Die Reise in den Norden

Karla Schneider

Mit „Die Reise in den Norden“ legt der Beltz Verlag in einem handlichen Taschenbuch mit einem schönen Titelbild Karla Schneiders schon 1995 erschienenes Buch wieder auf. Karla Schneider ist 1938 in Dresden geboren worden. In der ehemaligen DDR arbeitete sie als Verlagsbuchhändlerin und Journalistin. Sie siedelte 1979 in die Bundesrepublik Deutschland über. In der DDR hatte sie ein Jugendbuch unter einem Pseudonym geschrieben. Seit 1988 folgten mit schöner Regelmäßigkeit Bücher für Jugendliche und Erwachsene.
Handlungstechnisch überrascht Karla Schneider auf den ersten Blick mit nur wenigen wirklich interessanten Ideen. Zwei sehr unterschiedliche Menschen, die sich trotz aller Unterschiede schließlich zusammenraufen und den jeweils anderen zu akzeptieren beginnen, stehen im Mittelpunkt der Geschichte. Wie stark schließlich ein Teil der Mission – die Reise in den Norden im 18. Jahrhundert - mit dem Schicksal des Einzelnen verbunden ist, wird den Leser nicht überraschen. Was für ihren Roman allerdings spricht, sind die vielen historischen Details und vor allem die Feinheit, mit welcher Karla Schneider ihre Figuren nicht immer durchweg positiv zeichnet.
Ursprünglich sollte es für den jungen Biologen Isak Zettervall eine ganz normale, aber geheime Forschungsreise in den Norden werden, im Auftrag der königlichen Gesellschaft. Doch dann bekommt er einen Auftrag bzw. Bitte der Königin, er soll nebenbei auch über zwei Nomadenstämme erforschen, die Sbiten und die Rubutschen. Der König möchte den gejagten Völkern gegen den Druck der Opposition eine Heimat im Norden seines Landes geben, Zettervall soll beweisen, daß es sich um keine blutrünstigen Barbaren handelt. Er beginnt seine gefahrvolle Reise, doch gleich am ersten Gasthof drängt ihn eine schwerkranke, im Sterben liegende Frau, deren Mann im Gefängnis sitzt, ihre Tochter Stemma mit in den Norden zu nehmen. Das vierzehnjährige Mädchen kann der eher verschlossene Forscher nicht ausstehen. Zu den natürlichen Gefahren der Reise kommt der Adel, welcher die Erforschung der „Barbaren“ im Norden unter allen Umständen verhindern möchte.

Insbesondere die Bedrohung durch die Adligen und die diversen Fallen, die sie den beiden Reisenden stellen, sollen den Spannungsbogen des Romans hoch halten. Sie bewirken allerdings eher das Gegenteil. Da der Roman aus der Ich- Perspektive Isak Zettervalls geschrieben worden ist, weiß der aufmerksame Leser, dass trotz aller Anschläge zumindest Zettervall die Expedition in den Norden nicht nur überlebt, sondern in der Lage ist, von dieser Reise zu berichten. Dabei erzeugt die Expedition per se und das langsame Zusammenwachsen ausreichend Spannung und es ereignen sich genügend interessante Situationen, um die Aufmerksamkeit der Leser zu fesseln. Am Ende des Buches zieht Karla Schneider den Verfolgungshandlungsfaden noch einmal kurzzeitig an, schließt ihn aber im Grunde abrupt und nicht mit einem überzeugenden Höhepunkt ab. Die Landschaftsbeschreibungen sind an einigen Stellen zu umfangreich und detailliert für einen Jugendroman, bilden aber einen stimmigen Hintergrund der ganzen Geschichte.

