Strandgut

Marinne Labisch

„Strandgut“ – herausgegeben von Marianne Labisch – setzt sich mit einem brandaktuellen Thema auseinander. Den Flüchtlingen, nicht nur auf fernen Planeten oder in unbestimmbaren Zukünften, sondern vor allem auch im Hier und Jetzt, wie die stärksten Geschichten dieser reichhaltig bebilderten Anthologie beweisen. Marianne Labischs Nachwort kann zusammen mit Jaqueline Montemurris Vorbild zusammen gelesen werden.  Das Thema ist sicherlich schwer zu greifen und könnte auch leicht polemisch politisiert werden. Unter anderem arbeiten Jacqueline Montemurri in der Flüchtlingshilfe, Vincent Voss ist Integrationsbeauftragter. Daher geht Jacqueline Montemurri in ihrem Vorwort auf die Ursachen der Flucht und die Motive der Flüchtlinge ein. Sie brandmarkt den Begriff der Wirtschaftsflüchtlinge und zeigt auf, wie schwer es den Menschen fällt, die eigene Heimat für eine Reise ins Unbekannte, zu oft auch in den Tod zu verlassen.

Natürlich trifft diese Anthologie bei den aktuellen Diskussionen um die Aufnahme und auch Rücksendung von Flüchtlingen einen die Gesellschaft spaltenden Zeitgeist, dessen Fratze sich in verschiedenen Extremen zeigt. Menschen, die geschützt werden müssen; Menschen, die alles aufgeben, um ein neues Leben in Freiheit und Frieden zu beginnen und dabei auch einen Ausgleich zwischen den Gesetzen und dem Demokratieverständnis der Länder, die sie aufnehmen und der eigenen Kultur suchen, verdienen weiterhin nicht nur Asyl und Bleiberecht, sondern eine schnelle Integration in die Gesellschaft, die auf diese Arbeitskräfte, auf diese Menschen, die willig sind, in ihnen zu leben wie zu arbeiten, auch angewiesen sind. Dabei müssen nicht selten noch die Schranken im Kopf der Einheimischen überwunden werden. Aber es gibt auch weiterhin die Menschen, die opportunistisch „flüchten“ und in ihren Gastländern die Sitten/ Gebräuche mit Füßen treten sowie mit krimineller Energie sich Vorteile zu verschaffen. Das ist sicherlich nicht die Mehrheit der Menschen, die sich auf die gefährliche Reise nach Europa machen, aber es ist diese Minderheit, die in erster Linie für den Aufschrei der Wohlstandsbürger sorgt und die Staaten auch rechtlich überfordert. Es wäre einfacher, wenn das Eine oder das Andere ginge, aber die Realität sieht anders aus. Um auf den Kern der hier gesammelten Geschichten, den beiden kurzen, aber prägnanten Vorwörtern und schließlich teilweise auch Michael Iwoleits, jede Geschichte einleitende Worte zurückzukommen. Die zwanzig hier gesammelten Geschichten setzen sich mit dem Schicksal von Menschen auseinander, die entweder ihre Heimat aus Angst um das eigene Leben verlassen haben; andere Menschen auf die Situation in ihrem Heimatland aufmerksam machen wollen und vor allem handeln die Geschichten auch von den Menschen aus der Ersten Welt – es spielt keine Rolle, ob real oder futuristisch- fiktiv - , mit denen sie in Berührung kommen oder die von dem Leid außerhalb ihres Kontinents erst lernen. Und das meistens aus erster wie tragischer Hand.    

