Kim Stanley Robinson hat sich in seinem umfangreichen Werk immer wieder mit zwei Themen auseinandergesetzt: Die Ökologie in jeglicher Form und Politik. Ökologisch hat er vor den Folgen der Umweltzerstörung und damit auch den klimatischen Veränderungen gewarnt. Er hat in seiner umfangreichen “Mars“ Trilogie allerdings auch den roten Planten gezähmt und mit teilweise erdrückend vielen Details aufgezeigt, wie der Mensch sich eine unwirtliche Welt urbar machen kann.
Politik spielt in allen seinen Büchern eine Rolle. Dabei reicht das Spektrum vom klassischen Querdenker Galileo bis in das New York des Jahres 2140, das von den steigenden Meeresspiegeln nicht mehr nur umspült, sondern unterminiert worden ist. Interessant ist, dass „Roter Mond“ einzelne Aspekte aus seinem vielleicht besten Buch „The Years of Rice and Salt“ fortführt. Es gibt auch einen direkten Hinweis auf diesen Roman. Grundsätzlich akzeptiert der Autor zwar demokratische Regierungsformen und sieht sie als im Grunde beste unter allen schlechten Möglichkeiten an, aber immer wieder thematisiert er den Druck von unten, dem Volk.
Das gipfelt bei diesem Roman in einer fast absurden Situation, Während China mit den aufgewühlten Massen nicht mehr fertig wird und die Märsche auf die Hauptstadt und deren politisch ineffiziente Organe nicht mehr kontrollieren kann, stürmen in den USA die Menschen internettechnisch die Banken und beginnen ihr Geld in Kryptowährungen anzulegen, denen das Versprechen mitgegeben wird, dass sie jederzeit wie Dollar genutzt werden können.
Welche Welt aus diesen beiden im Grunde gleichlaufenden revolutionären Bewegungen entstehen könnte, lässt Kim Stanley Robinson offen. Damit reiht sich „Roter Mond“ in eine Phalanx unter anderem mit „New York 2140“, in dessen allerdings deutlich ambitionierter Handlung am Ende einen kleinen Moment eine Art Happy End beschworen wird, dessen Aufbruch zu neuen Ufers im Off stattfindet. Robinson ist kein Freund von Serien. Nur drei Trilogien hat er bislang verfasst. Fortsetzungen zu „New York 2140“ oder „Roter Mond“ sind nicht im Gespräch, so dass ein Gefühl der Leere zurückbleibt.
Auf der anderen Seite greift der Amerikaner aber zumindest gerne auf Protagonisten aus seinen vorherigen Romanen zurück. Ta Shu wird dem Leser aus „Antarktika“ vertraut vorkommen. Dieses Mal steht er im Mittelpunkt der Handlung, so dass es nicht unbedingt notwendig ist, den empfehlenswerten Roman zuerst zu lesen.
In der Theorie ist „Roter Mond“ ein geopolitischer Thriller. Kim Stanley Robinson hat den Plot ungefähr 30 Jahre in die Zukunft versetzt. Das erscheint zu optimistisch. Die Amerikaner haben Stationen auf dem politisch ausgesprochen ambivalent gestalteten Mond. Die Russen, die EU, selbst die Inder, die Iraner, die Brasilianer und die Schweiz haben anscheinend Vertretungen auf dem Mond. Angesichts des Kostenaufwands relativiert Kim Stanley Robinson die notwendige Logistik. Einige seiner Protagonisten fliegen im Verlaufe der Handlung mehrmals von der Erde zum Mond und wieder zurück. Technisch und finanziell alles möglich.
Während sich die meisten Nationen um den Nordpol tummeln, haben die Chinesen quasi den Südpol annektiert. Daher ist der Name „Roter Mond“ eher als Allegorie zu sehen, die Chinesen sind dominant, aber noch nicht am Ende ihrer Expansion.
Interessant ist, dass der grundlegende Plot relativ stringent ist. Ta Shu kommt auf dem Mond an, um eine Art Inspiration für weitere lyrische Arbeiten zu erlangen. Auf dem Flug zum Mond lernt er den Techniker und Amerikaner Fred Fredericks kennen, der ein besonderes Telefon der chinesischen Regierung überbringen soll. Bei der Übergabe tötet er mittels einem ihm unbewusst mitgegeben Kontaktgiftes den Gouverneur. Natürlich soll Fr4edericks der Schuldige sein und wird verhaftet. Eine politische Organisation organisiert seine Flucht, wo der die junge schwangere Chan Qi kennenlernt, deren Vater zukünftig in China gewichtigen Einfluss haben soll.
