Sherlock Holmes und die Zeitreisenden

Sylvain Cordurie

“Sherlock Holmes und die Zeitreisenden” ist das vorläufige “Ende” der komplexen Handlungsstrukturen verschiedener von Sylvain Cordurié über die Jahre entwickelter und in gesonderter Unterreihenform veröffentlichter Sherlock Holmes Geschichten. Es ist nicht unbedingt notwendig, die Alben „Die Geheimgesellschaft im Schatten von Sherlock Holmes: Mandragore“ sowie „Sherlock Holmes & Das Necronomicon“  gelesen zu haben.  Cordurie erläutert die Zusammenhänge zwischen den einzelnen in sich abgeschlossenen vorherigen Abenteuern, wobei er im Grunde mit der vorliegenden Zeitreisegeschichte auch die semiphantastischen Elemente der beiden angesprochenen Geschichten auch problemlos überschreiben und den ganzen Kosmos neu starten könnte. Der Hinweis auf die Begegnung mit den Vampiren integriert eine weitere gesonderte veröffentlichte Story. Trotz dieser zahlreichen Begegnungen mit übernatürlichen Wesen und vor allem klassischen Science Fiction Themen bleibt Sherlock Holmes ein Skeptiker in dieser Steampunk Welt. Er wird ohne Frage eines Besseren belehrt, wenn Cordurie im zweiten Teil des Doppelbandes mit den Zeitparadoxa spielt und Sherlock Holmes sich selbst begegnet. Das wirkt auf den ersten Blick nicht nur cineastisch effektiv wie für reine Sherlock Holmes Fans unlogisch faszinierend, zumal der zukünftige Sherlock Holmes gebrandmarkt durch eine ambivalente in der Zukunft "erlebte" Vision dem gegenwärtigen „ich“ helfen kann. Dabei macht der Autor einen Denkfehler. Gleich zu Beginn kann einer der britischen Wissenschaftler zwanzig Jahre später aus der fernen Zukunft in das viktorianische Großbritannien zurückkehren, um seinen Freund und Kollegen vor einem Gestaltwandler zu warnen, der in mächtiger Position Großbritannien entweder in den Abgrund schicken oder zumindest eine Elite retten möchte. Seine Zeitmaschine bestehend aus drei Chronographen am Arm musste er neu bauen, nachdem ihm in der Zukunft seine erste Erfindung abgenommen worden ist. Warum ist er aber zwanzig Jahre zu spät gekommen, da erstens Zeit relativ ist und zweitens es aus der Sicht der fernen Zukunft nicht auf diese kurze Zeitspanne ankommt?Er hätte auch aus der Gegenwart eine zweite Reise zwanzig Jahre in die Vergangenheit unternehmen können, um alle Ereignisse inklusiv seiner Reise in die ferne Zukunft zu überschreiben.

Das Thema wird auch nicht weiter extrapoliert. Im zweiten Album kann Sherlock Holmes die Idee der Zeitreise dazu nutzen, dass er an einem Rückzugsort die Telepathin Megan dank einer Therapie bestehend aus viel Ruhe sowie einem Wundermittel, das den Strapazen der Zeitreise entgegen wirkt,  heilt. Es sind diese beiden einzeln nicht unbedingt logischen Extreme, welche diese vielschichtige, aber in Hinsicht auf die Verschwörung auch sehr stringente Geschichte positiv wie leider auch negativ auszeichnen. Cordurie weiß zwar, dass selbst viktorianische Science Fiction Geschichten deutlich komplexer sind als die eigene H.P. Lovecraft Hommage, ihm fehlt aber gegen Ende das intellektuelle Werkzeug, um sich aus der inhaltlichen Klemme zu befreien und tatsächlich den Plot unabhängig von dem obligatorischen feurigen Finale abzuschließen. Es ist kein Zufall, dass die erste Hälfte des Doppelalbums in mehrfacher Hinsicht deutlich vielschichtiger, geheimnisvoller und effektiver aufgebaut worden ist. Sherlock Holmes hat sich nach der finalen Auseinandersetzung mit Dr. Moriarty und Taher Emara „zurückgezogen“. Er betreibt eine Buchhandlung in London, wird aber immer wieder von Agenten des britischen Geheimdiensts beobachtet.  Eines Tages wird er zur Königin gebeten. Er soll der Regierung helfen, den gefährlichen britischen Forscher Aaron McBride finden. Der Leser weiß inzwischen, dass dieser Aaron McBride anscheinend wirr stammelnd aus dem Nichts in einem beliebten Londoner Kaufhaus aufgetaucht ist. Durch den Titel ist auch klar, dass er ein Zeitreisender sein könnte. Im Laufe der Ermittlungen wird Holmes nicht nur die „überraschend“ aus dem Koma aufwachende Megan helfen, sondern auch das Kunstgeschöpf Mandragore, das Holmes erst von den perfiden Plänen der britischen Regierung überzeugen muss. Sherlock Holmes ist in erster Linie ein Getriebener. Auf dessen deduzierende Fähigkeiten hat der Autor im Grunde in allen Comicalben verzichtet. Die vorliegende Geschichte könnte genauso gut funktionieren oder gegen alle Logik erzählt werden, wenn der Protagonist nicht Sherlock Holmes, sondern H.G. Wells heißen würde. Die einzelnen Positionen werden in der ersten Hälfte des Albums ausgesprochen gut abgestimmt. Wie es sich für den zugrundeliegenden Paranoia Aspekt gesteuert von einer falschen Königin und ihren Handlangern zu Gunsten einer kleinen Elite gehört, sind alle Sherlock Holmes zur Verfügung gestellten Spuren falsch.  Gut ist böse, böse aber nicht gleich gut. Diese inhaltliche Ambivalenz wird durch die verschiedenen Thesen erhöht, die vor allem Sherlock Holmes als Anführer einer kleinen britischen Superheldentruppe mitgeteilt werden. Der Privatdetektiv verfügt inzwischen über den Vorteil, dass er sowohl mit der Empathin/ Telepathin Morgan sowie der angesprochenen Superkämpferin Lynn über zwei attraktive Frauen verfügt, die sich mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten gut ergänzen. Die Kunstfrau Lynn erinnert zwar weiterhin sehr stark an ein Mitglied der „X-Men“, aber ihre unabhängig von ihren Kampfkräften erstaunliche Verletzlichkeit macht sie zu einer Figur, die in weiteren Geschichten ausbaufähig ist. Ihr weicher neugieriger Kern unter der harten Schale wird von Cordurie so lebendig, so überzeugend charakterisiert, dass der Leser ihr eigentlich den Triumph in diesem Spiel gönnen möchte. 

