Der Schatten aus der Zeit

H.P. Lovecraft

Erst vor wenigen Jahren ist das Originalmanuskript zu HP. Lovecrafts „The Shadow out of Time” gefunden worden. Die Veränderungen gegenüber der Veröffentlichung im „Astounding Stories” Magazin aus dem Jahr 1936 sind marginaler als es H.P. Lovecraft in verschiedenen Briefen beklagt hat, aber die Neuveröffentlichung des Textes mit mehr als zweihundert Kommentaren und Anmerkungen S.T. Joshis gibt einen guten Einblick in die letzte, zu Lebzeiten Lovecrafts veröffentlichte Geschichte. Es handelt sich um die vorletzte Story, die Lovecraft geschrieben hat.

Die Novelle verfasste Lovecraft zwischen November 1934 und Februar 1935 in mehreren Versionen. Immer wieder hat der Amerikaner den Briefwechseln folgend mehrere Passagen umgearbeitet. Das Ziel war weniger eine Veröffentlichung, sondern die Befriedigung seiner literarischen Instinkte gewesen. In den letzten Jahren sind einige Texte von Lovecraft abgelehnt worden. Erst durch den Einsatz von Freunden oder ein zweites Einreichen kam es zu einer Veröffentlichung. Diese Misserfolge, die Ablehnung seiner Art des Geschichtenerzählens, haben stark an Lovecrafts Selbstbewusstsein gekratzt.

„The Shadow out of Time“ gehört zu den wenigen Arbeiten, in denen sich Lovecraft von der klassischen Weird Fiction Literatur abzuwenden begann und mit Science Fiction Elementen spielte. „Der Flüsterer im Dunkeln“ und „Die Berge des Wahnsinns“ sind zwei andere Beispiele, in denen er Mythen und Legenden mit utopischen Ideen bereicherte und seine eigenen Alpträume kreierte.

S.T. Joshi spricht in seinem ausführlichen Vorwort davon, dass Lovecraft wahrscheinlich von dem 1933 in den Kinos gelaufenen Fantasy-Film „Berkeley Square“ inspiriert worden ist.  Lovecraft fühlte sich immer mehr als Engländer, als ein Mann außerhalb der für ihn wie geschaffenen Zeit des 19. Jahrhunderts. In „Berkeley Square“ verschmitzt die Persönlichkeit des Protagonisten, mit beiden Beinen im 20. Jahrhundert stehend, mit dem Bewusstsein seines Vorfahrens. Die Seele reist quasi durch die Zeit ins 18. Jahrhundert zurück. Eine Idee, die H.P. Lovecraft in der einige Jahre vorher entstandenen, aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlichten Geschichte „The Case of Charles Dexter Ward“ ebenfalls durchgespielt hat.

Während die meisten Geschichten die Seelenreise in die Vergangenheit zeitlich wie räumlich eingeschränkt haben, schrieben Nicolas – Edme Retif schon 1910 mit „Les Posthumes“ eine Story, in welcher die Seele des Duke von Multipliandre durch Zeit und Raum reisen konnte.

Ein Jahr nach „The Shadow out of Time“ sollte Olaf Stapledon mit seinem Meisterwerk „Der Sternenschöpfer“ dieses Thema auf eine philosophisch existentielle Art und Weise abhandeln.  S.T. Joshi ist sich nicht sicher, ob Lovecraft während der Arbeit an „The Shadow out of Time“ Olaf Stapledons Roman „Die Ersten und die letzten Menschen“ schon kannte.  Die Wahrscheinlichkeit besteht, auch wenn Lovecraft von einem Bild, einem Alptraum förmlich besessen gewesen ist . Ein Wissenschaftler erkennt sich selbst an einem in einem Felsen geschlagenen Text wieder. Es ist seine Handschrift, allerdings ist der Felsen schon Jahr Zehntausende alt. Der Beweis, dass zumindest die Wanderung der Seele in die Vergangenheit möglich, vielleicht sogar sehr wahrscheinlich ist.

H.P.  Lovecraft liebt es, Geschichten aus einer persönlichen Perspektive zu erzählen. Auch wenn seine Themen ganze Jahrhunderte umfassen können, konzentriert sich der Amerikaner auf einen wichtigen Protagonisten, vielleicht eine Handvoll Nebenfiguren, die als Mittler zum Lesen auftreten. Einen klassischen, distanziert agierenden, allwissenden Erzähler als Alter Egos des Autoren gibt es bei Lovecraft nicht. 

Seine nicht selten wissenschaftlich vorgebildeten Männer (aber keine Frauen) sind von ihren Ideen besessen. Der Autor unterminiert dabei die klassisch chronologische Erzählstruktur, in dem er wie „Der Flüsterer im Dunkeln“ auf in der Zukunft liegende Handlungsteile zurückgreift und diese gleich zu Beginn der Geschichte platziert. In anderen Storys geben Aufzeichnungen dem Leser einen relativen Wissensvorsprung. Aus fiktiven Büchern wird zitiert.