    Marianne Labisch schreibt in ihrem Nachwort, dass Vincent Voss Geschichte – für eine andere Anthologie – den Anstoß zu diesem Projekt, den symbolischen Stein ins Rollen brachte. Daher gebührt Vincent Voss „Die Geschichte von zwei Reisen“ auch die Ehre, „Strandgut“ zu eröffnen. Es ist auch die Geschichte von zwei sehr unterschiedlichen Reisen bzw. einer Flucht und einer Reise. Der zweite Teil der Geschichte zeigt den Werdegang einer Handfeuerwaffe aus deutscher Produktion auf. Vor allem Jahren spielte eine „Winchester 73“ im gleichnamigen Western ebenfalls die tragische Titelrolle. In beiden Geschichten wird der Weg der jeweiligen Waffe genauso aufgezeigt, wie die Menschen, die mit ihr getötet worden sind. Diese Reise wirkt anfänglich wie ein Bruch des bisherigen Plotaufbaus, im letzten Absatz fängt Vincent Voss allerdings diese vermeintliche Exkursion ein und schließt den Handlungsbogen. Vorher erfährt der Leser von einem Geschichtenerzählern, einem ehemaligen Fischer in einem kleinen beschaulichen Ort an der portugiesischen Küste, der abends in einer Kneipe Geschichten erzählt. Irgendwann sammelt er das angetriebene Strandgut ein und wenn es sich um Dinge von auf dem Meer verstorbenen Flüchtlingen handelt, bewahrt er sie in seinem Schrein auf. Einer der ersten Gegenstände sind ein roter Schuh und ein Kuscheltier. Eines Tages findet er zwei Handvoll von angeschwemmten Leichen am Strand und setzt sich für ein Menschenwürdiges Begräbnis ein. Seine Geschichten werden dunkler, was seinem Freund und Arbeitergeber nicht unbedingt gefällt.

Vincent Voss arbeitet als Integrationsbeauftragter und hat seine sehr emotionale, sehr persönliche und nur latent futuristische Story aus verschiedenen Berichten/ Erfahrungen und Erzählungen zusammengesetzt, mit denen er während seines Hauptberufs konfrontiert worden ist. Der krasse Gegensatz zwischen Touristenorten und angespülten Leichen; die Ignoranz des Schicksals der Menschen auf dem anderen Kontinent, nur durch eine Meerenge getrennt und die Gefahren der Flucht oder wie in diesem Fall einer besonderen Mission werden drastisch, aber durch den übergeordneten Erzähler auch emotional distanziert beschrieben. Beide Reisen berühren das Herz auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Das Bild des angespülten ertrunkenen Zweijährigen, auf das Michael Iwoleit in seinem Vorwort zur Geschichte noch einmal eingeht wie auch der tote Junge auf Mario Frankes Titelbild zeigen die Opfer der Flucht, während die Geschichte der Waffe auch auf deren Ursachen eingeht, die nicht immer nur von den westlichen Industrienationen alleine zu verantworten sind. „Die Geschichte von zwei Reisen“ wird auch phasenweise zu einer stimmungsvollen Geistergeschichte. Vincent Voss streift viele Themen und springt zeitlich zwischen den einzelnen Handlungsebenen hin und her. Die ruhige Stimme seines altehrwürdigen Erzählers, seines Fischer ordnet diese Szenarien und fügt ihnen einen melancholischen, aber niemals kitschigen Unterton hinzu.           

 Arno Edlers „Rote Nase“ enthält bis auf eine kleine technische Spielerei in einem Handy keine phantastischen Elemente oder futuristischen Daten. Ein Mann verfolgt auf einer Kinderhospizstation, wie ein Clown die todkranken Kinder für einen Moment zum Lachen bringt. Nach der Vorstellung beginnt er sich mit dem Mann zu unterhalten. Der Leser ahnt einzelne Wendungen der Geschichte, aber immer am Rand des emotional Erträglichen berichtet der Autor in doppelter Hinsicht vom Schicksal einzelner Menschen, das keine Grenzen oder Nationen kennt und von der wenigen Hoffnung an einem Ort der Hoffnungslosigkeit, der in fast allen Städten um die Ecke liegt und doch nur selten die Beachtung erlangt, die er verdient hat. 

 „Was wir im Traum einander antun“ von Aiki Mira wirkt als Kurzgeschichte zu komprimiert. Viele Ansätze sind vorhanden, aber die gute Zeichnung der unterschiedlichen Charaktere geht ein wenig verloren. Eine Mutter flieht mit ihren Kindern nach Europa. Vor der Flucht sollte einem der Kinder ein Implantat eingesetzt werden, damit sie es leichter haben. Die Operation geht schief. In Europa gilt das Mädchen als behindert, während die Mutter verzweifelt die Familie zu ernähren sucht. Der Hauptplot besteht aus einer ungewöhnlichen Freundschaft, die möglicherweise das Potential zur Liebe hat und dem Sohn, der am liebsten ein Mädchen gewesen wäre. Die Geschichte verfügt über Potential und Aiki Mira zeichnet – nicht zum ersten Mal in ihrem Werk – den Kontrast zwischen der entmenschlichenden Arbeit und dem Leben in einem kapitalistischen Elend auf. Allerdings bietet der Text eher das Potential für eine Novelle als eine Kurzgeschichte.

 „Rosinenpicken“ von Regina Schleheck leidet auch unter ihrer Kürze. Michael Iwoleit schreibt zwar, dass die Autorin vor allem Krimis verfasst und Abstecher in das Phantastische hinzufügt. „Rosinenpicken“ ist  wie Vincent Voss Story die Geschichte einer Reise. Die Protagonistin beschließt, nach einer kurzen Sommerliebe mit einem adligen Jungen aus Italien, nach Europa aufzubrechen. Auf der Flucht erlebt sie einige Grausamkeiten und wird dem Tode überlassen. Durch einen Zufall landet sie schließlich am richtigen Ort, wobei die familiären Schwierigkeiten ihres Geliebten offensichtlich werden. Die Flucht wird auf der einen Seite durch die Erzählerin trotz einiger dramatischer Erlebnisse erstaunlich pragmatisch und wenig emotional beschrieben. In der neuen Heimat angekommen entwickelt Regina Schleheck ein Familiendrama, dessen Funke angesichts der Erlebnisse auf der Flucht nicht wirklich überspringen will und das Ende wirkt eher hektisch.

 Friedhelm Schneidewinds „Rebell aus Liebe“ ist ein Fantasy Epos. Ein Einhorn befindet sich auf der Flucht und trifft auf einen blauen Drachen, dessen Familien vom Tyrannen – ein roter Drachen- gejagt wird. Der Titel ist für die zweite, sehr kompakte Hälfte der Geschichte Programm. In zwei Rückblenden beschreibt Friedhelm Schneidewind das Schicksal der aus der Menschenwelt geflüchteten Einhörner und die Aussonderung der farblich anderen Drachen durch den Tyrannen. Am Ende überschlagen sich nicht nur in dieser Kurzgeschichte die Ereignisse, aber Friedhelm Schneidewind fügt seiner Geschichte noch eine Ballade – inklusive der Noten – hinzu, so dass seine Kurzgeschichte im Bereich der emotional ansprechenden Legende endet. Interessant ist weiterhin, wie der Autor zwei aktuelle Themen – Flüchtlinge und Rassismus im eigenen Land – mit den Fantasy Gestalten zu einem kurzweilig zu lesenden Garn verbunden hat. 

 Heidrun Jänchens „Ausreißer“ beschreibt den Ausbruch einer Seuche in einem Flüchtlingsheim, die allerdings nur Menschen aus dem arabischen Raum betrifft. Es geht auch weniger um die Hintergründe dieser tödlichen Krankheit, sondern im das Verhalten der Behörden, aber auch der betroffenen Menschen. So überlebt ein junges Mädchen mit ihren beiden Geschwistern, ihre Eltern sterben in dem Heim. Ihre geordnete Welt mit dem täglichen Gang zur Schule wird aus den Angeln gehoben, plötzlich könnte sie zu einem interessanten Forschungsobjekt werden, degradiert von jeglichem Status als Mensch oder auch nur Flüchtling. Die Ukrainer meiden die Araber aus Angst vor der Ansteckung im Heim. Frühzeitig erwachsen geworden bleibt ihre nur eine Option. Heidrun Jänchen schreibt ausschließlich aus der Perspektive des jungen Mädchens, die kaum die chaotische Flucht hinter sich gebracht hat und plötzlich mit einer neuen Bedrohung konfrontiert wird. Aber wie in einigen anderen der hier gesammelten Geschichten sind es einzelne Menschen, die über ihre Anweisungen hinwegsehen und manchmal auch nur durch Passivität Türen öffnen, durch welche die Flüchtlinge selbst gehen müssen. Heidrun Jänchen denkt sich überzeugend in die Gedankenwelt ihrer Protagonistin ein, der Leser kann ihre Pläne auf Augenhöhe verfolgen, was nicht nur zur Dramatik beiträgt, sondern die Geschichte zugänglicher und emotionaler überzeugend macht.

 „Das hier ist nicht Bullerbü“ von Yvonne Tunnat beschreibt die Flucht einer Frau durch eine Alptraumlandschaft, direkt aus Büchern wie „The Road“. Anscheinend kommt die Frau mit ihren Kindern aus einer Zukunft, die noch dunkler ist. Wie in einigen anderen Geschichten der Anthologie haben sich die „Reichen“ oder besser gesagt „Glücklichen“ von ihrer Umwelt isoliert, auch wenn sie selbst Kindermangel haben und Interesse an den Nachkommen der Frau zeigen, aber nicht an ihr, obwohl sie schwanger ist. Am Ende der Geschichte wird ihr zwar in dieser dunklen nihilistischen und unbestimmten Zukunft eine Hand gereicht, aber gleichzeitig zeigt die Autorin den Lesern auch die grausame Wahrheit hinter einem Teil der Reise. Dunkel, nihilistisch und doch mit einem kleinen Silberstreif der Mitmenschlichkeit versehen, der selten strahlt, aber ein wenig „Wärme“ spendet.

 Achim Stößers „Stürzender Stern“ beschreibt das Schicksal eines außerirdischen Wesen, das für sein Blut gejagt wird. Die Menschen machen daraus eine Droge. Als das Raumschiff über einem Planeten abstürzt, dreht sich das Schicksal, wobei die Einheimischen in dem „stürzenden Stern“ anfänglich eine Bedrohung sehen. Die Pointe ist ergreifend und zeigt auf, das auch andere Wesen Gefühle haben. Die Pointe beendet die stringente Geschichte auf einer dunklen Note, auch wenn die Krabbe vorher durch das mutige Eingreifen der Bewohner dieser Welt- auch hier hält Achim Stößer eine kleine Wendung parat – gerettet worden ist.

 Rudolf Arlanows „Die Verstoßenen“ ist eine der wenigen Geschichten, in denen Menschen die Erde verlassen müssen. Sie werden selbst zu Flüchtlingen und landen in den Mienen auf dem Mars, wo sie unabhängig von ihren originären Fähigkeiten wie Sklaven ausgebeutet werden, während die Reichen unter ihren Kuppeln in Saus und Braus leben. Die Erde ist unbewohnbar geworden. In diesem Punkt bleibt der Auge in dieser kurzen Geschichte vage, aber trotz der unwirtlichen Lebensumstände können sich die beiden Ehepartner aufeinander verlassen und einen Moment des Glücks zwischen Erinnerungen die Erde und eine weiterhin düsteren Zukunft genießen. Dieser romantisch emotionale Moment stellt ein gutes Finale  dieser ansonsten bodenständigen und die Missstände auf der Erde zum roten Planeten exportierenden, im Kern in der Gegenwart verankerten Geschichte dar.    

 „Die Tiere vor den Fenstern“ aus der Feder Veith Kanoder- Brunnels ist auf der einen Seite eine interessante Variation der „First Contact“ Geschichte, auf der anderen Seite hinsichtlich des Endes auch ein wenig manipulierend, wobei der Autor zusammen mit Achim Stößers „Stürzender Stern“ über eine der kraftvollsten Pointen dieser Anthologie verfügt. Die Geschichte wird in Rückblicken erzählt. Der Leser weiß gleich zu Beginn, dass ein Self-Made Milliardär in Handschellen „Fehler“ gemacht hat, als er durch einen Zufall mittels seiner Wissenschaftler in Kontakt mit einer fremden, aber seiner eigenen Zivilisation erstaunlich ähnlichen Bevölkerung eines anderen Planeten in Kontakt getreten ist. Aus dem anfänglichen Austausch von Wissen wird eine intensivere Zusammenarbeit, als gegen ein Mittel gegen Krebs eine Sprungtortechnologie zur Verfügung gestellt wird. Allerdings scheinen die Fremden nicht in allen Punkten die Wahrheit zu sagen, wie sich in den folgenden Wochen unter tragischen Umständen herausstellt. Wie einige anderen Kurzgeschichten dieser Sammlung ist der Plot alleine subjektiv erzählt. Der Erzähler präsentiert eine Möglichkeit, es gibt aber keine umfassende Wahrheit, sondern eher zurückreichend bis H.G. Wells „Kampf der Welten“ nur eine mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit. Der Tonfall der Geschichte wird im Verlaufe der Handlung immer tragischer, das Ende ist auf der einen Seite konsequent, auf der anderen Seite auch nihilistisch. Mit der Variation einer bekannten Idee und einer überzeugende Balance aus Naivität und Gutgläubigkeit lassen sich die egoistischen, aber auch opportunistischen Handlungen des Protagonisten nachvollziehen. Dadurch reiht sich diese längere Story in die Spitzengruppe dieser an sehr überzeugenden Geschichten reichhaltigen Anthologie nahtlos ein.

 „Ein paar Minuten noch“ von Karsten Lorenz präsentiert auf den ersten Blick eine Idee, die Douglas Adams schon als Ausgangspunkt seiner „Per Anhalter durch die Galaxis“ Reihe genommen hat. Die Menschheit soll dem nächsten Entwicklungssprung einer höher gestellten Zivilisation weichen. Allerdings werden die Menschen in eine Art Paradies auf einem fremden Planeten transportiert, auf dem Milch und Honig fließen. Ein alter Mann schwankt zwischen der Reise ins Unbekannte und dem Bauernhof, den er sich aufgebaut hat. Er spürt die Verantwortung für die Tiere, die ihm vertrauen. Karsten Lorenz stellt nicht nur seinen Protagonisten vor eine sehr schwierige, im Grunde unmögliche Entscheidung. Der Leser wird indirekt aufgefordert, ebenfalls nachzudenken. Es hilft nicht, dass fast ein wenig kitschig ihm bei seiner Entscheidung geholfen wird. Die Geschichte endet auf einer emotionalen Note, die auf der einen Seite sicherlich bitter, auf der anderen Seite für jeden Menschen, der sich um Tiere kümmert, auch konsequent ist.

 „Kneipenasyl“ von Monika Niehaus spielt in Donnas Kaschemme und ist eine der – auf den ersten Blick – lustigeren Miniaturen dieser Sammlung. Ein Agent macht Stimmung gegen die Fremden, das wirkt an einem Ort, in dem sich die halbe Galaxis zum besten Bier weit und breit trifft, eher absurd. Ein Echsemann wird das Zielobjekt seiner Hasstiraden, wobei er mit der Wahrheit konfrontiert wird. Pointierte Dialoge, ein zufrieden stellende Prämisse und vor allem die Vertrautheit dieses Ortes, den Monika Niehaus schon in mehr als dreißig Miniaturen besucht hat, zeichnen ein deutlich optimistischeres Bild von Menschen als viele andere der hier gesammelten Texte. 

 „Tiefe Wasser“ (Anke Höhl- Kayser) ist eine dieser bitterbösen, nachdenklich stimmenden Geschichten, in denen Mensch aus Egoismus fremde Lebensräume vernichtet. Dabei spielt es keine Rolle, ob auf der Erde oder wie in diesem Fall auf einem fremden Planeten, in dessen Gewässern intelligente Fische leben. Die Geschichte wird ausschließlich aus der Perspektive eines der Meeresbewohner und in der Ich- Form erzählt. Davon sollte sich der Leser aber nicht täuschen lassen. Erst wird ihre Familie durch fremde Maschinen in ihrer natürlichen Umgebung gestört, später von Menschen getötet- ihre Flucht endet schließlich in einem Aquarium, das aber auch keinen Schutz bietet. Die Autorin scheut sich nicht, das drastische Vorgehen – das Motiv wird auf den letzten beiden Seiten enthüllt – detailliert zu beschreiben und einige Leser werden die Fischerei auf der Erde mit anderen Augen sehen. Damit die Geschichte funktioniert, müssen die „Fremden“ sehr menschlich erscheinen,  auch wenn Anke Höhl- Kayser ihre sozialen Strukturen aus dem Reich der Fische übernimmt. Das bittere Ende bleibt dem Leser wie ein Kloss im Hals stecken.

Um soziale Strukturen und einen politischen Reaktionismus geht es auch in „#back_to_normal“ von Janika Rebak. Das Land wird wieder (erz-)konservativer, die beherrschende Farbe ist violett. Asymetrische Familienstrukturen wie in der vorliegenden Konstellation mit einer Frau und zwei Mänern, die gemeinsam ein Kind haben, drohen unter dem Druck der sich wandelnden öffentlichen Meinung zu zerbrechen, wobei es sich auch aufgrund des über ihnen schwebenden Vaterschaftstest sowohl innerlich wie äußerlich zeigt. Janika Rebak bietet ihren Protagonisten zwar eine Lösung an, aber der Leser stellt sich angesichts des Endes der Geschichte auch die Frage, ob einer der Protagonisten nicht auch irgendwie mit der Normalisierung seines Lebens – aus Sicht der Gemeinschaft – plötzlich ein wenig zufrieden ist. Einige Spannungen haben sich schon von Beginn an in dieser Patchwork Familie  gezeigt. An anderen Stellen macht es sich Janika Rebak auch zu leicht, wenn sie mit dem Mädchen und ihrer angeblichen Verhaltensauffälligkeit dem Volksmund nacheifert. Es wäre ein interessanterer Interessenkonflikt gewesen, wenn das Kind aus „normalen“ Verhältnissen auffällig und das Mädchen mit zwei Väter gänzlich normal gewesen wäre. Aber es sind Kleinigkeiten in einer ruhigen Geschichte, die weniger mit Flüchtlingen-  Flucht im weitesten Sinne spielt am Ende der Story auch eine Rolle – als mit den Schranken im Kopf sich auseinandersetzt. Und als indirekte gedankliche Fortführung zu „Tiefe Wasser“ spielt auch ein Goldfisch eine Rolle.

Michael Iwoleit spricht bei „Manuels Worte und Imaras Geschichten“  (Ansgar Sadeghi) von Metafiction. Nicht das Thema der Anthologie steht im Mittelpunkt des Plots, sondern die Annäherung an die Thematik. So wird der Erzähler eingeladen, eine  Geschichte zu einer Anthologie über Flucht und Vertreibung beizusteuern. Da er sich nicht mit der Thematik wohl fühlt und Angst hat, über die Zustände simple Prosa zu verfassen, macht ihn seine Freundin Regina mit Imara bekannt. Einer wunderschönen Frau, die aus ihrer Heimat fliehen musste. Bei den Gesprächen bekommt er einen besseren Einblick in ihre Geschichte, in das Leid im Ausland. Bei den Besuchen bei ihr lernt er den alltäglichen Rassismus der Bildungsbürger kennen, wobei diese Fassaden aus moralischer Dummheit im Ernstfall auch teilweise papierdünn sind. Das Ende dieser Liebesgeschichte ist gleichzeitig der Beginn einer hoffentlich wunderbaren Freundschaft und rundet eine interessante Geschichte über den Versuch, sich literarisch dieser Thematik zu nähern, zufriedenstellend ab.

Michael Tinnefelds „Livorno sehen und …?`“ beschreibt den Flüchtlingsstrom aus Nordeuropa oder in diesem Fall Deutschland in Richtung der Sahara, die nach dem Versiegen des Golfstroms und vermehrten Regen südlich der Alpen zu einer grünen Oase und damit einer Chance für die Millionen Deutschen werden soll, die aus ihrer Heimat aufgrund der klimatischen Bedingungen fliehen. Im Mittelpunkt steht eine deutsche Familie… Vater, Mutter und zwei Kinder. Michael Tinnefeld hat – ohne es zu bewerten – die Fluchtbewegung einfach umgedreht und der Leser ahnt bald, wie die Story enden wird. Trotzdem versucht der Autor die verständlichen Motive herauszuarbeiten und aufzuzeigen, dass sich niemand in dieser Welt auf eine sichere Heimat wirklich verlassen kann.  

“Segmentfäule” von Michael Schmidt setzt sich auf den ersten Blick mit dem Widerspruch zwischen religiösen Fanatismus und damit jeglicher Ignoranz der Fakten sowie wissenschaftlicher Forschung basierend auf einem gewissen Realismus auseinander. Seine Menschen leben buchstäblich und nicht nur im übertragenen Sinne in einer Blase. Teile dieser Blase beginnen zu verfaulen, was die Existenz der Menschen bedroht. Ein älterer Wissenschaftler verliert erst seinen Sohn an die dogmatischen Gläubigen - woran sie glauben, wird in der Geschichte allerdings nicht zufriedenstellend herausgearbeitet - und schließlich seinen Ziehsohn, der sich dem Mob stellt. Im Gegensatz zu vielen anderen Texten dieser Sammlung präsentiert Michael Schmidt ein verhalten optimistisches Ende. Es ist nur schade, dass der Leser über die faszinierend exotischen Hintergrund dieser Welt so wenig, im Grunde zu wenig, erfährt.  

Jol, Rosenbergs “Ankommen” entwickelt sich im Laufe der Handlung vielschichtiger. Die Fremden sind keine echten Fremden, ihre Heimat gilt in der Galaxis als Müllplanet, auf dem das Leben auch für die Einheimischen inzwischen gesundheitliche Schäden verursacht hat. Die kleine Gruppe von Außerirdischen versucht, einem der ihren in der Heimat zu helfen und auf der Erde mit niedrigen, harten Tätigkeiten das Geld für die Heilbehandlung zu verdienen.  Der Ich- Erzähler  schuftet erst auf dem Bau, später in der Pflege. Ein Visum hat er nicht, es hängt wie ein Damoklesschwert über ihm. Jol Rosenberg beschreibt die Hoffnungen und Ängste, die Erwartungen und Enttäuschungen sehr authentisch. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um einen Außerirdischen (mit Schwanz als dritter Hand) handelt oder einen Emigranten. Am Ende der Geschichte zeigt sich ausgerechnet an einem der dunkelsten Orte - es ist kein Hospiz wie bei Arno Edlers “Rote Nase”, aber eine Privatklinik für Schwerstkranke - ein kleiner Silberstreif. Vor allem die überzeugend gestalteten Charaktere mit ihrer Mischung aus Fremdartigkeit und Vertrautheit mit ihrer Suche nach Liebe und der Wärme eines Ortes, der Heimat genannt werden kann, heben die Story aus dieser generell qualitativ überdurchschnittlichen Anthologie positiv hervor.   

