Vom Mars zur Erde

Vom Mars zur Erde, Titelbild, Rezension
Hans Rosenstengel & Waldemar Kringel

 Fünf Geschichten von zwei Autoren präsentiert Dieter von Reeken in „Vom Mars zur Erde“. In mehrfacher Hinsicht stellt die Kombination dieser Storys eine bemerkenswerte Wiederentdeckung da. Zum einen stammen zwei Texte aus der Zeit zwischen den Weltkriegen – die Geschichten Hans Rosenstengels – und atmen zumindest teilweise den Geist der utopischen Stoffe aus einer Epoche vorher, während Waldemar Schillings (alias Ferdinand Kringels) vor dem Ersten Weltkrieg entstandene Geschichten teilweise intellektuell moderner erscheinen als es Rosenstengels vor allem „Des Himmelsstürmers Planetenfahrten“ ist.

 Dieser Text orientiert sich nicht nur durch die Veröffentlichung in „Das deutsche Knabenbuch“ (1922) an einer aufklärenden bis belehrenden Jugendliteratur. Die Grundidee des Raumschiffantriebs hat Hans Rosenstengel anscheinend bei H.G. Wells entnommen. Die Schwerkraft soll Ziel gerichtet überwunden werden, in dem nach einigen Versuchen und ihrer zufällig entdeckten Wirkung ein Wunderstoff entwickelt wird, der irgendwo zwischen dem angesprochenen H.G. Wells Roman und den Erzählungen aus „1001 Nacht“ angesiedelt werden kann. Wie in den meisten utopischen Stoffen dieser Epoche ist die Eroberung des Weltalls reine Privatsache. Ein Raumschiff wird gebaut, ein erster experimenteller Flug zum Mond unternehmen, bevor die zweite Reise zur Venus und eigentlich auch zum Merkur erfolgen soll. Interessant sind aber vor allem im direkten Vergleich mit der zweiten Geschichte Rosenstengel verschiedene Ansätze. Zum einen begegnen die Protagonisten – in „Des Himmelsstürmers Planetenfahrten“ sind es die Deutschen, in „Vom Mars zur Erde“ die Marsianer – jeweils gefährlich werdenden Meteoriten. Zum Zweiten aber nutzen beide große Himmelskörper als freiwillig geplante oder die Rettung bringende Transportmöglichkeit.

 In „Vom Mars zur Erde“ nehmen die Menschen durch Zufall mit den Marsianern Kontakt auf. Die Geschichte ist einige Jahre später (1925 und ebenfalls im „Deutschen Knabenbuch) veröffentlicht worden. Der Grundton ist deutlich pazifistischer. In beiden Texten sind aber die Engländer Schurken. Während sie in „Des Himmelsstürmers Planetenfahrten“ wie in Hans Dominiks Romanen die Erfindungen der Deutschen stehlen und kopieren wollen, versuchen sie nur impliziert die Marsianer in die Sahara zu locken, um dort Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Beide Unternehmen scheitern.

 Auch in „Vom Mars zur Erde“ landen in diesem Fall die Marsianer als eine Art Zwischenstopp kurz auf dem Mond. Die eigentliche Kontaktaufnahme erfolgt dann mit einem deutschen Wissenschaftler in der Lüneburger Heide, wo er eine Landestelle extra für sie präpariert hat. Die marsianische Zivilisation ist wie in den Geschichten Alfred Daiber und Kurd Lasswitz alt, erhaben und hierarchisch semidemokratisch aufgebaut. Es herrschen paradiesische Zustände auf dem Mars.

 Interessant ist, dass Hans Rosenstengel einen fast ähnlichen, aber technokratischen Ansatz in „Des Himmelstsürmers Planetenfahrten“ für die Erde entwickelt hat. Bis auf den Hass auf die Engländer leben die Deutschen in einem erstaunlichen Wohlstand und können mittels Flugwagen schnell alle Ziele erreichen. Den Marsianern wird aber auch eine andere Erde gezeigt. Der deutsche Kontaktmann schleift sie neben anderen Zielen und Politikern auf der Welt auch in das Herz der deutschen Arbeiterschaft Essen, wo sie das Proletariat inklusiv für ein Knabenbuch provokant sogar Dirnen kennen lernen. Es ist kein Wunder, dass die erwähnten Goldfunde auf dem Kometen Eos schließlich die Gier der Menschen auslösen und die Marsianer vertreiben. Eintausend Jahre wollen sie nichts mehr mit den Menschen zu tun haben.

 In der ersten Geschichte geht es mehr um die friedliche, wie auch abenteuerliche Erforschung vor allem der Venus, welche auf der Sonnen zugewandten Seite über eine paradiesisch urwüchsige Flora und Fauna verfügt, während die nur indirekt erwähnte abgewandte Seite aus tiefsten Forst zu bestehen scheint. Bei der Beschreibung der Venus scheinen die entsprechenden Burroughs Geschichten Pate gestanden zu haben.

