Die Eskalation

Andreas Brandhorst

„Die Eskalation“ ist die Fortsetzung zu Andreas Brandhorsts Thriller „Das Erwachen“.  Es ist aber nicht der Mittelteil der „Maschinenintelligenz“ Trilogie. Viel mehr basieren sowohl „Die Eskalation“ als auch „Mars Discovery“ auf den Wurzeln des ersten Buches, entwickeln sich teilweise parallel, bevor „Mars Discovery“ in der Tradition einer Arthur C. Clarke Space Opera sehr weit nicht nur in die Zukunft, sondern auch die Tiefen des Alls greift.

Es empfiehlt sich allerdings, die drei Bücher in der Publikationsreihenfolge zu lesen, auch wenn dadurch einzelne, aber nicht unbedingt entscheidende Passagen aus „Mars Discovery“ schon aus „Die Eskalation“ bekannt sind. Alle drei Romane lassen sich auch getrennt voneinander lesen, der Autor ist routiniert genug, entsprechende Hintergründe kurz und pointiert zu erläutern, aber um die komplexe Welt auf Augenhöhe zu verstehen und die Evolution der künstlichen Intelligenz zu verfolgen, lohnt sich die chronologische Lektüre.

Vier Jahre sind seit dem „Erwachen“ vergangen. Die Maschinenintelligenz hat das öffentliche Leben übernommen und kontrolliert bis auf eine nach König Arthus Tafelrunde benannte Widerstandsgruppe das komplette öffentliche Leben. Im Grunde hat die Maschinenintelligenz einen perfekten Kommunismus mit Mindereinkommen eingeführt.  Es gibt keine Kriege mehr, aber auch keine Rüstungsindustrie; keine Fluglinien und/ oder die Umwelt verschmutzende Unternehmen. Reichtum wurde abgeschafft, die Maschinenintelligenz Goliath sorgt dafür, dass jeder Mensch auskömmlich leben kann. Nicht weniger, aber auch nicht. Ob vier Jahre für eine derartige gesellschaftliche Umwandlung inklusiv einer wirklich globalen Grundversorgung von der Arktis bis in die Wüsten reichen, bleibt fraglich. Es spielt auch keine Rolle, ob seit dem Erwachen vier oder vierzig Jahre vergangen sind. Andreas Brandhorst versucht auf der einen Seite eine Welt zu zeigen, die ohne den kapitalistischen Drang nach mehr Geld und damit auch mehr Macht funktioniert; auf der anderen Seite spannungstechnisch muss der Autor unterstreichen, das sich die alten Seilschaften verblendet und mit Scheuklappen ausgestattet nicht so schnell vertreiben lassen wollen.

Die gut verdrahteten und rücksichtlos Menschen ausnutzenden Ritter der Tafelrunde greifen Goliath als Teil ihres umfangreichen Plans mit einer ganz Phalanx von aufeinander abgestimmten Bombenexplosionen, später sogar mit zwei Atombomben an. Gleichzeitig kommt das Gerücht auf, das die sinkende Geburtenrate durch die Maschineintelligenz gesteuert wird. Goliath will angeblich die Menschen aussterben lassen.

Goliath selbst dagegen versucht mit dem Menschen Kontakt aufzunehmen, den er als seinen Schöpfer ansieht: Axel Krohn. Nur ist dieser seit fast vier Wochen irgendwo im Südpazifik verschwunden und hat sich nur zweimal bei der UNO mittels Funk gemeldet.

Die Ausgangslage des Buches skizziert Andreas Brandhorst auf den ersten einhundert Seiten. Ein doppeltes Rennen gegen die Zeit.  Axel Krohn muss nicht nur gefunden, sondern zur Kooperation überredet werden. Die Ritter der Tafelrunde planen ihren nächsten, aus ihrer Sicht hoffentlich finalen Schlag gegen die Maschinenintelligenz, dessen Ziel Freiheit unter der Führung einer gut vorbereiteten Elite allerdings auf einem vordigitalen Niveau ist.

