Christopher Diecks 2- Unter dem Eis

Lara Möller

Mit „Unter dem Eis“ veröffentlicht die Hamburger Autorin Lara Möller ihren zweiten Krimi um den Privatdetektiv Christopher Diecks. Auch wenn die Fälle abgeschlossen sind und die Autorin in Form von alptraumartigen Erinnerungen auf den ersten Fall eingeht, ist es vor allem auf der zwischenmenschlichen Ebene wichtig, den ersten Roman gelesen zu haben. Die Figuren sind dem Leser einfach vertrauter und es fällt ihm leichter, die charakterliche Entwicklung zu verfolgen, denen sich im Grunde fast alle Protagonisten freiwillig oder durch die Umstände erzwungen stellen müssen.

Der Titel des Romans ist in mehrfacher Hinsicht wichtig. Er bezieht sich auf den im Grunde am meisten relevanten Aspekt des ganzen Buches. Aber unter dem Eis, der äußeren Schale sind auch einige Wunden verborgen, welche die einzelnen Protagonisten überwinden müssen. So geht es zweimal um einen sexuellen Angriff auf Frauen. In einem Fall wird dem Mädchen geholfen und der Täter zusammengeschlagen, was für Gerritt Rust einen Gefängnisaufenthalt bedeutet. Es ist bittere Ironie, das seine grundsätzlich positive Aktion eine Katastrophe auslöst. Auf der anderen Seite ist Christopher Diecks, dessen Beziehung zu Romy intensiver und inniger wird. Sie ist vor vielen Jahren in Italien ebenfalls überfallen und  vergewaltigt worden. Auch wenn es unsinnig ist, fühlt sich Christopher Diecks hilflos, weil er den Angriff nicht verhindern konnte.

Es ist fast zynisch, dass die erfolgreiche Abwehr zu einer Katastrophe führt und die in der Vergangenheit begangene ungestraft gelassene Tat Romy und Christopher dank dessen Verständnis noch näher bringt.

Von der Struktur her ist „Unter dem Eis“ eine Kopie von „Christopher Dicks, Privatdetektiv“.  Der Ausgangspunkt ist nicht das Ende, sondern wird mit einer weiteren Suche verbunden. Die Bauunternehmerin Karin Neudorf wird erpresst. Sie hatte eine Affäre und der junge Liebhaber könnte weiteres Geld verlangen. Zusammen mit ihren Mann leitet sie ein erfolgreiches Bauunternehmen, das aus ihrer Familie stammt. Sie hat Angst um ihr Firma, ihre Ehe und schließlich auch den eigenen Ruf.

Christopher Diecks übernimmt den Fall. Inzwischen arbeitet er verstärkt in der Detektei und weniger als Möbelpacker und Aushilfskeller beim Stiefvater. Seine ersten Spuren führen in das Ghetto Mümmelmannsberg und zu Gerrit Rust, der wiederum seine verschwundene Cousine sucht. Anscheinend wollte Nina zusammen mit einem Kumpel irgendwo an das ganz große Geld. Inzwischen ist sie seit einigen Wochen spurlos verschwunden. Gerrit Rust ist erst nach ihrem Verschwinden aus dem Gefängnis entlassen worden.

Lara Möller nimmt sich für den Fall sehr viel Zeit. Sie beschreibt die langweilige Ermittlungsarbeit eines Privatdetektivs mit stundenlangen Beobachten, Befragungen von eher Auskunftsverweigern und das alltägliche Risiko, sich zu weit vorzuwagen und dadurch enttarnt zu werden. Diese Passagen sind nicht unbedingt langweilig, da die Balance aus natürlich geschriebenen Dialogen und Beschreibungen stimmt, aber den ganzen Plot betrachtend wirkt der Mittelteil zu lang im Vergleich zum hektischen Finale.

Im mittleren Abschnitt verzichtet die Autorin positiv zusätzlich auf übertriebene Actionszenen. Einen kleinen Teil holt sie am Ende nach. Hier liegt vielleicht die größte Schwäche des ganzen Buches. Der Fall ist solide aufgebaut, die Zusammenhänge zwischen Karin Neudorfs Affäre / ihrer Firma und dem Verschwinden von Nina  werden zwar im ersten einleitenden Kapitel impliziert, aber das ganze Bild ergibt sich erst am Ende der klassischen Ermittlungsarbeit.

Kurz vorher hat die Autorin neue Figuren eingeführt, die aber nicht sonderlich gut entwickelt worden sind. Natürlich reagieren Menschen unter Druck ganz anders als im alltäglichen Leben oder Geschäftsverkehr. Aber hier treffen plötzlich im Grunde drei neue Charaktere mitten im Geschehen ein, deren Motive eher rudimentär entwickelt worden sind. Die Ausgangsbasis ist schwer zu greifen, denn beide Betroffenen haben in dieser Situation alles zu verlieren. Warum plötzlich die Kette brechen soll, wird ebenso wenig erläutert wie die anscheinend aus dem Nichts kommende brutale Reaktion. Alle anderen Beschreibungen deuten charakterlich eher in eine andere Richtung.

Es ist aber nicht die einzige Affekttat. Im Grunde gibt es eine Art Pyrrhussieg, der aber die plötzliche Ruhe nicht erklärt. Nach den beiden zusammenfließenden Taten hätte die andere Seite unruhiger sein müssen. Da Lara Möller lange Zeit sich ausschließlich auf Christopher Diecks Ermittlungsarbeit konzentriert, wirkt der Perspektivwechsel einmalig zu Karin Neudorf und ihrer Rückkehr nach einer langen Dienstreise konstruiert, um den Plot abzuschließen.