 Interessant ist auch, dass Hans Rosenstengel vom Kapitalismus begeistert ist. Da werden Aktiengesellschaft gegründet, deren in den Himmel steigende Kurse oder zusammenbrechende Unternehmen Menschen reich oder arm machen. Immer wieder weist der Autor auf den Wahn hin, in kurzer Zeit ohne viel Arbeit reich werden zu wollen, während die Intellektuellen, die Forscher nicht nur das eigene Leib und Leben riskieren, sondern im Falle von „Des Himmelsstürmers Planetenfahrten“ sogar den eigenen Sohn als eine Art experimentellen Schulausflug an Bord haben. Immerhin hat einer der beiden Söhne des Erfinders auch schon mit Radium experimentiert.

 Natürlich bieten beide Geschichten als Komplex gesehen nicht viele neue Ideen an. Erzählerisch immer am Rande der Belehrung in einem gleichförmigen distanzierten Stil geschrieben erscheinen die Storys irgendwie selbst für die zwanziger Jahre aus der Zeit gefallen. Sie wirken wie zwanzig Jahre vorher entstanden. Die Ideen der friedlichen Erforschung des Alls und dem gleichberechtigten Kontakt mit Fremden, in diesem Fall Marsianern, sind solide entwickelt. Vor allem zeigt Hans Rosenstengel die Faszination der Tiefen des Alls auf und klärt fast nebenbei seine Leser über wichtige Entwicklungen oder entsprechende Phänomene auf.

 Das einige kleinere Aspekte mehr als eine Hommage an die angesprochenen Autoren sind, steht auf einem anderen Blatt, aber eine zumindest aus literaturhistorischer Sicht Wiederentdeckung sind die beiden längeren Geschichten Hans Rosenstengels Wert, über den es wie bei Waldemar Schilling so gut wie keine persönlichen Hintergrundinformationen gibt.  

 Auch über Waldemar Schilling alias Ferdinand Kringel gibt es so gut wie keine Informationen. Von seinen bislang bekannten Veröffentlichungen liegen nur die drei in dieser Anthologie gesammelten Texte vor, wobei zwei Storys unmittelbar mit dem Mars in einem Zusammenhang stehen, während „Die Diamantenjagd im Weltenraume“ ein klassisches Abenteuerstoff mit einem spektakulären Titel ist.

 Der 1907 veröffentlichte Stoff „Von der Erde zum Mars“ basierend angeblich auf eigenen Erlebnissen ist eine sehr unterhaltsame Geschichte. Sie beginnt spektakulär fast in der Manier Jules Vernes. Eine reiche Französin will ihr gigantisches Vermögen dem Mann vererben, der nachweislich Kontakt zum Mars herstellt. Auf eine originelle Art und Weise werden die Bedingungen dieses allgemein gültigen Testaments auf der Erde und schließlich auch dem Mars verteilt. Ein junger Wissenschaftler auf dem Mars versucht dank dieses Testaments mit der Erde Kontakt aufzunehmen und das Erbe anzutreten. Der deutsche Wissenschaftler, welcher die Botschaften vom Mars empfängt, will ihn erst ausbooten, macht ihm dann aber einen interessanten Vorschlag.

Neben den pointierten, vielleicht manchmal auch ein wenig zuckersüßen Passagen strotzt die Geschichte vor Einfällen. Ein Komet bedroht sowohl die Erde als auch den Mars; die drohende finale Vernichtung will der Marsianer mit seiner Verlobten im Kreis der befreundeten Wissenschaftler verbringen. Auch die Erde beobachtet fast beiläufig den sie in der Atmosphäre streifenden Kometen.

Der Austausch zwischen den beiden Planeten erfolgt auf eine sehr originelle Art und Weise. Es ist allerdings die Kumulation einer Reihe von mehrere Seiten mit Unterbrechungen umfassenden Berechnungen, welche den Verfasser nicht nur als Forscher, sondern fast als Mathematiklehrer seiner Leser entlarven. Die Art und Weise, mit welcher der Marsianer Briefe an seine Verlobte schreibt, ist distanziert, belehrend, fast hochnäsig. Sie entsprechen dem Zeitgeist dieser Epoche. Erst im Laufe der Handlung werden die ehrenwerten Motive des jungen ehrgeizigen Mannes offenbar.