Daher besteht der größte Teil des Buches auf einer Jagd über die Kontinente bzw. der realen Gefahr eines nicht mehr über Strom verfügenden New Yorks mit einem gigantischen Sturm im Anmarsch. Aktion und Reaktion sind dabei eng miteinander verbunden. Bevor auf diese Details eingegangen werden kann, muss der Handlungsbogen um die Marsexpedition kurz erwähnt werden. Im Gegensatz zum eigenständen, ein Jahr nach „Eskalation“ veröffentlichten Roman fasst Andreas Brandhorst nur einzelne Facetten zusammen. Auch auf dem Mars stehen sich zwei Gruppen quasi gegenüber. Die Pragmatiker, welche auch mit Hilfe von Goliath überleben wollen und die fanatische „Freiheitskämpfer“, die lieber sterben als sich von einer Maschinenintelligenz versklaven lassen wollen. Einen wichtigen Aspekt des dritten Romans der „Maschinenintelligenz“ Serie und die Folgen einer überstürzten Handlung lässt der Autor  allerdings absichtlich aus. Auch wenn dieser Spannungsbogen weit über die auf der Erde spielende Gegenwartsebene hinaus in die Zukunft reicht und Andreas Brandhorst dem Leser quasi einen kleinen Einblick in eine an Arthur C. Carkes „2001“ Tetralogie erinnernde Vision mit auf den Weg gibt, wirkt er in dieser Hinsicht nicht nur ein wenig zu ambivalent, sondern unterminiert immer wieder die sehr kompakte Atmosphäre der beiden auf der Erde spielenden Handlungsbögen, die nicht nur durch die „Jagd“ nach Axel Krohn bzw.  das  zeitliche Ultimatum miteinander verbunden sind.   

Auf der anderen Seite etabliert Andreas Brandhorst die Idee einer zweiten Menschheit in „Die Eskalation“ zu vage. Bei „Mars Discovery“ wird der Autor sich intensiver mit dem Thema beschäftigen. Ein neuer Aspekt dieser bekannten Thematik ist die Obhut von Goliath. Auf der Erde versucht er die Menschheit vielleicht nicht sklavisch zu Untertanen zu machen, aber sie untertänig zu halten. Auf einer zweiten Erde mit einer neuen, quasi von Beginn an geformten Menschheit hätte Goliath diese Probleme nicht. Einzig Goliaths eigene komplexe Verwurzelung mit der Erde steht seinen kurzfristigen Interessen gegenüber, langfristig wäre ein Aussterben der Menschheit auf der Erde und der Neubeginn auf einer anderen Welt eher in seinem Interesse.       

Auf den letzten Seiten fasst Andreas Brandhorst schließlich nach einer Reihe von Actionszenen, Verfolgungsjagden und überraschenden Auftritten von Protagonisten aus dem ersten Band die Geschehnisse zusammen und führt seinen Roman zu einem überraschend emotionalen Ende. Der Konflikt zwischen der Tafelrunde und den guten Menschen/ Goliath auf der anderen Seite endet in einer cineastischen Szene, wie der Leser sie oft im Kino gesehen hat. Zwar effektiv gestaltet, aber keine wirkliche Überraschung.

Die Mission, Schöpfer und Geschöpft zusammenzubringen, endet in einem klassischen Pyrrhussieg. Wie im ersten Buch ist eine Geste wichtig, um Goliath zu überzeugen. Dabei geht Andreas Brandhorst allerdings in zweifacher Hinsicht sehr geschickt vor. Er extrapoliert eine relevante Sequenz aus „Das Erwachen“ und  fügt dieser virtuellen Dramaturgie ein „echtes“ Opfer hinzu. Spätestens seit Tom Clancy „The Hunt for Red October“ spricht man von einem Jungen, der aufs Meer hinausfährt und als Mann zurückkehrt. Diese Feuertaufe durchläuft im vorliegenden Roman mit Jessie eine Frau, die von ihrem Sohn getrennt, drogensüchtig und Alkoholabhängig ist. Am Ende dieser Odyssee wird sie ein gestärkter, selbstbewusster Charakter sein, die ihrem personifizierten Albträumen gegenübersteht und sie von Angesicht zu Angesicht besiegt. Damit ist nicht Goliath gemeint.  Auf dem Weg dahin kopiert Andreas Brandhorst aber leider auch eine Reihe von emotionalen Szenen aus „Das Erwachen“.  

Andere Figuren wie die politisch bedeutungslose UNO- Generalsekretärin übernimmt Andreas Brandhorst unverändert und schenkt ihnen sehr viel Raum. Tragisch wird es in Hinblick auf Axel Krohn, eine Art Geist, der von der Südsee über Australien bis in die Niederlande gejagt wird, um dann abschließend zu wenig Bedeutung zu haben. 

