Das zweite Gesicht oder die Verfolgung um die Erde Band 1

Robert Kraft

In vier wieder aufwendig gestalteten Hardcovern legt der Verlag Dieter von Reeken einen weiteren Kolportage oder besser Lieferungsroman aus der Feder Robert Krafts neu auf. “Das zweite Gesicht oder die Verfolgung rund um die Erde” ist zum ersten Mal ab 1913 beim Dresdner Roman Verlag in insgesamt 46 Lieferungen zu jeweils 64 Seiten veröffentlicht worden. Neben den jeweils eine Lieferung einleitendem Frontispiz finden sich auch alle 57 teilweise ganzseitigen Illustrationen der Originalausgabe in diesem exzellenten Nachdruck wieder. Mit fast dreitausend Seiten handelt es sich um einen dieser nicht nur für Robert Kraft, sondern sich auch auf  fünf frühe  Romane Karl Mays beziehend typischen Groschenheft Romane, die von fahrenden Händlern in der Zeit des Kaiserreichs gerne unter das eher an derber, einfacher Unterhaltung interessierte Volk gebracht worden ist.

Robert Kraft hat diese Text wie wahrscheinlich viele andere Lohnschreiber schnell hintereinander und manchmal auch ohne einen durchgängigen Faden niedergeschrieben. Dabei wechseln sich vor allem in “Atalanta- Das Geheimnis des Sklavensees” Passagen ab, die irgendwo zwischen Jules Verne und seinen technischen Ideen, aber auch den französischen Pulpabenteuern mit ihren überzeichneten Pro- und Antagonisten sowie als Vorläufer zu den technisch utopischen Romanen eines Hans Dominik angesehen werden können. In den gleichen Lieferungsromanen werden dann allerdings auch sehr lange Passagen präsentiert, die wie eine Mischung aus Gerstäcker und Karl May wirken. Nicht hinsichtlich des Überhelden und Ich- Erzählers, mit denen sich Karl May mehr und mehr in seiner Traumwelt identifizierte, sondern hinsichtlich der exotisch erscheinenden Gegenden, in denen die Geschichten spielten. Dazu kommen lange Dialogpassagen, mit denen nicht nur Karl May,sondern auch Robert Kraft mal intensiv, dann wieder ermüdend Seiten geschunden hat, wenn wahrscheinlich ein Abgabetermin drückte und ausführliche Erklärungen hinsichtlich der Orte, an denen die Handlungen spielen. 

Im Gegensatz zu Karl May, der zwischen Amerika - dabei spielt es keine Rolle, ob Nord, Mittel und in einigen Fällen auch Südamerika - und dem Orient strikt trennte und niemals offensichtliche Zusammenhänge über die Person des Ich- Erzählers zuließ.

Robert Krafts Spielplatz ist die ganze Welt gewesen und “Das zweite Gesicht” ist dafür ein klassisches Beispiel. Der Rückblick beginnt in den unwirtlichen Bergen der Vereinigten Staaten. Wichtige Abschnitte inklusiv der Suche nach einer Mumie dann wieder in Ägypten. Andere Passagen sind in Europa angesiedelt. Und dazwischen bewegt Robert Kraft sehr viele, auf den ersten Blick nicht miteinander verbundene Figuren über sein imaginäres Schachbrett. Dieter von Reeken weisst allerdings darauf hin, dass Robert Kraft im vorliegenden Fall mit der letzten Lieferung 46 die in verschiedenen, nicht offensichtlich miteinander verbundenen Wellen ablaufende Handlung einfach abgebrochen hat.

Begründet wird das mit einer Krankheit des Autoren.  Es gibt Spekulationen, dass Robert Kraft und sein Verleger Angst vor der monumentalen Aufgabe hatten, die verschiedenen Handlungsebenen wieder zusammenzuführen. Für eine Erkrankung des Autoren wie vom Verlag proklamiert spricht dagegen, dass Robert Kraft ja nur wenige Jahre später mit einem Nervenleiden und einer totalen Erschöpfung von Freunden nach Haffkrug an die Ostsee geschickt worden ist, wo er 1916 verstarb. Beide Erklärungen für den nicht abgeschlossenen Roman müssen bis zu einer endgültigen Klärung der Angelegenheit gegenüberstehen. Posthum erschien aber mit “Loke Klingor- der Mann mit den Teufelsaugen” (ebenfalls im Verlag Dieter von Reeken nachgedruckt) allerdings eine weitere Arbeit, die sich intensiver und als Ganzes betrachtet sehr viel zufriedenstellender nicht nur mit okkulten Themen auseinandersetzte, sondern eine perfekte Mischung aus Robert Krafts epochalen Storys und den französischen Gaunergeschichten wie “Fantomas”, “Arsene Lupin” oder vielleicht “Judex” darstellte.    

