Forever Magazine 45

Neil Clarke (Hrsg.)

Herausgeber Neil Clarke schreibt über seine neue Buchreihe, in welcher er sich vor allem auf Übersetzungen von Kurzgeschichten aus dem asiatischen Raum konzentrieren möchte. Fast beiläufig fällt ihm auf, dass die drei Geschichten von Autoren aus Großbritannien stammen. Eine Art Abstammungsübereinstimmung. Nicht alle Autoren leben noch in Großbritannien, aber der europäische Flair setzt sich in den Texten durch.  

 "Erosion" von Ian Creasey ist der kürzeste Text der Ausgabe. Ein Astronaut schon mit seinem zukünftigen Exoskelett fürs Leben auf anderen Welten verbunden hat sich von der Erde, der Familie und der Freundin verabschiedet. Er wandert die raue Küste entlang. Dort trifft er auf den virtuellen Geist einer alten Frau, die auf ihren "Mann" am eigenen Grab wartet, der draußen auf dem Meer geblieben ist. Der Drang, noch einmal zu leben und auf der Erde eine Gefahr heraufzubschwören ist übermächtig und so bringt sich der Protaginist beinahe selbst um seine Mission. Es ist eine stimmungsvolle Geschichte mit seiner fatalistischen, aber auch romantisch wilden Atmosphäre. Dem Autoren gelingt es sehr gut, auf der einen Seite den wehmütigen und wahrscheinlich endgültigen Abschied von einer ausgebrannten Erde zu beschreiben und gleichzeitig aufzuzeigen, wie stark die Neugierde auf die neuen Welten dort draußen ist. Interessant ist, dass die Geschichte im Grund jederzeit und überall spielen könnte. Die futuristische Technik ist fast eine Art Versatzstück. Stimmungsvoll, überzeugend und kurzweilig.    

 „Crimes and Glory“ aus der Feder Paul McAuleys ist wie „Nothing Personal“ von Pat Cadigan eine Mischung aus durchaus spektakulärer und spekulativer Science Fiction und einem zugrunde liegenden Kriminalfall. „Crimes and Glory“ ist eine im “Jackaroo” Universum spielende Geschichte. Es ist nicht notwendig, weitere Geschichten und Romane zu kennen, um den Plot zu mögen. Allerdings kann der Kenner dieser Paul McAuley Schöpfung die durchaus teilweise ironischen Zwischentöne der ursprünglich im „Subterranean“ Magazine publizierten Story besser verstehen.

Die Erde hat sich an den Rand der Selbstvernichtung getrieben. In letzter Sekunde haben die Fremden Jackaroo der Menschheit auf anderen Welten eine neue Chance gegeben. Sie haben die Menschen zu den bewohnbaren Planeten transportiert. Die Auswahl erfolgt mittels einer Art Lotterie, nicht unbedingt eine neue Idee im Genre, aber solide von Paul McAuley noch einmal zusammengefasst. Nicht nur den Menschen haben die Jackaroo geholfen, auch den so genannten Elders. Einer Rasse, die anschließend verschwunden ist. Sie haben aber wie bei Strugatzkis „Picknick am Wegesrand“ ihre Technologie, ihre Raumschiffe und leider auch ihre Waffen zurückgelassen. Emma ist eine der Inspektorin, die im Auftrag ihrer Behörde nach illegalen Schmuggelwaren und Artefakten der Elder Technologie sucht. Dabei lassen sich die Auswirkungen der Technologie nur schätzen. Es gibt Coders, welche versuchen, die Geheimnisse der Technologie zu erforschen.

Emmas Ehemann ist bei einer dieser Mission gestorben. Wie besessen sucht sie den kriminellen Coder Niles Sarkka. Nicht selten könnte Emma als Ahab erscheinen, Sarkka abwechselnd als der imaginäre weiße Wal, aber auch der naive Harpunier Ismael, der sich zu weit nicht aufs Meer, aber in die Tiefen des Alls und vor allem einer fremden Technologie gegenüber hinausgewagt hat.

Paul McAuleys macht auf die doppelt ironische Pointe zielend nicht den Fehler, seine Charaktere zu stereotyp zu zeichnen. Die stringente, aber sehr faszinierende Handlung lebt von ihren im Grunde Irrungen und Wirrungen. Mehr und mehr wird die fremde Technik zu einem unkontrollierbaren Symbol menschlicher Gier weit über das Monetäre hinaus. Interessant ist, dass Sarkka mit seinen Theorien wie ein Psychopath erscheinen könnte. Es gibt keine Beweise für seine wilden Behauptungen. Im Gegensatz zu zielstrebigen, fast langweilig stereotypen Emma erscheint er wie ein Fanatiker, der in der fernen Zukunft dem geschenkten Gaul nicht nur ins Maul schauen will, im Grunde will er diese symbolischen Pferde töten. Auch wenn er selbst weiß, dass es kein zurück ist.