Von diesen Figuren ausgehend zeigt sich auch im direkten Vergleich zu „Das Erwachen“ die größte Schwäche von „Die Eskalation“. Andreas Brandhorst bewegt viel, intellektuell will er dem Leser ein sozialverträgliches, zukunftsfähiges, aber Eigenverantwortung in andere Hände legendes Überlebensmodell angesichts der globalen Erwärmung und damit auch der Überbevölkerung an die Hand geben. Der Autor stellt die richtigen Fragen, impliziert mögliche Lösungen und scheut sich auch nicht, ökologische Problemfelder überdeutlich anzusprechen. Trotzdem wirkt „Die Eskalation“ unabhängig vom hohen Tempo einzelner Szenen und gut geschriebener Dialoge irgendwie auch wie eine Mogelpackung. Fasst der Leser das Korsett der Handlung zusammen, ist es erstaunlich, das über sechshundert Seiten so kurzweilig unterhaltsam sein können. Hier wendet Andreas Brandhorst seine ganze literarische Routine auf, um auch Nebenhandlungen interessanter und dreidimensionaler zu gestalten als wahrscheinlich ursprünglich geplant.  Auf der anderen Seite bleibt der Autor allerdings auch frustrierend oberflächlich. Die Schurken könnten die Maschine nur mit einer anderen Maschine besiegen, die rechtzeitig nach dem „Erwachen“ versteckt und vor allem vom Internet und allen Datenleitungen isoliert worden ist. Ein Einzelfall? Haben nicht Militärs selbst immer die paranoide Angst vor der Übernahme durch den Feind? Nicht immer eine Maschinenintelligenz, Chinesen oder Russen reichen. Daher scheint dieser Aspekt genauso unwahrscheinlich wie eine Entschleunigung der Lieferketten und der Globalisierung. Goliath muss ja nicht nur neue Infrastrukturen erschaffen, sondern vor allem auch erst einmal quasi eigene „Hände“ in Form von ambivalent beschriebenen Drohnen bauen, mit denen er die im Grunde alltäglichen von ihm gerissenen Lücken zur Mindestbefriedigung von Lebensstandards schließen kann.   In der Theorie ersetzt Goliath nicht nur ganze Produktionsketten, sondern jegliche Form von Arbeit beginnend bei den Handwerkern und endend quasi bei den sozialen  Berufen. Es besteht ja keine Notwendigkeit mehr, zu arbeiten. Es sind diese kleinen Details, die dem Leser erst nach beendeter Lektüre auffallen.  Der Autor sieht das große Ganze, aber die Details wie auch einzelne Querverweise auf AIDS werden angerissen, aber niemals konsequent und vor allem auch überzeugend abgeschlossen.

Wie „Das Erwachen“ ist „Die Eskalation“ ein kurzweilig zu lesender High Tech Thriller, der mechanisch unterhält, aber in der Beziehung Mensch/ Maschine wenige neue Ideen einbringt. Viele der hier angesprochen Sujets haben Autoren wie D.F. Jones in „Colossus“ oder Dean Koontz in „des Teufels Saat“ auf eine andere Art und Weise schon angerissen. Andreas Brandhorst globalisiert sieht und fügt mit der schnell wachsenden Maschinenintelligenz vielleicht den interessantesten, hier aber auch leider sehr spärlich abgehandelten Charakter seinem Szenario hinzu. Vor allem in „Die Eskalation“ wirken einzelne Handlungsstränge stiefmütterlich behandelt und ja nach Perspektive verschiebt Andreas Brandhorst die Ausgangslagen nach Belieben, aber nicht konsequent genug.  

Es wäre wahrscheinlich sinnvoller gewesen, die einzelnen  Handlungsstränge in „Die Eskalation“ abzuschließen anstatt quasi den dritten Roman „Mars Discovery“ in weiten Abschnitten vorzubereite

Die Eskalation: Thriller | Fortsetzung des SPIEGEL-Bestsellers „Das Erwachen“

  • Herausgeber ‏ : ‎ Piper Paperback; 1. Edition (5. Oktober 2020)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Broschiert ‏ : ‎ 640 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3492061850
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3492061858
  • Abmessungen ‏ : ‎ 13.6 x 3.9 x 20.5 cm