überzogen.

 

"Die lange Erde" ist nicht unbedingt ein lustiges Buch. Nur an den Dialogen und ein oder zwei extremen Einfällen erkennt man direkt Pratchetts Einfluss. Auf der anderen Seite steht im Mittelpunkt mit Joshuas Reise gen Westen eine klassische Expedition, die in ihrer Vielfalt mit den besten Werken des Genres - siehe Nivens, Clements und schließlich auch Forwards "Reisen" - mithalten kann. Joshua ist in seiner selbst gewählten Einsamkeit im Grunde ein verletzlicher Charakter, der Vertrauen zu einer künstlichen Intelligenz und Liebe zu einer jungen Frau, die er irgendwann auf Erde fünfhunderttausendplusx aufnimmt, erst wieder lernen muss. Auch wenn auf vielen Erden nicht viel passiert, setzen Baxter und Pratchett pointiert und routiniert einige Höhepunkte, von denen aber nicht alle zum Leidwesen der Gesamtkonstruktion des Buches extrapoliert werden.

Joshuas Reise ist in ihrer Erhabenheit und Ruhe faszinierend. Wie schon angesprochen ist das Tempo der majestätischen Idee angepasst und wird bei einigen Lesern von Action orientierten Plots auf Ablehnung stoßen. Bei diesem Roman passt es allerdings. Es ist das Bedürfnis da, mehr über diese Schöpfung zu erfahren. Das ist die große Stärke dieses Buches, dass sich auf der charakterlichen Ebene auf eine Handvoll von Außenseitern konzentriert und diese mannigfaltig dreidimensional beschreibt.  Selbst die Idee von zahllosen Parallelwelten wird geschickt variiert und um die Facette des grenzenlosen Lebensraums für alle extrapoliert. Baxter und Pratchett schenken ihrer Menschheit ein Grundbedürfnis zurück, das insbesondere im Werk Stephen Baxters – siehe „Evolution“, aber auch die Mammut Trilogie,  die vier Romane um die Zeitverschwörung oder die in Deutschland bislang nicht veröffentlichte „Nordland“ Trilogie – deutlich mehr verankert ist als angesichts seiner frühen Geschichte bekannt ist: das Überleben auf sich alleine gestellt.

Wer den Humor der „Scheibenwelt“ Romane liebt, wird irritiert sein. „Die lange Erde“ ist ein Baxter Roman. Ein guter Baxter mit einigen eher für sein Werk unerklärlichen Schwächen, die auf eine Beschränkung des Umfanges hindeuten, aber ein lesenswerter, interessanter, bis auf wenige Szenen ungewöhnlich warmherziger Roman, welcher dem immer wieder zitierten Vorbild das Wasser reichen kann: es ist kein Zufall, dass das Luftschiff Mark Twain heißt.    

 

Originalverlag: Transworld
Aus dem Englischen von Gerald Jung

Originaltitel: The long Earth

Paperback, Klappenbroschur, 400 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-442-54727-2