In dieser Novelle ist Nathaniel Wingate Peaslee – förmlich besessen von den Yithian.  Fünf Jahre lag er – aus dem Nichts kommend – in einer Art  Koma. Lovecraft selbst bezeichnete sich in den Jahren 1908 bis 1913, in denen sein Protagonist im Koma gelegen hat, ebenfalls als kränklich, als wenn etwas seine Kraft aussauge.  Die Ärzte haben Peaslee als verrückt erklärt. Rückblickend hat Peaslee von einem Yithian geführt, anscheinend nicht nur deren gewaltige, heute verschüttete Stadt und Basis auf der Erde besucht, sondern konnte zu anderen, fremden Welten reisen. In „Der Flüsterer im Dunkeln“ ist diese Aussicht eines der vagen Versprechen, mit welchen der Protagonist geködert werden soll.

Anscheinend fand aber nicht die schon angesprochene Seelenreise per se statt.  Lovecraft hat die Idee um das Element des Seelentausches ergänzt. Während Peaslee der Spur der Fremden folgte, hat einer der Yithian in seinem Körper die Menschen beobachtet, vielleicht auch untersucht.

H.P.  Lovecraft konzentriert sich vor allem auf Nathaniel Wingate Peaslees Beobachtungen. Alles ist subjektiv, auch die angeblich gefundenen „Beweise“ in allen Schriften lassen sich in verschiedene Richtungen interpretieren. Auch wenn Peaslee während seiner Forschungen mehr und mehr wieder Tritt fasst, den Glauben an sich selbst wiederfindet, erscheint das Gefundene zu phantastisch.

Lovecraft denkt gerne in seinen Geschichten  in langen Zeiträumen, manchmal auch Äonen. Die Vergangenheit ist nicht nur immer präsent, sie hat nicht selten in Form der alten  Mythen – Arthur Machens Ideen sind mit einer eleganten Leichtigkeit in das amerikanische Hinterland übertragen und extrapoliert worden – im modernen Amerika Fuß gefasst.  Dabei sucht es seinen Einfluss zu vergrößern.

In vielen Punkten ist die vorliegende Geschichte fast das Gegenteil. Das Schicksal der ursprünglichen Yithian und ihrer Widersacher, die als halb-polypöse Kreaturen beschrieben werden hat zwar noch einen bedingten, aber nicht mehr relevanten Einfluss auf die Gegenwart.    

Ungewöhnlich und modern im Gegensatz zu vielen anderen Pulpautoren dieser Zeit ist der Ansatz, dass Lovecraft keine Invasion Geschichte – diese hat bis jetzt unbemerkt von den Menschen lange vor der Entstehung des Homo Sapiens stattgefunden – schreibt, sondern sich mit den existentiellen Problemen der Fremden auf beiden Seiten des Konflikts auseinandergesetzt. Gefangen, verbrannt oder besser gestrandet auf einer fremden Welt, die sie aufgrund ihrer Körperlosigkeit nur bedingt zu ihrer Eigenen machen können.  Vor allem weil die Yithians in der jetzt noch erkennbaren Form nichts mehr mit den ursprünglichen Fremden zu tun haben. Auch das ist eine tierische Fluchtreaktion auf Gefahr, die nicht mehr rückgängig zu machen ist.

Auch wenn es unwahrscheinlich erscheint, ist die in einem sehr ruhigen, die Geduld der Leser stellenweise durch die inneren Monologe strapazierend geschriebene Geschichte auch eine interessante Zusammenfassung einiger, aber nicht aller Themen, die der Amerikaner in seiner langen, aber nicht unbedingt umfangreichen Karriere aufgegriffen hat.

Träume sind ein wichtiges Element. Viele seiner ersten Geschichten basierten auf Träumen oder besser Alpträumen.  Höhepunkt dieser literarischen Welle ist die Ende 1926 oder Anfang 1927 fertiggestellte Novelle „Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath“.

Peaslee weiß ja lange Zeit auch nicht, ob er während dieser fünf Jahre geträumt hat oder besessen gewesen ist. Es ist bei Lovecraft ein kleiner Schritt zwischen Traum induzierter Phantasie, Erinnerungen und von anderen Wesen übertragenen Erfahrungen. Nicht selten lassen sich diese drei Bereiche nicht voneinander trennen. Ein wichtiges verbindendes Element ist jede Form von Schrift, wobei Lovecraft die Schrift als etwas Heilendes – wie in diesem Fall der Beweis, dass die Reise durch die Zeit wirklich stattgefunden haben könnte – oder Vernichtendes -  das Necronomicon und andere verderbende Schriften – ansieht.

