Exodus 46

Moreau/ Wipperfürth/ Kugler

14 Kurzgeschichten präsentiert die Exodus 46 Ausgabe. Es gibt dieses Mal keinen Themenschwerpunkt, auch wenn bei vielen Geschichten Kommunikation und darüber hinaus auch die Suche nach den Identitäten im Mittelpunkt der Handlung steht.

 Die Galerie ist Horst Rellecke gewidmet, der seine Bilder klassisch in Öl oder Acryl gemalt hat. Dr. Wolfgang Pippke alias Wolf Welling schreibt die Laudatio. Neben den prachtvollen Bildern ist es schön, das die Herausgeber über den Tellerrand des Genres schauen und einen Künstler präsentieren, der bislang mit dem Fandom keine Berührung hatte und andersherum deswegen seine Bilder wahrscheinlich deutlich unbekannter sind.

 Ulf Fildebrandts „Das chinesische Zimmer“ eröffnet den Reigen von Kurzgeschichten. Der Ich- Erzähler wird zu einem schwer verletzten Soldaten eines namenlosen Krieges gerufen. Er hat sich freiwillig zum Implantation eines neuronalen Netzes gemeldet, das jetzt quasi die Funktion des Körpers übernommen hat, nachdem der Mann aufgrund seiner Kopfverletzungen nicht mehr leben sollte. Ulf Fildebrandt wirft nicht zuletzt dank verschiedener Tests eine Reihe von Fragen auf. Ab wann ist ein Mensch nicht mehr ein Mensch? Hat auch eine neuronale und damit künstliche Intelligenz das Recht auf ein eigenständiges Leben? Ulf Fildebrandt bietet keine Antworten an, er extrapoliert die hinter diesen Fragen stehenden humanistischen Fragen. Das Ende ist eher pragmatisch, abgeschlossen und doch offen zu gleich. Wenn ein Leser auf die finale Antwort wartet, dann muss er weitersuchen, aber auf den wenigen Seiten hat der Autor eine auch von der Charakterseite her interessante und überdenkenswerte Konstellation erschaffen.

 Aiki Mira als neuer hell leuchtender Stern der emotionalen Cyber SF beschreibt in „Hier leben nur die Enkel von Elon Musk“  auch eine Suche. Zwei Protagonisten/ Käfer/ künstliche Intelligenzen kommunizieren miteinander über eine anscheinend „endlos“ erscheinende Entfernung. Sie versuchen die innere Einsamkeit zu überwinden, die Technik setzt ihnen Grenzen. Auf wenigen Seiten ohne nähere Beschreibung der Handelnden gelingt Aiiki Mira eine emotional überzeugende, vielschichtige Charakterstudie, auch wenn der eigentliche Plot eher ein karges Stillleben ist.

 Marcel Meders „Die Welt ist in guten Händen“ unterstreicht die Stärken, aber auch teilweise die Schwächen der „Exodus“ Ausgaben. Wie alle Geschichten nicht nur dieser Sammlung, sondern fast aller Magazine ist sie stilistisch gut geschrieben und der Hintergrund der Story überzeugt. Der Plot ist allerdings vorhersehbar. Eine Gruppe von Hackern versucht die korrupte Politik eines nach den Rohstoff gierenden Konzerns zu entlarven und erringt allerhöchstens einen Pyrrhussieg. Maike Brauns „Ein vierblättriges Kleeblatt“ erzählt ebenfalls von einer Rebellion aus dem Inneren heraus. Der Protagonist ist von frühester Kindheit an ein Außenseiter der Gesellschaft, der Emotionen jeglicher art aufnehmen, filtern und einordnen kann. Emotionen anderer Menschen. Das macht ihn für die Ordnungskräfte vor allem bei Massenveranstaltungen so wertvoll. Aber Tajo ist schon lange unzufrieden und als sich für ihn eine Tür öffnet, durchschreitet er sie natürlich. Auch hier wirkt kritisch gesehen das Grundhandlungskonzept bekannt, aber Maike Braun entwickelt im Gegensatz zu Marcel Meders plakativeren Hintergrund eine bessere Beziehung zu ihrem tragischen Antihelden. 

 Deutlich besser und mit überragend geschriebenen, sehr pointiert ironischen Dialogen ist Lisa Jenny Kriegs „Die Todbringerin“. Es handelt sich um eine Second Contact Geschichte auf einem exotisch wirkenden Planeten. Vor vielen Jahren haben die Menschen dort gesiedelt und ihre Viren eingeschleppt. Die an Libellen erinnernde Urbevölkerung ist fast gänzlich ausgelöscht worden. Eine menschliche Späherin kommt auf einer verzweifelten Mission in Kontakt mit einer Libelle. Es wird  keine Freundschaft daraus, aber eine gegenseitige hilfreiche Akzeptanz. Auch wenn der Plot vertraut erscheinen könnte, üben die schon angesprochenen wirklich laut zu lesenden Dialoge, die Biotechnik und der Hintergrund der Story  einen unglaublichen Lesereiz aus.

 Uwe Post präsentiert mit „Der Flaschenwal“ keine seiner bekannten Satiren, sondern beschreibt die Welt nach der ökologischen Katastrophe. Wie bei Ballard wie in diesem Fall kein Riese, sondern ein Wal an das Ufer gespült. Er scheidet Plastikflaschen aus. Der Vater der jugendlichen Protagonisten sieht in diesem Fund die Chance auf einen besonderen Tausch. Ohne in die Details zu gehen zeichnet Uwe Post eine dystopische Zukunft, in welcher die Ignoranten durch den Fall in die Barbarei bestraft werden, während nur wenige das Licht sehen, also eine bessere, aber sich innerhalb geschlossener Mauern abspielende  Zukunft haben. Eine ideenreiche Geschichte, die nicht zuletzt aufgrund der auf den ersten Blick absurden Ausgangsprämisse im Gedächtnis bleibt.

 „Das Tor zur goldenen Stadt“ von Andreas Eschbach ist die größte Enttäuschung. Die Reise ist interessanter als das Ziel. Drei Generationen von Kriegern – wobei der Enkel eher der Liebe zu einer egoistischen Frau folgt – versuchen den Wächter am Tor zur Goldenen Stadt zu besiegen, hinter dem legendärer Reichtum liegen soll. Die Pointe macht weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick wirklich nachhaltig Sinn. Andere Autoren haben sich an der gleichen, inzwischen antiquierten Prämisse versucht und ein vor knapp siebzig Jahren veröffentlichter Roman gilt in dieser Hinsicht immer noch als ein herausragendes Beispiel.

 Roland Groh experimentiert in „Die Stunde des Wahnsinns“  mit der Idee einer Sanduhr und Protagonisten, denen buchstäblich Sand durch ihre Welt rinnt. Sprachlich intensiv wirken die hintergründlichen Beschreibungen ein wenig zu oberflächlich, als das die auf eine eher bemühte und zu offene Pointe hinsteuernde Geschichte wirklich überzeugen kann.

 „Die End-of-Life-Schaltung“ von Uwe Hermann ist eine positiv gesprochen verdrehte Version von „Ziemlich Beste Freunde“. Der Sohn bringt einem alten, noch zu Hause lebenden Mann einen ebenfalls alten Roboter als Haushaltshilfe. Mann und Maschine raufen sich zusammen, eine Freundschaft endet. Ohne Sentimentalitäten beschreibt der Autor das Zusammenleben genauso wie die Schwierigkeiten, mit denen ältere Menschen real oder in den geistigen Blockaden ihrer eingefahrenen Wege konfrontiert werden. Das Ende unterminiert ein wenig den emotional überzeugenden Gehalt dieser Geschichte. Es ist alles pragmatisch und positiv zugleich. 

 Scipio Rodenbücher kann wie Lisa Jenny Krieg pointierte Dialoge schreiben. Beide Geschichten leben von den teilweise überdreht erscheinenden, aber vor allem auch laut lesenswerten Dialogen. Wenn die Autorin ihre drei Protagonisten dann auch noch „Ritter, Tod und Teufel“ nennt, spielt die laufende Handlung keine entscheidende Rolle. Aber wie Lisa Jenny Krieg nimmt sie ein bekanntes First Contact Szenario und überdreht den Inhalt ihrer Geschichte ins Absurde. Im Gegensatz zu Lisa Jenny Krieg geht sie weniger hinsichtlich des Hintergrunds auf ausgefeilte Details ein, sondern konzentriert sich auf die flotten Gespräche einer wahrscheinlich im Gedächtnis bleibenden Dreiergruppe.

