Athos 2643

Nils Westerboers

Der Klett Cotta Verlag legt mit „Athos 2643“ Nils Westerboers zweiten Science Fiction Roman vor. Der 1978 geborene Autor lebte und arbeitete nach Abschluss der Schule unter anderem in Israel als Betreuer für Menschen mit Behinderung und als Ausbilder für Sprengstoffsuchhunde. Nach einem Studium der Germanistik, der Theologie und den Medienwissenschaften in München – die Stadt erwähnt er im Laufe der Handlung auch kurz – und Jena unterrichtet er inzwischen an einer Gemeinschaftsschule. Sein heute auch antiquarisch sehr schwer erhältlicher Debütroman “Kernschatten“ wurde für den Deutschen Science Fiction Preis 2015 nominiert.

„Athos 2643“ ist ein vielschichtiger Roman, der neben einer vordergründig geradlinigen Kriminalhandlung verschiedene philosophische Themen zu streifen, aber nicht unbedingt positiv gesprochen zu erschlagen sucht. Es ist schwer, für das Buch Inspirationen zu finden, auch wenn der Leser unwillkürlich an Umberto Ecos „Der Name der Rose“ – zumindest die erste Hälfte – in Kombination mit „Alien 3“ allerdings ohne Monster denken könnte. Auch religiöse Arbeiten wie James Blish „Der Gewissensfall“, aber auch „Der Sperling“ fügen sich in das Gedankenmuster ein.  Das zeigt die Stärke des vorliegenden Buches.

Wie die angesprochenen Arbeiten muss der Leser bei der Lektüre zwischen der „äußerlichen“ Handlung und der inneren Zerrissenheit nicht nur des Protagonisten deutlich unterscheiden.

Auf dem kleinen Neptunmond Athos stirbt ein Mönch in einer sehr kleinen,  nur aus wenigen dort in der Einsamkeit lebenden Gemeinschaft. Die künstliche Intelligenz der Station hätte den Tod verhindern müssen. Darum schickt man mit Rüd Katheiser einen Spezialisten für künstliche Intelligenzen und nicht nur wie der Covertext impliziert lebenserhaltende künstliche Intelligenzen. Rüd Kartheiser ist in dieser von Nils Westerboer ambitioniert, ambivalent, aber nicht immer wirklich zufriedenstellend extrapolierten Zukunft auch ein Inquisitor. Das bezieht sich weniger auf die Menschen, sondern ebenfalls künstliche Intelligenzen, denen Fehlfunktionen der Protagonist wie die „Blade Runner“ eher aus der Verfilmung denn Philip K. Dicks Vorlage untersuchen soll. Allerdings macht Nils Westerboer von Beginn an deutlich, dass Rüd Kartheiser ein Mensch ist.

 Vor einiger Zeit ist Rüd Kartheiser verlassen worden. Er hängt immer noch emotional angegriffen seiner „Liebe“ hinterher. Wahrscheinlich handelt es sich um eine echte Frau, aber Nils Westerboer impliziert auch, das der emotional instabile Rüd Kartheiser nicht wie zu Beginn der Handlung zum ersten Mal abhängig von einer Illusion ist. Seine Assistentin ist Zack. Geschaffen nach seinen Wünschen. Sie ist mehr als ein Hologramm. Das Hologramm in Form einer wunderschönen, rothaarigen und perfekten Frau ist auf Wunsch Rüd Kartheisers entstanden. Gesteuert von einem kleinen Gerät ist sie meistens nur ein Hologramm, das Kartheiser anstarren, ganz leicht berühren, aber im menschlichen Sinne nicht besitzen kann. Sie ist Begleiter, emotionaler Stabilisator, Gedächtnis und Ratgeber. Vor allem ist Zack die Ich- Erzählerin der Geschichte, was einzelne Szenen schwierig macht. Damit der Leser auf Augenhöhe der Handlung bleibt, kann diese subjektive, in der Theorie sehr interessante Art der Erzählperspektive nicht konsequent bis zum Ende bzw. den wichtigen Abschnitten durchgehalten werden. An einigen Stellen muss Nils Westerboer dieses im Grunde bizarre, auf unterschiedliche Weise aber auch voneinander abhängige Ermittlerduo trennen, um die roten Fäden aufzunehmen.

Für den Leser ist es interessanter, Zacks Beobachtungen über den Fall hinaus zu verfolgen. Lange Zeit ist sie aufgrund ihres holographischen Status, aber auch des einprogrammierten Gehorsams bis zur Grenze des sexuellen Masochismus Rüd Kartheiser gegenüber allgegenwärtig und passiv zu gleich. Der Leser verfolgt die zahlreichen Schwächen, aber auch wenigen charakterlich beruflichen Stärken Rüd Kartheisers ausschließlich aus ihrer manchmal aus ironisch kommentierenden Perspektive.

Erst später wird und muss sich die Gewichtung des Plots verschieben.   

Da wäre zum einen der Kriminalfall. Auf den ersten Blick steht die künstliche Intelligenz des Klosters im Verdacht, einen der Mönche ermordet zu haben. Im Laufe der Handlung auch durch den Remscheidtest stellt sich für Rüd Kartheiser wie auch die Leser die Frage, ab wann ist perfide gesprochen ein Mord wirklich ein Mord? Der Autor geht zwar nicht in die Details der Rechtsprechung, aber aktive unterlassene Hilfeleistung oder eine Art passive Sterbehilfe sind von einer rein logisch denkenden künstlichen Intelligenz in ihren Handlungen ähnlich gewichtet wie zum Beispiel das aktive Töten eines Menschen, das in dieser vom Klappentext sehr plakativ beschriebenen Form nicht stattfindet.