Die anschließenden Ereignisse sind für den Leser greifbar und das nihilistische Ende ist passend. Es zeigt, dass es nicht immer Happy Ends gibt und die moralischen Sieger in diesem Fall die Verlierer sind. Der Fall wird Christopher Diecks noch lange beschäftigen, weil er im Grunde erfolgreich und hilflos zu gleich ist. Aber die Ereignisse überschlagen sich aus dem Nichts heraus und bei einzelnen Antagonisten wäre es schöner gewesen, ihre Motivation besser herauszuarbeiten als alleine über Improvisation zu kommen. Natürlich haben sie alle mindestens ein Motiv, ihr Handeln zu überdecken, aber ob das alleine für diese Taten reicht, wird ein wenig zu ambivalent dargestellt.

Zu den Stärken nicht nur dieses Romans gehört Lara Möllers Gespür für Protagonisten. Sie scheut sich nicht, die nicht selten verachtete Unterschicht bestehend aus Drogenabhängigen, Arbeitslosen oder Vorbestraften ausführlich zu beschreiben. Der Leser muss ihre Taten oder Schicksale nicht akzeptieren, aber im Gegensatz zu den Antagonisten wirken ihre Storys ein wenig abgerundeter, auch wenn die Autorin hier glättet. So ist Gerrit Rust im Grunde durch eine heldenhafte Tat wieder ins Gefängnis gekommen. Damit wird sein ehrlicher Charakter Nina gegenüber gestärkt und er erweist sich als der väterliche Freund, den viele andere Protagonisten vermissen. Es ist aber ein schmaler Grat, auf dem sich die Autorin bewegt. Würden die Leser einen brutalen Gewaltfetischisten auch akzeptieren? Hätte es nicht für weitere Spannungen zwischen den einzelnen Männern geführt, die nicht selten dickköpfig stoisch nicht von Christopher Diecks Seite weichen und damit auch angesichts der sich entwickelnden Handlung recht haben?

Die Beziehung zwischen Romy und Christopher Diecks wird einfühlsam mit viel Raum beschrieben. Es sind abgerundete Charaktere, die vom Leben gezeichnet sind. Während der Leser im ersten Buch vor allem das Milieu kennenlernte, in dem Christopher Diecks lebt, konzentriert die Autorin sich jetzt auf den folgerichtig nächsten Schritt. Ein weiterer Aspekt ist das schwierige Verhältnis zu seinem Bruder, in das die Autorin eine gewisse Altersreife legt und vor allem gegen Ende auf jegliche schwarzweiß Zeichnung verzichtet. Sie liefert keine Antworten, sondern stellt positiv Positionen klar.

Um Christopher und Romy hat Lara Möller eine Reihe von kantigen Figuren immer mit entsprechender Vergangenheit positioniert. Dabei müssen beide Seiten lernen, die Vorurteile abzubauen und die Gegenseite wenigstens respektvoll zu behandeln, auch wenn es wirklich ihnen schwerfällt. Ohne zu belehren versucht die Autorin auch ihren Lesern eine derartige Position zu vermitteln. Ohne diese nicht selten gleich abqualifizierte soziale Unterschicht hätte Christopher Diecks den Fall nicht lösen können, dessen Ausgangspunkt allerdings nicht auf der Straße, ist, sondern in den feinen Villen entlang der Alster begonnen hat.

Der letzte Protagonist dieses Buches ist Hamburg. Wie angedeutet spannt Lara Möller den Bogen von den Villen an der Alster über die neuen Stadtteile in und um die Hafencity bis zu Christopher Diecks Heimat St. Pauli oder den Hauchsiedlungen in Mümmelmannsberg. Nicht alle Beschreibungen wie das Leben der drogensüchtigen in und um den Hamburger Bahnhof sind angenehmen. Hier nimmt sich die Autorin auch die Zeit, um das alltägliche Leben und Überleben zu beschreiben, aber auch den Menschen ein wenig Raum zu schenken, die sich nicht selten ehrenamtlich für die Gestrauchelten auch gegen deren Willen einsetzen und ihnen in der größten Note zu helfen suchen.

Auf der anderen Seite wird die Welt des Geldes, der vordergründigen Macht vielleicht ein wenig zu oberflächlich und hier teilweise auch klischeehaft gestreift. Natürlich treffen mit den Neudorfs und Christopher Diecks in mehrfacher Hinsicht konträre Welten aufeinander, aber das Buch hätte von einigen auch negativen Überschneidungen vor allem im ein wenig schleppenden, alleine den Protagonisten und der Atmosphäre vertrauenden Mittelteil profitieren können. Alleine das Zeitfenster mit Karin Neudorfs Rückkehr von einer Geschäftsreise als treibendes Element erst zu etablieren und es durch den Anruf ihres Mannes plötzlich wieder zu relativieren reicht nicht unbedingt als Fundament in diesem relevanten Abschnitt aus. 

  „Unter dem Eis“ ist eine gute Fortsetzung der Christopher Diecks Reihe. Auch wenn der zugrundeliegende Fall insbesondere gegen Ende ein wenig unglücklich und zu hektisch strukturiert worden ist, überzeugen vor allem die bodenständig realistischen Protagonisten und der liebevoll beschriebene und vor allem irgendwie auch gelebte hamburgische Hintergrund der Geschichte.    

Unter dem Eis - Christopher Diecks 2

  • Taschenbuch: 336 Seiten
  • Verlag: bookshouse (26. Juli 2019)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 9925331544
  • ISBN-13: 978-9925331543
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