Der Kurzroman beschränkt sich auf die Kontaktaufnahme, Ansätze für eine Raumfahrt finden sich nicht, so dass der „Handel“ zwischen dem Mars und der Erde wirkt sehr überzogen, als wenn der Autor seinem kurzweiligen Stoff noch ein optimistisches Ende hinzufügen wollte. Die Kultur auf dem Mars unterscheidet sich sozial nur wenig von der Erde, aber die Marsianer sind mehr als sechs Meter groß, kahlköpfig und ernähren sich ausschließlich von entsprechenden Pillen, das Zeitalter des Fleisches haben sie hinter sich gelassen. Aber sie haben keine Skrupel, den Menschen irgendwie Marsforellen anzubieten.  Auf der anderen Seite ist interessant, dass Schilling/ Kringel – es gibt tatsächlich im Roman auch einen Protagonisten mit diesem Namen – die Niagarafälle zum größten Elektrizitätswerk der Welt macht und damit den gegenwärtigen grünen Entwicklungen mindestens einen Schritt voraus ist.   

 Aber  nicht nur wegen solcher Extrapolationen ragt der Stoff aus der Masse vieler utopischer Geschichten vor allem durch eine Reihe von originellen Wendungen im Handlungsverlauf und einer flott erzählten Prämisse positiv heraus. 

 Sechs Jahre nach dieser Novelle und als einzige Veröffentlichung unter seinem bürgerlichen Namen präsentiert der Autor mit „Fünf Jahre auf dem Mars“ keine Fortsetzung, sondern eine Variation des Themas. Die Marsianer sind immer noch kahlköpfig und sechs Meter groß, kulturell und intellektuell den Menschen überlegen. Sie ernähren sich immer noch von den Pillen, wobei anscheinend fleischliche Materialen wieder verarbeitet werden. Auf diesen Mars wird mittels eines Experiments der Astralleib – also der Geist – des Erzählers versetzt. Er lebt mehrere Jahre unter den Marsianern und verliebt sich sogar in eine Zwergin. In „Von der Erde zum Mars“ hat sich die Tochter des Professors in einen Marsianer verliebt, den sie nur mittels Fernkommunikation kennen gelernt hat. Hinsichtlich des Hintergrundmaterials stellt „Fünf Jahre auf dem Mars“ trotz einer gänzlich anderen Prämisse eine sehr gute Ergänzung hinsichtlich der marsianischen Kultur dar. Das Ende mit dem Trauma nach einem Unfall und dem Erwachen im für den Erzähler ungünstigsten Augenblick ist eher pragmatisch einfallslos und eine echte Sympathie wird zum Erzähler aufgrund seiner gestelzten, sehr distanzierten Vorgehensweise nicht wirklich aufgebaut. Interessant ist aus literarischer Sicht, wie der Autor eine Idee variiert hat.

 „Die Diamantenjagd im Weltenraume“ ist nur bedingt eine phantastische Geschichte. Es geht viel mehr um Diamanten aus dem Weltenraume. Ein reicher Industrieller und Forscher verstirbt und hinterlässt seiner verträumten Tochter eine Art Schnitzeljagdkarte, an deren Ende sie irgendwo zwischen Europa, Ägypten und schließlich den Niagarafällen – ein wiederkehrendes Motiv in Schillings Werk – das wahre Glück findet. Der Text beginnt sehr unterhaltsam und vor allem die weibliche Hauptfigur mit einem komplizierten und nur durch einen Zufall zu lösenden Rätsel konfrontiert ist anfänglich erstaunlich zugänglich wie dreidimensional charakterisiert worden. Wie in „Von der Erde zum Mars“ befinden sich viele Ideen auf engsten Raum zusammengepresst und ein natürlicher Erzähler wie Jules Verne hätte aus diesem ihm auf den Leib geschriebenen Stoff sehr viel mehr machen können als Waldemar Schilling, der sich redlich bemüht, die romantischen Elemente erst gegen Ende zu zeigen und vor allem in der ersten Hälfte mit dem schwierigen Rätsel das Interesse auch vieler jugendlicher Leser weckt.

 In bekannter Manier mit Abdrucken der Titelbilder und einiger Randnotizen am Ende der Anthologie hat Herausgeber Dieter von Reeken in liebevoll detaillierter Kleinarbeit die  bzw. im Falle Waldemar Schillings einige Werke zweier wirklich heute noch unbekannter Autoren des phantastischen Genres zusammengefasst und präsentiert. Natürlich wirken die Geschichten heute ein wenig antiquarisch und manche sprachliche Wendung erscheint hingebogen,  aber sie zeigen nicht nur das damalige Weltbild, sie überzeugen auch durch die originelle Auseinandersetzung mit damals schon sehr populären Themen wie dem Leben auf dem Mars oder dem Flug zumindest zu den Nachbarplaneten, wenn schon nicht den Sternen.

Verlag Dieter vomn Reeken

Klappenbroschur, 238 Seiten, 27 Abbildungen
ISBN 978-3-945807-18-7