So weigert sich Paul McAuley am Ende dieser Story auch, Antworten auf die verschiedenen Fragen zu geben. Durch die langsame Umkehrung der emotionalen Vorzeichen und eingebettet in die angesprochene Reihe von Kurzgeschichten gelingt es dem Autor, den Leser nachdenklich zu stimmen, ohne die inzwischen über Jahre etablierten Fundamente seines Universums zu erschüttern. Vieles bleibt eher mystisch, unausgesprochen und impliziert. Aber gerade dieser vage Tonfall hebt die Novelle aus vielen anderen Geschichten mit einer ähnlichen Thematik positiv heraus.

Der zweite längere Text "Nothing Personal" von Pat Cadigan nutzt den Kriminallfall - ein junges Mädchen japanischer Abstammung wird auf einem Dach tot aufgefunden - perfekt, um eine gänzlich andere Geschichte zu erzählen. Die Protagonistin ist in ihrem stupiden Leben als Polizistin und Mordermittlerin gefangen. Ihre beste Freundin hat sich pensionieren lassen. Der Titel bezieht sich auch auf die notwendige Haltung beim Ermitteln. Man darf die einzelnen Schicksale nicht persönlich nehmen, sie nicht an sich heranlassen. Inzwischen ist aber ihr ganzes Leben so und es besteht keine Aussicht auf Verbesserung. Pat Cadigan nimmt sich angesichts der Länge des ganzen Textes sehr viel Zeit, um die einzelnen emotional persönlichen Aspekte vor dem Leser auszubreiten. Die Figurenzeichnung ist vielleicht nicht immer wirklich subtil, sondern eher effektiv. 

 Beim Mordfall wird der Protagonistin ein Spezialist aus einem anderen Bereich zur Seite gestellt. Wer jetzt an eine Romanze zwischen einer älteren Beamtin und einem Jungspund denkt, wird überrascht und enttäuscht zu gleich. Die Familie der Toten hat anscheinend lange Zeit gar keine Spuren hinterlassen. Obwohl alles von der Geburtsurkunde bis zur richtigen Anschrift vorhanden ist, wirken diese persönlichen Markenzeichen konstruiert und nicht gelebt. Nur vor kurzem haben sie angefangen, in den USA richtig zu leben und das auch den Ermittlern deutlich zu machen. Während die Polizistin ein wenig überfordert erscheint, weiß ihr Kollege anscheinend mehr. 

 Über weite Strecken nutzt Pat Cadigan gar keine phantastischen Elemente. Die Technik ist ein wenig futuristisch, könnte aber jederzeit und ohne die Spannung zu minimieren auf das gegenwärtige Niveau reduziert werden. Erst in der zweiten Hälfte des Plots öffnet sie ein spekulatives Tor, das aber immer in einem engen Zusammenhang mit der emotionalen und damit für den Leser zugänglicheren Ebene steht. Während die Protagonistin im Gegensatz zu ihrer ehemaligen Vorgesetzten sich scheut, Entscheidungen alleine zu treffen und aus dem Käfig ihres Lebens auszubrechen, haben andere Menschen mit anderen Möglichkeiten ganz andere Entcheidungen für sich getroffen. Dabei geht es auch um die unendlichen Versuchungen, die sich plötzlich Menschen öffnen. Dabei nutzt die Autorin keine neue Idee der Science Fiction, sie erzählt sie wie David Hutchison in seiner "Europe" Trilogie nur anders. Zusammen mit dem durchgehenden Hardboiled Stil ergibt sich eine interessante Synthese. 

 Dabei spielt es fast keine Rolle, dass der Kriminalfall mehr und mehr zu einer Art MacGuffin wird und sich in Luft auflöst. Nicht der Körper der jungen japanischen Frau aber ihr Schicksal wird plötzlich aus einem gänzlich anderen Blickwinkel beschrieben. Nicht alle Fragen können beantwortet werden und ein subtiles Element relativiert Pat Cadigan ein wenig zu unnötig, aber es ist  schon eine fesselende Geschichte, die sich nicht nur vor den Augen der Leser, sondern der Ermittlerin ausbreitet und welche ihr bisheriges Leben zumindest in der Theorie auf den Kopf stellen könnte. 

 Am Ende werden nicht alle Fragen wirklich beantwortet. Das ist auch unnötig. Der Leser kann sich eigene Gedanken machen. Bis dahin handelt es sich bei "Nothing Personal" um eine interessante, auch ein wenig herausfordernde, von der genauen minutiösen und ein wenig melancholischen Zeichnung der Protagonisten dominierte Novelle.

 Schon die letzte "Forever" Ausgabe überzeugte. Die drei "britischen" Autoren haben bewiesen, wie viele seltene bis inzwischen vergessene Geschichten noch auf eine Wiederentdeckung warten. Inbesondere die längeren Novellen können durch das Aufwerfen verschiedener Fragen und vor allem für kriminalistisch angehauchte Texte Verweigern von Antworten überzeugen, während "Erosion" trotz der Kürze von der nachdenklich stimmenden Atmosphäre her die am meisten üerzeugende Arbeit ist. 

 

 

 

e books, 112 Seiten

Forever Magazine Issue 45 ebook by Neil Clarke,Paul J. McAuley,Pat Cadigan,Ian Creasey