Aus einer anderen Perspektive hat Lovecraft noch einmal seine große Schöpfung, den Cthulhu Mythos mit den großen Alten – zu einem pervertierten Leben erweckt. Mit der geheimnisvollen Stadt im australischen Outback schenkt der Amerikaner seinen Fremden sogar einen Ort, an den sie irgendwie auf der einen Seite gebunden sind, von dem sie auch ihre Kontrolle über die Menschheit ausüben. Das unterscheidet dieses inzwischen nach außen ausgestorbene Volk von den anderen unheimlichen Mächten, die sich Lovecraft ausgedacht hat. Diese hausen nämlich meistens unter der Erde, wie Arthur Machen in seinen Storys schon beschrieben hat. Neben der langen Geschichte der Erde und dem kurzen Abschnitt der Menschen sind es die geheimnisvollen Mächte, die im Hintergrund schalten und walten. Das kraftvolle Ende von „Der Flüsterer im Dunkeln“ zeigt auf, dass sie für Menschen erkennbar sind. Das schockierende Ende dieser empfehlenswerten Novelle wird in der vorliegenden Geschichte relativiert, in dem Lovecraft aufzeigt, dass seine Außerirdischen doch unsichtbar unter den Menschen bleiben können und nicht davon abhängig sind, ihre Macht offen zu zeigen, sondern im Hintergrund die Fäden zu ziehen.

Aber fremde Mächte – egal ob uralte Götter oder außerirdische Wesen – sind ein wichtiger Bestandteil in Lovecrafts Werk. Immer wieder demonstriert der exzentrische  Autor, das seine Protagonisten, die Menschen nur Marionetten anderer Mächte sind. Seine gebildeten Protagonisten können hinter den Vorhang schauen, vielleicht auch am Randes des Wahnsinns einen kleinen Teil dieser Welt verstehen, aber sie werden sie niemals kontrollieren. Diese fatalistische Botschaft durchzieht eine Reihe seiner Geschichten und nicht selten nimmt H.P.  Lovecraft das ausufernde Paranoia Science Fiction Kino der fünfziger Jahre mit der Angst vor dem Atomkrieg in Form von gigantischen, die Menschen angreifenden Monstren – manchmal auch aus dem Inneren der Erde – vorweg. Dabei sind in der vorliegenden Novelle die alten Götter nicht aggressiv. Sie töten auch niemanden, sie versuchen alles Wissen über sich selbst zu unterdrücken und ihre Existenz weiterhin geheim zu halten. Kein klassischer Stoff für die Pulpmagazine, sondern eine fast fatalistische Erkennnis, gewonnen durch einen  Zufall von einem Forscher, auch einem Mann des Geists.

Den Menschen oder besser Lovecrafts Protagonisten bleibt nichts anderes übrig, als die gesammelten Erkenntnisse in Form von Briefen oder „Beichten“ den eigenen Verwandten stellvertretend für die Nachwelt als Mahnung zu hinterlassen. Zu bedeutungslos ist der Menschen im direkten Vergleich zu den kosmischen, gottgleichen Mächten. Und dieser Nihilismus hebt Lovecrafts Geschichten aus den Standard Pulpabenteuern positiv hervor. Die Reisen von Lovecrafts Protagonisten gehen immer nur indirekt nach außen, in die geheimnisvolle, gewalttätige und vor allem gefährliche Welt. Der Bewegung auf der Erdoberfläche zu exotischen Plätzen voller Legenden folgt immer eine innere Einkehr, eine fast verzweifelt zu nennende Besinnung der Protagonisten auf die Sinnlosigkeit der reinen Forscher und damit der eigenen Existenz.

H.G. Wells hat Lovecrafts Science Fiction Geschichten ein wenig beeinflusst. Im Gegensatz zum technikaffinen, sozialkritischen Briten ist der pessimistische Denker Lovecraft eher auf den Kampf der Menschen gegen Mächte fokussiert, denen nicht mal H.G. Wells Marsianer Paroli bieten könnten. Und sie sind so viel älter als alles, was der Zeitreise in umgekehrter Richtung in der fernen Zukunft sehen sollte.  Lovecrafts Science Fiction Geschichte wirken bizarrer, barocker und teilweise losgelöster von jeglichem realen Hintergrund als die Arbeiten seiner Kollegen, mit denen er - sich selbst ein wenig bemitleidend - die Bedeutungslosigkeit der eigenen Werke in erhalten gebliebenen Briefen diskutiert hat. Deren Geschichten sind vergessen, während Lovecrafts bizarre Monolog Geschichten heute mehr faszinieren als in den zwanziger und dreißiger Jahren.

Der Schatten aus der Zeit (Arkham-Erzählungen 11)

  • Herausgeber ‏ : ‎ Suhrkamp Verlag; 5. Edition (29. September 1997)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 112 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 351839262X
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3518392621
  • Originaltitel ‏ : ‎ The Shadow out of Time (1933)