Clarkesworld 184

Neil Clarke (Hrsg.)

Herausgeber Neil Clarke konzentriert sich in der ersten Ausgabe des Jahres 2022 auf einen Rückblick. Die besten Geschichten des Vorjahres stehen zur Wahl an. Julie Novakova geht in ihrem Essay „Zero-g Zoo: Trying to Solve Reproduction in Space” schlüpfrige Themen kann. Offiziell gab es noch keinen Sex zwischen den Astronauten im All, aber auch die Reproduktionsrate von mitgebrachten Tieren lässt zu wünschen übrig. In ihrem gut geschrieben Essay spannt sie anschließend den Bogen bis zu den Generationenraumschiff Ideen und relativiert einige Ansätze bekannter Science Fiction Autoren.

Arley Sorg setzt bei seinen Interviews dieses Mal auf vier bekannte Schwergewichte. Ausführlich spricht er mit dem Autorenkollektiv James Corey, deren Expanse Serie sich dem natürlichen von den Autoren mehrfach erweiterten Ende nähert. Die beiden Partner gehen auf den Beginn der Kooperation genauso ein wie auf ihre Soloprojekte.  Sehr viel interessanter ist das Gespräch mit Ann und Jeff VanderMeer. Vor allem Ann VanderMeer berichtet von ihrer Arbeit bei Tor Online, aber auch der Zusammenstellung einer Reihe von Best Of Anthologien zusammen mit ihrem Mann. Erst in der zweiten Hälfte streift Arley Sorg das Weird Universum der VanderMeer Romane.

Insgesamt sechs Kurzgeschichten und eine Novelle bilden des Jahresauftakt 2022.

„The Uncurling of Samsara“ aus der Feder Koji A. Dae eröffnet die 184. Ausgabe von „Clarkesworld“. Der Hintergrund der Geschichte ist klassisch. Ein Generationenraumschiff befindet sich auf dem Weg zu einem neuen Planeten. Das Raumschiff heißt Samsara, übersetzt Welt. Die Reisenden stammen aus Indien und die Idee einer kontinuierlichen Wiedergeburt haben sie von der alten Erde mitgenommen. Die Geschichte wird in Form eines Tagebuches erzählt, wobei die Autorin auf einzelne Aspekte wie die Versorgung der Besatzung eingeht. Drei D Drucker spielen hier eine Rolle. Dabei bemühen sich der Erzähler und seine Gram, die Gerichte der indischen Küche anzupassen. Als Gram stirbt, muss der Erzähler erst mit dem Verlust fertig werden. Die geistige Wiedergeburt steht in einem engen Zusammenhang mit der wieder erweckten Lust, einen perfekten Cherry Pie herzustellen, wobei die Autorin in einigen Punkten auch inkonsequent ist. So versucht der Erzähler Gemüse zu kopieren, das er von der Erde gar nicht kannte und auch nicht nutzte. In dieser Hinsicht wirkt der Bogen der emotional erzählten, aber auch ein wenig phlegmatisch strukturierten Geschichte überspannt.

Geoffrey W. Cole liebt lange Titel, wirklich lange… „The Five Rules of Supernova Surfing or A Real Solution to the Fermi Paradox, Bro” lebt weniger von den beiden exotischen Weltraumsurfern und ihrem Wettstreit um die erste „Welle“, sondern der Tatsache, dass es sich um zwei Brüder handelt. Auch wenn sie sich anstacheln und in einem imaginären Wettkampf immer überwacht von der Mutter liegen, halten sie gegenüber Dritten zusammen wie Pech und Schwefel. Die Zeichnung der Protagonisten ist pragmatisch, der Plot lebt weniger von einer kontinuierlichen Handlung, sondern einer Reihe von auch stilistisch ausufernden Beschreibungen. Am Ende wirkt der Leser ein wenig ratlos zurückgelassen, während die Brüder weiterhin auf die Pirsch nach der perfekten Welle gehen.  

Die einzige Übersetzung ist Gu Shis „No One at the Wild Dock“. Eine künstliche Intelligenz versucht nicht nur den Menschen per, sondern die eigene Existenz zu verstehen. Der Lehrer ist frustriert, weil die künstliche Intelligenz durch das ständige Hinterfragen die Lernziele nicht erreicht. Das macht sie menschlich. Erst als sie „sehen“ und dadurch auch Filme verfolgen kann, werden die Lernziele schneller erreicht, auch wenn der Lehrer wie der Leser ahnt, in welche Richtung diese unorthodoxe Lernmethode führen kann und schließlich auch führt.

  In die gleiche Kategorie leichter Unterhaltung fällt „For Whom the Psychopomp Calls“. Psychopomp sind die Vorboten des Todes und als ein Raumschlepper mit zwei Besatzungsmitgliedern einen solchen Psychopomp an Bord nimmt, stellt sich schnell die Frage, wer das potentielle Opfer ist.  In Frage kommt auch noch ein Androide, was nur aus menschlicher Sicht im Sinne des Erfinders ist. Pointierte Dialoge, einige Screwball Situationen und schließlich eine in sich logische Auflösung des Plots machen den Text zu einer klassischen Gute Nacht Lektüre für angenehme zwanzig Minuten.

Ebenfalls in den Tiefen des Alls spielt „The Lion and the Virgin“ von Megan J. Kerr.  Anna befindet sich alleine in einem sehr kleinen Raumschiff im All. Sie kann nur mittels Bildschirmen mit ihrer Umgebung kommunizieren, die vor allem aus virtuellen Leuten besteht.  Jeder dieser Avatare versucht sie aufzuheitern, aber nach elf Monaten im All zeigen sich auch körperliche Folgen. Kurz vor dem Ziel kommt es zur Krise.  Auch wenn die Ausgangsbasis ernst ist, hat sich die Autorin bemüht, die Interaktion zwischen der verzweifelten jungen Frau und ihrer Umgebung auf realistische, aber nicht kitschige Beine zu stellen.

Andrea Krizs „Learning to Hate Yourself as a Self- Defense Mechanism”  ist einer der schwersten Texte dieser Ausgabe. Das liegt an dem Bemühen, aus einem bekannten Szenario neue Ideen zu gewinnen. Die Protagonistin ist keine Spielerin, aber weil ein Freund ein neues virtuelles Spiel entwickelt hat, probiert sie es aus. Anscheinend wird sie schnell ein Teil des Spieles und kann nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden. Das gilt auch für die Autorin, die zu viele gute Ansätze quasi in der Luft hängen lässt.

Die längste Geschichte ist „Bishop´s Opening“ von R.S. A. Garcia. Im gleichen Universum spielen schon zwei andere Novellen.  Viele wichtige Informationen werden eher beiläufig aufgewärmt. Dadurch wirkt die Novelle vor allem zu Beginn uneinheitlich und fordert Geduld vom Leser. Bas, Olly und Reece suchen nach dem verschwunden Koch. Dabei werden sie unfreiwillig Zeuge eines Anschlags auf Bishop, der ein hochrangiger aber auch fragwürdiger Angestellter dieses futuristischen und nicht mehr grundsätzlich kirchlichen Vatikans ist.  Generell handelt es sich um eine brutale existentielle Gesellschaft, daher macht es keinen Sinn, das der Attentäter den seinen Plan störenden Bas nicht gleich umgebracht und die Tat vollendet hat. So werden sie Teil eines  gigantischen Schachspiels, dessen Regeln sie nicht kennen, obwohl sie eigentlich nur einen Freund zurückhaben wollten.

Für den Leser ist diese paranoide Überlebensgeschichte in doppelter Hinsicht ein Lesevergnügen. Neben den gut gezeichneten Protagonisten hilft es, über Kenntnisse im Schach zu verfügen. Viele der Nebenfiguren sind nach den entsprechenden Figuren benannt. Das bedeutet nicht gleich eine Übertragung auf ihre Möglichkeiten, aber ihre Bedeutung in dieser kriegerischen Kultur lässt sich leichter ablesen. Das Tempo ist ausgesprochen hoch und der Autor bringt die Geschichte auch zu einem zufriedenstellenden Ende.   

Eingeleitet von einem interessanten Titelbild, das sich auf zwei der hier gesammelten Geschichten metaphorisch übertragen lässt, handelt es sich bei der ersten „Clarkesworld“ Ausgabe des Jahres 2022 um eine interessante Nummer mit einigen starken Kurzgeschichten und eher kleineren Schwächen bei den kürzeren Texten.

E Book, 112 Seiten

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