Der Roman wirkt aber in seinen Charakteren am effektivsten. Ganz bewusst hat Karla Schneider keine glatten Typen in den Mittelpunkt der Geschichte gestellt. Insbesondere Isak Zettervall wirkt zu Beginn selbstverliebt, arrogant und teilweise in seinem Gebaren überheblich. Ein typischer Forscher, dem nichts über seine Missionen geht und dessen Weltbild insbesondere in Hinblick auf seine Verlobte von einer erstaunlichen Einseitigkeit bestimmt wird. Er biedert sich mehr oder minder direkt der Obrigkeit an, der Auftrag der Königin schmeichelt und ängstigt ihn zugleich. Insbesondere gegenüber unter seinem Stand eingeordneten Mitmenschen ist Zettervall aber teilweise ein opportunistisches Ekelpaket. Das er die ihm auf diese Reise aufgezwungene Stemma insbesondere zu Beginn der Reise nicht nur verachtet, sondern hasst, entspricht seiner Persönlichkeit. Das junge Mädchen Stemma ist mit ihren vierzehn Jahren kurz vor der Pupertät. Sie ist in einer verzweifelten Situation. Ihre Mutter ist tot krank, ihr Vater sitzt im Gefängnis und wird von der Todesstrafe bedroht. Sie ist laut Zettervalls Ansicht hässlich, dazu kommt ihr Eigensinn. Diesen fordert Zettervall mit seiner besserwisserischen und provozierenden Art aber auch heraus. Im Grunde schleifen sich die beiden sehr unterschiedlichen Charaktere ihr Ecken und Kanten gegenseitig erst ab. Für Stemma spricht ihr unkomplizierte Art und das Einfühlungsvermögen, mit natürlicher Intelligenz und Gespür auch komplizierte Lebenslagen gut meistern zu können. Hier ist sie im Vergleich zum Theoretiker Zettervall deutlich im Vorteil. Während insbesondere zu Beginn der Reise insbesondere Zettervall mit seiner präsenten Art die Szenerie beherrscht, gewinnt Stemma im zweiten Teil des Romans deutlich an Format. Sie rettet unter anderem ihrem Begleiter das Leben, während dieser ihr das Überleben in der unwirtlichen Natur zeigt. Mit ihrer oft sehr direkten Art zeigt sie nicht nur ihm sehr profane, aber effektive Lebensweisheiten, sondern übernimmt bis zu einem gewissen Grad mehr und mehr die Kontrolle dieser unfreiwilligen Zweckgemeinschaft. Diese charakterlichen Veränderungen, teilweise sogar überraschende intellektuelle Weiterbildung gehört zu den faszinierenden Aspekten des Buches und gleicht manche Länge aus.

Für ein Jugendbuch ist „Die Reise in den Norden“ nicht nur sehr realistisch, teilweise deprimierend dunkel. Wenn am Ende Stemma vom Schicksal ihres Vaters erfährt, wird auch der Leser berührt, ohne diese Figur direkt kennen gelernt zu haben. Wenn sie von den Sitten und Gebräuchen ihrer offenbar fiktiven Barbarenstämme berichtet, wirken diese Beschreibungen lebensnah und für die Zeit, in welcher der Roman spielt, außergewöhnlich stimmig. Ganz bewusst und stellenweise zu übertrieben stellt sie die alten Sitten und Gebräuche ihrer beiden Naturvölker in einen starken Kontrast zu der verlogenen Zivilisation. Stellenweise erinnert das Schicksal der beiden Stämme an die Indianer, wenn auch mit den Oberhäuptern zumindest zwei Herrscher beschrieben werden, die für ihre Zeit sehr moderne Ansichten vertreten.

Stilistisch ist der vorliegende Roman von Karla Schneider allerdings gewöhnungsbedürftig. Sie schreibt sehr dicht und komprimiert. Dialoge stehen nicht im Vordergrund. Mit der Ich- Erzählerebene kommt der Leser näher an zumindest einen Charakter heran, verfolgt das Geschehen allerdings aus einer verzerrten Perspektive. Dem Roman in dieser Form hätte ein übergeordneter Erzähler besser getan. Insbesondere Stemma wächst dem Leser schneller ans Herz als Zettervall. Eine interessante Abenteuergeschichte, ganz bewusst eher ambivalent als für ein gänzlich jugendliches Publikum konzipiert. Die Handlung selbst überrascht eher durch die vielen schönen Details und dem sorgfältigen Hintergrund als vom grundlegenden Plot her. Dieser ist sehr geradlinig und teilweise vorhersehbar.


Karla Schneider: "Die Reise in den Norden"
Roman, Hardcover, 408 Seiten
Beltz- Verlag 2007

ISBN 3-4077-4055-7

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