Wie schwierig die Entwicklung des Plots wirklich ist, zeigen schon die im ersten Buch zusammengefassten Lieferungen.  Es ist ein klassischer Kampf zwischen arm und reich. Ein Jäger in seinem Versteck erzählt einem zufällig daher gelaufenen Wanderer von seinem Schicksal. Sein Kind ist angeblich gestorben. Als erfahrener Waldmann hat er aber schnell erkannt, dass man seiner Frau ein anderes totes Kind untergeschoben hat. Ob es nur einen Waldmann dazu braucht oder die Mutter nicht ihr eigenes Kind inklusiv einer markanten Narbe am Kopf wiedererkennen sollte, sei dahingestellt. Auf jeden Fall bringt sich seine Frau angesichts der eigenen Schuldgefühle um, angeblich soll sie ihr Kind im Schlaf erdrückt haben. Der Jäger macht sich auf die Suche nach seinem Kind und wird an einem Bahnhof durch einen Zufall fündig. Anscheinend hat die Amme einer reichen Frau, bekannt mit der Familie des Erzählers, die Kinder vertauscht, nachdem die reiche Frau vielleicht auch im Wahn das eigene Kind erdrückt hat. 

Immer wieder versucht der Mann seinen Sohn zu befreien. Zum Zeitpunkt der Erzählung versteckt sich der Knabe mit seinem Vater im Wald. Immer wieder wird der Junge gefangen und muss wieder zu seiner “Mutter”, die ihn in einer Mischung aus Irrsinn und Hingabe wie in einem Gefängnis hält. Der Vater wird in die Irrenanstalt gesteckt, aus welcher er immer wieder entkommen kann. 

Der Besucher ist ein erfahrener Weltmann, im Gegensatz zu Karl May aus reichem Fürstenhause und will dem wieder in Gefangenschaft geratenen Manne helfen. Er kommt einer Verschwörung auf die Spur, dass wegen der hohen Belohnung finstere Kräfte dem Mann eine weitere Möglichkeit zur Flucht zur Verfügung stellen wollen. Er befreit Vater und das Kind.

Die reiche Frau beginnt wieder mit der Verfolgung. Ein junges Mädchen, das die Gabe des zweiten Gesichts im schlafwandlerischen Zustand hat, und über weite Entfernungen quasi in die Menschen hineinschauen kann - sie weiß auch, wenn Menschen schon tot sind - soll bei der Suche helfen. 

Robert Kraft hat im Gegensatz zum technisch orientierten Jules Verne oder dem klassischen Abenteuerschriftsteller Karl May in verschiedenen seiner Lieferungsromane auf das Okkulte, das zweite Gesicht oder das rein Übernatürliche zurückgegriffen. Dabei orientiert er sich an der Meyrink, Ewers Schule, nimmt die Geschichten aus “Dem Orchideengarten” vorweg.    

Das zweite Gesicht ist nicht das einzige übernatürliche Element. So spielt später ein Wünschelrutengänger auch eine elementare Rolle. Robert Kraft verbindet allerdings das Okkulte abschließend - zumindest für die hier zusammengefassten Lieferungen - mit Geistererscheinungen und erläutert in einem abschließenden Exkurs, das viele dieser Erscheinungen von Scharlatanen, von gut trainierten Illusionisten “beschworen” worden sind. Dabei bleibt die Frage offen, ob die bislang beschriebenen unerklärten, aber für die Handlung und das Verbinden der einzelnen Spannungsbögen notwendige “Sehen” auch in diese Rubrik fallen könnte oder nicht. Interessant ist dabei, dass Robert Kraft die Gabe des zweiten Gesichts vor allem zu Beginn nicht nur ausführlich beschreibt, sondern der Fähigkeiten des Mädchens entsprechende Einschränkungen zubilligt. So muss sie einen Gegenstand oder ein Haar der betroffenen oder zu findenden Person in der Hand halten.  Ihre Gliedmaßen sind teilweise gelähmt. Allerdings nicht von der Geburt an, sondern in Folge einer Durchblutungsstörung. Die regelmäßige Anstrengung des Sehens und damit das Erwärmen der betroffenen Gliedmaßen führt zu einer Heilung und damit zumindest am Ende eines Kapitels impliziert auch zum Verlust der Gabe. 

Auch verschwindet die Jagd nach dem verlorenen Jungen nach den ersten Lieferungen bzw. Kapiteln an Dominanz. Robert Kraft ist sich nicht zu schade,  den anfänglich interessanten Spannungsbogen endend mit einem nächtlichen Flug über die Wüste vorläufig abzubrechen und ganz andere Schauplätze wie die im Sand  vergrabene Mumie inklusiv eines geheimnisvollen Schlüssels zu präsentieren.   

Es ist der erste von insgesamt vier Hardcovern. Für Neueinsteiger in Robert Krafts sehr umfangreiches, aber ohne es verschweigen zu wollen, teilweise auch schnell herunter geschriebenes Werk gibt es ohne Frage gängigere Einstiegswerke wie die Abenteuer des Detektivs Nobody, die überwiegend technische Ideen, aber keine utopischen Ideen erhalten. Oder auch “Atalanta”, dessen abschließend fünf Bände zwei Jahre früher erschienen sein. Eine perfektere Mischung aus phantastischen Abenteuern und utopischen Ideen, auf welche Paul Alfred Müller auch für die “Sun Koh” Serie zumindest als Inspiration zurückgegriffen hat. 

Aber wer sich schon intensiver in Robert Krafts Werk eingelesen hat, wird an diesen vier Bänden beginnend mit dem dynamischen, aber auch stellenweise ein wenig unübersichtlich vom Autoren gestalteten Auftakt seine Freude haben. Auch wenn die Geschichte schließlich nicht fertiggestellt worden ist.    



  • Herausgeber ‏ : ‎ Reeken, Dieter von; 1. Edition (21. Januar 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 458 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3945807638
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3945807637
Kategorie: