Der Heyne Verlag legt den 1985 veröffentlichten Roman „Galapagos“ nach „Die Sirenen des Titans“ ebenfalls neu auf. Wie in „Die Sirenen des Titans“ nutzt der Amerikaner Kurt Vonnegut ein fast klischeehaftes Thema der Science Fiction – die Menschheit löscht sich bis auf eine sehr kleine Gruppe zufälliger Exilanten selbst aus - , um eine existentielle Betrachtung der Menschheit beginnend mit ihren zu großen und deswegen zu Unsinn fähigen Gehirnen in einem humorvoll lakonischen Ton geschrieben zu präsentieren. Der Titel bezieht sich sowohl auf die Galapagos Inseln, auf denen die neue „Menschheit“ entsteht als auch auf die Evolutionslehren Charles Darwins, welche er auf den Inseln durchgeführt hat.
Auch wenn die Handlung eigenständig und soweit man bei Kurt Vonnegut überhaupt davon sprechen kann, in sich abgeschlossen ist, verbindet der Autor geschickt mittels des Erzählers „Galapagos“ mit einigen anderen seiner Bücher. So wird das Ende und teilweise der Aufstieg der Menschen aus Sicht eines Augenzeugen, aber einer Distanz von mindestens einer Millionen Jahren betrachtet. Der Erzähler ist der Geist Leon Trotsky Trout, dem einzigen Todesfall beim Bau des Luxus Kreuzfahrtschiffs „Bahia de Darwin“, das am Ende vor der Küste der fiktiven Galapagos Insel Santa Rosalia stranden sollte. Leon Trotsky Trout ist der Sohn des nicht unbedingt erfolgreichen Science Fiction Autoren Kilgore Trout, der in einer Reihe von Kurt Vonneguts Romanen auftritt und dessen Namen eine Ableitung Theodore Sturgeons ist. Kilgore Trout tritt direkt oder indirekt in einer Reihe von Vonneguts Büchern auf, seinen einzigen publizierten Science Fiction Roman „Venus on the Half- Shell“ hat allerdings Philip Jose Farmer 1975 verfasst.
Leon Trotsky Trout ist gerührt, als ein schwedischer Psychiater ihn fragt, ob er der Sohn des berühmten Science Fiction Autoren ist. Zu diesem Zeitpunkt ist die Handlung des Buches weit fortgeschritten und Kurt Vonnegut konzentriert sich vor allem unabhängig von einer Reihe chronologischer Sprünge und verbaler Exkurse auf die unfreiwillige Riese auf die Galapagos Inseln und weniger das harte Überleben nach der globalen Katastrophe. Viele Informationen über den Erzähler werden fast beiläufig in die Handlung integriert. Das obligatorische Vietnam Trauma mit der Auslöschung eines ganzen Dorfes als Rache für den Tod eines Kameraden führt Trout als Fahnenflüchtling schließlich nach Schweden, wobei er als Schweißer an dem schon angesprochenen Bau des Luxuskreuzfahrtschiffs teilnimmt, stirbt und irgendwie wieder erweckt wird. Sein Geist scheint zumindest während der Zeit der Katastrophe mit dem Schiff und seinen Fahrgästen verbunden zu sein. Auf der anderen Seite blickt er aus der ebenfalls schon angesprochenen zeitlichen Entfernung von mehr als einer Millionen Jahre offensichtlich nicht mehr als Mensch, sondern als ein fischartiges Wesen mit einem auf die richtige Größe zurück geschrumpften Gehirn auf die Menschheit und ihre fehlerhafte Evolution zurück. Auslöser für diese Langlebigkeit ist die Weigerung Leon Trotzky Trouts, seinem Vater durch den blauen Tunnel ins “Nachleben” zu folgen. Insgesamt viermal tritt Kilgore Trout auf und verweist auf den blauen Tunnel, durch den alle Sterbenden – und das sind in diesem Roman so viele, dass Kurt Vonnegut einzelne Charaktere mit einem Sternchen vor dem Namen alsbald verstorben zu ihrem noch kurzen Lebzeiten markiert – gehen müssen. Nach dem vierten Mal verkündigt Kilgore Trout, dass dieser blaue Tunnel für mindestens eine Millionen Jahre nicht wieder auftauchen wird und Leon Trotzky Trout die langsame Evolution der „Menschen“ auf der Insel Santa Rosalia zu Meeressäugetieren verfolgen kann. Auch am eigenen „Leib“, wobei dieser Begriff für einen Geist von Kurt Vonnegut ambivalent und nicht konsequent genug im Roman benutzt wird.
Kurt Vonnegut nutzt die Insel Thematik, um den Lesern aufzuzeigen, dass das zu große menschliche Gehirn mit seinem Hang zu dummen Gedanken das größte Problem ist. Die natürliche Auslese – wie von Darwin niedergeschrieben – eliminiert dieses Problem von Beginn an, da nur die besten Schwimmer nach dem Stranden des Kreuzfahrtschiffs die Insel Santa Rosalia erreichen können und gute Schwimmer haben stromlinienförmige Köpfe und deswegen auch ein prozentual schon kleineres Gehirn. Je weniger Gehirnmasse, desto intelligenter sind die Menschen oder besser Wesen. Es ist nur eine der vielen absurden Themen, die Kurt Vonnegut in dieser „Comedy of Errors“ durchdenkt. Immer kommentiert von Leon Trotzky Trout, der vielleicht nicht alles weiß, aber zumindest über alles sehr ausführlich spricht.
Kurt Vonnegut hat die globale Katastrophe als Plausch mit einem (all-) wissen Freunde inszeniert. Das wirkt auf den ersten Blick konträr, macht aber auch irgendwie Sinn. In einem lockeren, teilweise fast geschwätzigen Stil erzählt Trout Junior von den letzten Tagen der Menschheit. Die Finanzmärkte brechen zusammen; durch eine Pandemie werden die Frauen unfruchtbar – erstaunlicherweise hat dieser Aspekt nicht die globalen Auswirkungen, an welche der Leser denken würde – und schließlich kommt es zu einem bizarren Krieg. Peru greift Ecuador wegen der Galapagos Inseln an, für die sich niemand seit Jahrhunderten außer Darwin interessiert hat. Dieser Krieg wird zu einer Farce. Anscheinend verfügt Peru nur über wenige Raketen, die sie gegen die Satellitenantennen einsetzen. Ecuador kann auch nicht auf seine 4 U Boote zurückgreifen, die vor Jahren Funkstill haltend abgetaucht sind und von denen niemand weiß, ob sie wirklich noch existieren. Daraus eine Weltuntergangsgeschichte zu machen, verlangt schon viel Phantasie… vom Leser wie vom Autoren. Aber diese Abfolge von katastrophalen Ereignissen dient in erster Linie Kurt Vonnegut dazu, eine Reihe von wirklich bizarren Charakteren an Bord eines Schiffes zu bringen. Ein Luxus Kreuzfahrtschiff, das auf seiner Jungfernfahrt eigentlich einen Haufen Prominente kostenlos kutschieren sollte. Diese haben wegen der politisch schwierigen Situation abgesagt. Anschließend wurde die Kreuzfahrt abgesagt, was wiederum nicht alle Reisende mitbekommen haben.
So setzen sich die Crew und Passagiere aus bemerkenswerten, von Vonnegut bis an den Rande der Parodie und dem Slapstick entwickelten Figuren und weniger Protagonisten auseinander.
Mary Hepburn ist eine ältere Witwe, deren Mann die Kreuzfahrt gebucht hat. Zwischen der Buchung und der eigentlichen Fahrt ist er an Krebs erkrankt und verstorben. Mary Hepburn ist Lehrerin und hat ihren Schülern über Jahre Filme über die Galapagos Inseln gezeigt. Sie wäre lieber nach Afrika gefahren. Sie wird – durch künstliche Befruchtung mittels Fingern – die Urmutter der neuen Menschheit. Als Charakter wirkt sie allerdings eher pragmatisch eindimensional. Mit Ecken und Kanten, aber als emotionale Frau zu wenig nachhaltig entwickelt. In einigen von Kurtz Vonneguts Büchern sind die Frauen eher „unscheinbar“ oder so aufgedreht, das der Leser sie nicht ernst nehmen kann. Ihr Ende wirkt fast grotesk, auch wenn die abschließende ausführliche Erklärung zu Trouts Andeutung in diesem Augenblick sogar fast logisch erscheint.
James Wait ist ein Heiratsschwindler, der seit Jahrzehnten ältere Frauen heiratet und ausnimmt. Mary Hepburn soll sein neues Opfer werden. Fast tragisch erscheint, dass er weder mit dem Geld noch mit Mary Hepburn irgendetwas anfangen wird. Aber das sind zwei andere Themen.
Zenji Hiroguchi hat einen Übersetzungscomputer erfunden. Das Nachfolgemodell erinnert ein wenig als Alexa mit zahlreichen Zitaten und Weissagungen. Dabei handelt es sich um ein Probemodell. Zusammen mit seiner schwangeren Frau wird er auf die Kreuzfahrt eingeladen, weil ein amerikanischer Kapitalist die Erfindung frühzeitig kaufen möchte. Dieser klassisch klischeehafte Amerikaner reist statt mit seiner eigenen Yacht ebenfalls an Bord mit. Er ist Vater einer blinden Tochter, während Hiroguchis Tochter aus unerklärlichen Gründen mit Fell geboren wird. Der erste evolutionäre Schritt zurück zu weniger Gehirnmasse und einem Leben/ Überleben am bzw. im Wasser.
Adolf von Kleist ist der Kapitän des Kreuzfahrtschiffs. Zumindest auf dem Papier. In Wirklichkeit hat er keine Ahnung von Nautik, nur durch die Katastrophe auch keine Besatzung mehr, um das Schiff steuern zu lassen. Adolf von Kleist ist einer der tragischen Charaktere, die dem Leser eher wegen ihrer Lebensunfähigkeit im Gedächtnis bleiben als wegen ihrer (passiven) Handlungen.
Die Kana Bono Mädchen sind in Wirklichkeit Kannibalen aus dem Amazonas Dschungel. Sie wurden von einem Priester in die Zivilisation gebracht, wo sie sich als Diebe durchschlagen. Da sie die Traditionen ihres Volkes in den Genen tragen, sollen sie als Tanztruppe die prominenten Gäste nach der Ankunft am Flughafen in Ecuador unterhalten. Sie landen ebenfalls durch einen Zufall an Bord des Kreuzfahrtschiffes, nachdem die Zivilisation zusammengebrochen und alles geplündert worden ist. Sie werden die Mütter der neuen Menschheit darstellen, künstlich befruchtet durch den schon angesprochenen Finger.
Es gibt noch eine Reihe anderer interessanter, aber auch bizarrer Nebenfiguren. Kurt Vonnegut hat sich so sehr in die Handlung seiner Geschichte verliebt, dass er sich bis weit über die Hälfte des Romans vor allem auf die kleinen Begebenheiten, Zufälligkeiten, Anekdoten und Rückblicke konzentriert, das die Handlung im wahrsten Sinne des Wortes zum Stocken kommt. Vieles wird eher nebenbei erläutert. Manchmal müssen auch die zahlreichen Zitate unterschiedlicher Schriftsteller, Philosophen, Schauspieler oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aushelfen, um einzelne Sequenzen weniger getragen, sondern dynamisch, komisch erscheinen zu lassen. Das Spektrum reicht von Anne Frank über Benjamin Franklin oder Plato bis zu William Shakespeare, Charles Dickens, Joseph Conrad, Samuel Butler, T.S. Eliot und natürlich Charles Darwin. Manche „Zitate“ wirken in der jeweiligen Umgebung absurd und greifen den Alexa-Ausflüchten perfekt voraus. Auch wenn sich Kurt Vonnegut in diesem Roman kleinere Gehirne für seine Menschen wünscht, sieht er Maschinen nicht als Alternative in dieser überdrehten Version der Arche Noahs an.
Positiv ist, dass einige der Nebenfiguren wie der unscheinbare Soldat Delgado nicht um ihrer Selbst willen entwickelt worden sind, sondern als verbindendes Element mittels krimineller Handlungen einzelne Sequenzen entweder initiieren oder abschließen. Hinsichtlich der Dynamik der Handlung und der progressiven Entwicklung des Plots tragen diese Cameo Auftritte mehr Verantwortung auf den Schultern als die narzisstischen, egozentrischen und sich meistens um sich selbst bewegenden Hauptfiguren. Kurt Vonnegut liebt es aber auch, literarischen Gott zu spielen, wie die Sterbe Sternchen vor den Namen einzelner Figuren beweisen. Bei einigen über einen längeren Abschnitt entwickelten Figuren tritt der “Tod” so schnell ein, dass der Leser diese Szenen mindestens zweimal gründlich lesen muss, um es entsprechend einzuordnen.
Der nicht immer leicht zu goutierende Humor in der Monty Python Tradition mit einigen grotesken, vielleicht für zartbesaitete Gemüter geschmacklosen Szenen ist nicht jedermanns Sache. Im direkten Vergleich zu Kurt Vonneguts ersten Romanen, in denen die Handlung vor Ideen, aber auch einem kontinuierlichen Plot förmlich übergequollen ist, wirkt der Autor in „Galapagos“ wie der nette Großvater im Lehnsessel, der unbedingt und koste es, was es wolle, seine Geschichte loswerden möchte. Dafür hat er mit Kilgore Trouts Sohn ein Alter Ego erschaffen. Den unzuverlässigen Erzähler, dem im Grunde die Details an der Flosse vorbeigehen, weil alles, was er hier an Handlung zusammenrafft, sowieso schon mindestens die mehrfach angesprochene ein Millionen Jahre her ist.
„Galapagos“ ist vielleicht die am meisten verklärte, romantische und irgendwie auch lachhaft- lächerliche Geschichte des Untergangs der alten und dem Aufstieg der neuen Menschheit, die wie ein Seemannsgarn hin und her schwankend erzählt wird. Die zahlreichen, an einigen Stellen zu vielen Zitaten – teilweise um ihrer Selbst willen und nicht um die asynchrone Handlung zu beschleunigen – irritieren mehr als das sie wirklich helfen. Am ehesten wird ein Leser „Galapagos“ gerecht, in dem er Vonnegut einfach mit einem Lächeln auf den Lippen in dieser bizarren Geschichte folgt und nicht zu viel über die zahlreichen handlungstechnischen Ecken und Kanten nachdenkt. Weltuntergänge sind eben nicht logisch. Wie die Menschen, die sie verursachen.

- Herausgeber : Heyne Verlag; Überarbeitete Neuausgabe Edition (15. Mai 2024)
- Sprache : Deutsch
- Broschiert : 336 Seiten
- ISBN-10 : 3453322657
- ISBN-13 : 978-3453322653
- Originaltitel : Galapagos