Zu den traurigsten und irgendwie auch schönsten Geschichten gehört Jacqueline Montemurris “Hoffnungs-Tief”. Der Titel ist Programm, denn die (falsche) Hoffnung liegt in den Tiefen des Meeres, über das ein Flüchtlingsboot mit anfänglich 32 verzweifelten Menschen fährt. Der junge Protagonist hat seine kleine Schwester und seine Mutter durch die Willkür des Bootsführers verloren. Vielleicht unbewusst fatalistisch sieht er Hoffnung, wo es keine Hoffnung gibt. Jacqueline Montemurri hat wie  Vincent Voss vielleicht die meisten Berührungspunkte mit Flüchtlingen und kennt ihre verzweifelten Bemühungen, ein vergebliches Land voller Milch und Honig zu erreichen, aus erster Hand. Auch deswegen handelt es sich um eine der dunkelsten und leider am meisten realistischen Geschichten dieser Anthologie, in welcher für einen Augenblick die phantastischen Elemente durchscheinen.  

Marianne Labisch beendet die Anthologie mit ihrer Geschichte “Hope”. Der Titel ist ein zweischneidiges Schwert. Ob die Protagonistin so etwas wie Hoffnung auf Terra 1 - geflohen von Seltene Erden4 - erfahren wird, bleibt offen.  Auf Selten Erden 4 waren sie und ihr Mann nur Sklaven der Konglomerate. Verträge bis in die Rente, die niemand aufgrund der unwirtlichen Bedingungen erleben wird. Drei ihrer Kinder sind verhungert. Ihr Mann sieht nur einen Weg, aus dieser Hölle zu entkommen. Aber nicht für alle Familienmitglieder. Auf der Erde wird sie ebenfalls vor eine schwierige, im Kern unmögliche Entscheidung gestellt. Durch das offene Ende wird der Leser zum Nachdenken gezwungen. Er muss sich selbst die Frage stellen, wie er sich entschieden hätte. Es gibt keine einfache Lösung, keine Rettung in letzter Sekunde. In dieser Hinsicht ist Marianne Labischs Geschichte fast genauso dunkel wie Jacqueline Montemurris “Hoffnungs-Tief”. Sehr wahrscheinlich handelt es sich beim Sprung ins Ungewisse eher um einen Pyrrhussieg, einen Moment des Luftholens, aber keine Trendwende. Aber die Hoffnung stribt zuletzt. 

Alle Geschichten sind von Mario Franke und Uli Bendick illustriert worden. Die Zeichnungen trennen die eigentlichen Texte von der Autorenvorstellung,  basieren aber auf den jeweiligen Geschichten und geben wichtige Elemente der Texte eindrucksvoll wie zeitlos wieder. 

Michael Iwoleit schreibt in der Einleitung zu Marianne Labisch Story, dass das offene Ende auch symbolisch für die Flüchtlingskrise steht, denn auch hier gibt es keine zufriedenstellenden Lösungen und ein Ende ist auch nicht in Sicht. Generell verfügen alle hier gesammelten Geschichten mit ihren unterschiedlichen, meistens tragischen bis teilweise hoffnungslosen Ansätzen und einer Vielzahl von Themen, die über das direkte Thema der Flucht weit hinausgehen, über eine hohe literarische Qualität. Wie bei einigen anderen EXODUS Anthologien im Hirnkost Verlag ist “Strandgut” ein perfekter Beweis, dass die Science Fiction - mit Abstechern in den Bereich der Fantasy - nicht nur den Kopf in den imaginären Wolken trägt, sondern brandaktuelle gesellschaftlich relevante Themen mahnend wie intelligent extrapoliert und nach neuen, manchmal auch nur anderen Wegen sucht, welche die Menschheit beschreiten kann oder in einigen Fällen auch muss. 

Aber unabhängig von der vorhandenen stilistischen Qualität der Geschichten ist “Strandgut” alleine wegen des aktuellen Themas und der intelligenten wie nuancierten Herangehensweise der Autoren die Science Fiction Anthologie des Jahres 2024.

Strandgut

  • Herausgeber ‏ : ‎ Hirnkost; 1. Edition (22. März 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 368 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3988570540
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3988570543
  • Abmessungen ‏ : ‎ 16.5 x 3.2 x 21.5 cm