 Klaus N. Fricks „Im Haus der vielen Fenster“ funktioniert auf zwei Ebenen sehr gut. Die Kommunikation Vater- Sohn als ewiges Rätsel der potentiell verschenkten Möglichkeiten bildet das Gerüst dieser Geschichte. Aber der „allmächtige Vater“ schenkt seinem in die Rolle wachsenden Sohn ein Haus, das auf den ersten Blick gewöhnlich erscheint. Aber durch die Fenster kann der Sohn in Universen schauen. Faszinierend, verstörend, süchtig machend sind die Ausblicke. Die Pointe ist konsequent und verschiebt die emotional charakterliche Ebene noch ein wenig.

 Mit „Brandzeichen“ (Thomas Grüter) findet der Leser eine der wunderbaren Paranoia Science Fiction Geschichten, in denen der Protagonist – dieses Mal in Begleitung einer sehr attraktiven Kollegin, die wirklich nichts von ihm will – quasi zwar auf ein vertrautes Spielfeld gesetzt wird, dessen Parameter sich komplett geändert haben. Ein hohes Tempo bestimmt die Geschichte genauso wie kosmische Ideen. In dieser Hinsicht wandelt Thomas Grüter auf einem schmalen wie pragmatischen Grat, denn die einzelnen Facetten seiner Ideen wirken dem Leser auf der einen Seite aus anderen Texten vertraut, auf der anderen Seite baut der Autor sie dank des hohen Tempos überzeugend zusammen, so dass Leser wie Protagonist staunend zurückbleiben. Außerirdische könnten die Menschheit mittels einer implizierten DNA-  Sequenz gebrandmarkt haben. Dazu haben sie besondere Wächter zurückgelassen, die sich aber von ihren Herren emanzipieren wollen.

 „Humanicity“ von Christian Hornstein spielt in Philip K. Dick Land. Wie unterscheidet man menschenähnlich Androiden von Menschen? Wann wäre ein Mensch nicht mehr Mensch? Wie bei Dick gibt es nicht nur besondere Test – aufgrund seines beruflichen Hintergrund präsentiert Christian Hornstein einige effektive Beispiele -, sondern eine besondere berufliche Kaste ist auserkoren, die Urteile zu fällen. Dabei drohen diese nicht nur betriebsblind zu werden, sondern die Industrie versucht die Grenzen zu überschreiten. Die Geschichte ist intensiv, auf den Punkt genau geplant und verfügt auch über ein emotional ansprechendes, nicht kitschiges Ende. Leider greift Christian Hornstein zu sehr auf die von ihm selbst geschaffenen Fachbegriffe zurück und baut so eine Distanz zwischen den Protagonisten und den Lesern auf.  

 Volker Dornemanns „Treibgut“ ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Miniatur. In wenigen Sätzen präsentiert der Autor ein Kurzszenario, das Jahrtausende umfasst und doch nur einen Moment dauert, in dem wir es lesen.  Dazu kommen zwei Beiträge in der Lyriksektion mit Jules Verne als einleitendem Paten dieser Ausgabe.

 Die Stärke von „Exodus“ ist immer die Kombination aus Geschichte und Graphik. Stellvertretend beweisen Lothar Bauer, Uli Bendick, Gerd Frey, Detlef Klewer oder auch Michael Vogt – nicht alle können genannt werden – das diese Symbiose funktioniert. Die teilweise großformatigen Bilder versuchen besondere Situationen und Stimmungen der sie begleitenden Geschichten farbenprächtig, expressiv und unterschiedlichste Stilarten nutzend auszudrücken. Nicht selten wird das Auge des Lesers von den Bildern buchstäblich gefangen. Sie erweitern die Geschichten, ohne das Augenmerk des Betrachters alleine auf sich zu lenken. In dieser Hinsicht überzeugt „Exodus“ 46 vielleicht noch ein klein wenig mehr als die Phalanx anderer Ausgaben aus dem Hause Moreau/ Wipperfürth/Kugler.

 „Exodus“ 46 ist eine lesenwerte Ausgabe. Wie eingangs erwähnt überzeugen alle Geschichten mindestens auf der stilistischen Ebene. Auch bei dem Leser vertrauten Themen versuchen die meisten Autoren andere, interessante Wege zu gehen. In der Vergangenheit waren die Themenausgaben im Vergleich zu den eher breit aufgestellten „normalen“ Exodus Themen die stärkeren Ausgaben. Exodus 46 durchbricht diese Serie und bietet nicht selten klassische Science Fiction modern interpretiert und perfekt illustriert an.            

 

EXODUS 46

Erschienen: 18. Mai 2023

120 Seiten

Preis: 15,90 € 
Ausland: (zuzüglich Versand)

ISSN 1860-675X