Ihre gemeinsame Flucht vor verschiedenen Gruppen beginnend mit den amerikanischen Geheimdienst im Hintergrund, den chinesischen nationalen Kräften und/ oder Widerstandsorganisation wie dem roten Speer führt sie wie angesprochen zurück auf die Erde, wo sie sich in Hongkong kurz vor der politischen Integration nach den 50 Jahren Übergangszeit verstecken; sie fliehen in das bäuerliche Landesinnere, werden auf die abgewandte Seite des Mondes gebracht, von Marschflugkörpern beinahe in die Luft gesprengt, mit Prospektoren geht es in die Weiten des Mondes und schließlich im Grunde zu einer improvisierten Grippe, wo ein wenig kitschig, aber vorhersehbar die junge Frau ihr Kind bekommt, während auf der Erde eine Ära zu Ende geht und eine neue politische Welle sich bricht.
Frederik ist der einzige nichtchinesische Hauptcharakter im Buch. Auch wenn er kein klassischer Held westlicher Literatur ist, sondern als fokussierter Technikspezialist keine Ahnung von Politik, im Grunde auch nicht vom Mond und schließlich Frauen hat, schafft er es, aus einer subjektiven, im Grunde beschränkten Froschperspektive viele Hintergründe direkt zu erläutern oder sie ausführlich im Off oder durch chinesische Protagonisten stellvertretend für den Leser erläutert zu bekommen. Interessant ist zusätzlich, das die wichtigste Identifikationsfigur der vor allem amerikanischen Leser den Chinesen weder intellektuell überlegen noch moralisch gleichwertig ist. Auf der anderen Seite wird er zu einem Getriebenen in einer Welt, die er nicht verstehen kann oder auch nur will. Auf der anderen Seite wird er zu einem Mann in mehrfacher Hinsicht. Neben den Strapazen wächst er innerlich, in dem er quasi die moralische Stütze der jungen Frau ist, die auf der anderen Seite einen ganz anderen Einfluss
Auf der Handlungsebene ist es Ta Shu, der das moderne China und gleichzeitig auch die alten Traditionen verkörpert. In seiner Denkweise ist erstaunlicherweise der neben dem Analysten mit seiner Mini KI der am meisten aufgeschlossene Charakter. Die Mini KI ist quasi eine Art Barometer. Mittels Wahrscheinlichkeitsrechnungen ist sie vor allem der politischen Elite mehr als einen Schritt voraus. Ihre Flucht zum Mond macht sie zu einem vollständigen Charakter. Durch die KI und Ta Shu kann Kim Stanley Robinson minutiös recherchiert, aber wenige neue Aspekte darlegend das chinesische Volk ein wenig ausführlicher vorstellen und den Gegensatz zwischen fast grenzenlosem Fortschritt und höriger Verbundenheit den Ahnen gegenüber.
Im direkten Vergleich zu Ian McDonalds „Luna“ oder John Kessels noch nicht übersetzten Roman „The Moon and the Other“ konzentriert sich Robinson auf eine Geschichte, deren Auswirkungen eher auf der Erde spürbar sind als auf dem Mond. Der Mond ist das vorgeschobene politische Schlachtfeld. Die Herausforderungen des Erdtrabanten sind eher vernachlässigbar. Sie dienen spannungstechnisch eher als Beimischung, obwohl sie ausführlich und gut entwickelt worden sind. Es sind die politischen Vorgänge, welche wie in einigen Robinson Romanen auf die „kleinen Leute“ heruntergebrochen im Vordergrund stehen. Der Autor verzichtet bis auf einen kleinen Exkurs auf Romantik und aus dem Amerikaner sowie der schwangeren Chinesin wird nicht unbedingt ein Paar. Vor diesem eher ambivalent gestalteten Vordergrund hat Robinson eine kurzweilig zu lesende, aber manchmal auch sehr oberflächlich politisch nach dem Brechstangenmuster gestaltete Geschichte entwickelt, die nicht immer zufriedenstellt, aber im Kontext des Gesamtwerks einen guten Platz in der zweiten Reihe findet. Zu den Schwächen gehört das zu glatte Ende, in dessen Verlauf Robinson wie in „Aurora“ oder „New York 2140“ im Grunde seine vielschichtige, aber niemals unüberschaubare Handlung einfach abschließen wollte, um zu neuen Ufern literarisch aufzubrechen.
- Taschenbuch: 624 Seiten
- Verlag: Heyne Verlag; Auflage: Deutsche Erstausgabe (12. August 2019)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3453320107
- ISBN-13: 978-3453320109
- Originaltitel: Red Moon