Während Rüth Kartheiser als Helfer in der Not noch von den Mönchen auf dem kleinen, isoliert gelegenen Mond mit einer aus wirtschaftlichen Fehlinvestitionen und Katastrophen markanten Vergangenheit akzeptiert wird, ist seine holographische Assistentin Zack ein rotes Tuch für die Mönche. Sie bringt alleine durch ihre erotische Erscheinung, die wegen der lange Zeit nur mäßigen holographischen Struktur auch nicht wirklich in Sack und Asche durch die endlos erscheinenden Gänge spazieren kann, alles durcheinander. Der Ich- Erzählerin Zack wird ein sehr breiter Raum zugestanden, wobei auch das Verhältnis zwischen Rüth und Zack vor allem für einen Inquisitor interessant ist. Auf der einen Seite soll er Fehlabläufe innerhalb von künstlichen Intelligenzen und ihrer Interaktion mit der Umwelt feststellen, auf der anderen Seite ist er emotional bis devot von Zack oder das, was er in Zack sieht, abhängig. Mit Zacks militärischer Struktur kommt er seinem idealisierten Ziel ein wenig näher, auf der anderen Seite muss er aber auch erkennen, das Zack trotz aller simulierten Gefühle auch eine künstliche Intelligenz ist, die möglicherweise auch absichtlich nicht auf ihn angesetzt, aber zumindest auf ihn nicht nur nach seinen eigenen Wünschen zugeschnitten worden ist.

Die künstliche Intelligenz auf Athos entwickelt  im Laufe der Handlung ebenfalls ein Eigenleben. Zumindest kann sie sich weniger verstecken, wobei sie mit einigen Aktionen innerhalb des kleinen Mönchordens nur bedingt etwas zu tun hat. Das ebenfalls vom Klappentext beschworene Geheimnis des Mondes und seiner Bewohner wird vom Autoren zweigeteilt präsentiert. Beide Seiten haben im übertragenen Sinne ein  paralleles Dasein befristet und haben nur mittelbar miteinander zu tun.

Die Aufgabe der klassischen Ermittlungsstruktur – die möglichen Hergänge werden vor Ende des zweiten Buchabschnitts weitgehend geklärt   - im letzten Drittel des Buches macht den Zugang zum Plot allerdings nicht einfacher, sondern komplizierter. Genauso wie sich Rüths Verhältnis zu Zack noch einmal ändert oder besser intensiviert, beginnt auch die künstliche Intelligenz des Klosters auf die möglicherweise drohenden Änderungen ihrer Persönlichkeit zu reagieren und übernimmt phasenweise die Initiative. Das bislang psychologische Kammerspiel wird dadurch mehr zu einem auch an Actionszenen reichhaltigeren Stoff.

Unabhängig davon versucht Nils Westerboer aber klassische, manchmal inzwischen auch klischeehafte Science Fiction Muster konsequent und von neuen Begriffsfamilien begleitet weiterzudenken. Basierend auf einem nicht unbedingt neuen, aber nachdenklich stimmenden Mensch/ KI Verhältnis definiert der Autor die Begriffe menschlich oder besser auch menschliches Verhalten im Vergleich zu reiner Logik nicht selten entgegen der Erwartungen seiner Leser und definiert dadurch neue Denkansätze. Auszüge aus einem Journal sollen zeigen, wie gerne Mensch die Verantwortung und damit auch das schlechte Gewissen an künstliche Intelligenzen abtritt. Ohne über die weiterreichenden Folgen nachzudenken. Mit denen wird im übertragenen Sinne eine andere Generation Mensch konfrontiert, die nach den blühenden Landschaften auf der Erde schmachtet.

Verschiedene Themen wie die ethische Einstellung der Menschen – der Autor fokussiert sich mit den christlich- orthodoxen Mönchen aber auf eine besonders kleine isoliert lebende Gruppe – gegenüber der künstlichen Intelligenz, aber auch das Leben mit dem Komplex, nicht mehr das intelligenteste „Wesen“ im Sonnensystem zu sein, werden gestreift, angedacht, manchmal auch zufriedenstellend extrapoliert, aber niemals wirklich für den Leser abgeschlossen. Vieles bleibt offen. Das deutet nicht unbedingt konsequent auf eine Fortsetzung hin, aber die fehlende Positionierung des Autoren bedingt durch seine fragilen Charaktere wie Rüth, aber auch die emotional erstaunlich menschliche Zack hinsichtlich seines Modells frustriert am Ende der ein wenig hektisch auslaufenden Geschichte auch.

Stilistisch mit guten Dialogen ansprechend geschrieben und dank eines guten Auges für die kleinen Details in einer eher herausfordernden Zukunft auch überzeugend hintergrundtechnisch entwickelt ist „Athos 2643“ ein interessanter gedankenschwerer, viele zeitlose Themen streifender Science Fiction Roman aus der Feder eines deutschen Autoren, der wahrscheinlich zu den besten deutschsprachigen SF Romanen dieses Jahr gehören wird.

 

Athos 2643: Roman

  • Herausgeber ‏ : ‎ Klett-Cotta; 1. Auflage 2022 (19. Februar 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Broschiert ‏ : ‎ 432 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3608984941
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3608984941