   Im zweiten Teilalbum beginnen Sherlock Holmes und sein Team zu agieren. Es  stellt sich dem Leser anfänglich die Frage, warum die Königin mit ihrem Stab inklusiv der technischen Mittel nicht früher eingreift und die Gegner ausschaltet. Unabhängig vom möglichen Opfergang gibt es ausreichend Möglichkeiten, entsprechend offensiv wie effektiv anzugreifen und den Gegner nicht so nahe heranrücken zu lassen. Auch die zugrundeliegende Idee ihres perfiden Plans ist diskutabel. Sie ist aber zumindest vor allem für das Steampunkgenre originell. Eine Oberschicht soll gerettet werden, weil das zukünftige Ereignis auch nicht mittels weiterer Zeitreisen – das ist unlogisch – verhindert werden kann. Auch liegen bis auf das eine eindrucksvolle Bild aus der Vision keine weiteren Informationen vor. Warum haben die Gestaltwandler aber aus der Zukunft einen der Ihren in die Vergangenheit geschickt, um nicht das eigene Volk zu retten oder die Machtbasis auszudehnen, sondern sich entschlossen, diesen in sich komplizierten wie unmöglichen Weg zu gehen? Oder handelt es sich ausschließlich um einen psychopathischen und damit wieder menschlich erscheinenden Einzeltäter, der sich in der Vergangenheit eine umfangreiche Machtbasis aufbauen möchte? So interessant und originell die grundlegende Idee auf den ersten Blick auch sein mag, sie hält keiner näheren Betrachtung stand und passt damit in die ambitionierten, aber nicht immer befriedigenden Konzepte nicht nur von Courduries Sterampunkgeschichten, sondern vor allem in das inzwischen durch die vielen Texte aufgeblähte und sich von den Originalen manchmal zu sehr entfernende Kanon Universum. Die finale Auseinandersetzung ist wie eingangs erwähnt feurig wie effektiv. Aber sie überrascht handlungstechnisch zu wenig. Diese Showdowns hat der Leser in einigen Comicalben des Franzosen bewundern dürfen. Am Ende gibt Cordurie noch einen eher melancholischen Ausblick auf Sherlock Holmes Zukunft, die er wieder an Watsons Seite – es ist nicht das einzige Album in diesem „Universum“, das Dr. Watson relativ elegant aus dem Weg räumt oder wie in diesem Fall bis auf den Epilog ignoriert -   und damit dem Lösen von klassischen Kriminalfällen sieht. Es ist keine typische Sherlock Holmes Geschichte, welche den Leser erwartet. Aber wie in seinen anderen Texten lebt „Sherlock Holmes und die Zeitreisenden“ vor allem von der vordergründigen Komplexität dieses so fiktiven und dank der Zeichnungen von Laci auch wieder realistischen Großbritanniens. Cordurie und Laci mögen es groß. Laci entwirft den Glanz und Glorie des britischen Imperiums in eindrucksvollen Bildern nicht nur von bekannten Plätzen und Gebäuden, sondern auch bei der besonderen Maschine, welche im Geheimen entwickelt worden ist. Es ist dieser Gigantismus, der zahlreiche dieser Alben so ansehenswert macht. Hinzu kommen solide Actionszenen mit wechselnden Perspektiven inklusiv einiger cooler Sprüche. Der Hang, eine archaische Heldengeschichte in Anlehnung an die amerikanischen Vorbilder zu erzählen, ist vor allem in der Figur Lynns klar zu erkennen. Andere Protagonisten wie zum wiederholten Male Sherlock Holmes weichen stark von den literarischen Vorlagen ab. Verhaltenstechnisch ist dieses Phänomen mehrfach angesprochen werden. Die Gesichtszüge sind zu voll und dieser französische Sherlock Holmes verhält sich nicht wie das britische Original. Er ist deutlich aktiver und ggfs. auch rücksichtsloser. Er setzt zwar auf seinen Verstand, aber reagiert auf die phantastischen Ereignisse weiterhin zu skeptisch und zu wenig pragmatisch, während er in der finalen Auseinandersetzung seinen opferungswilligen, aber natürlich die Situation überlebenden Mann steht. Es sind die Nebenfiguren wie die beiden älteren Wissenschaftler – zumindest eine Figur und seine Fähigkeit, zukünftige Bilder jetzt schon auf die Leinwand zu bringen, wird der Leser aus einer anderen Sherlock Holmes Geschichte liebevoll im Gedächtnis haben – oder den übernatürlichen Handlanger der Königin, die aus der Gruppe herausragen. Lacy hat sich entschlossen, seine Zeichnungen der Düsterheit dieser finalen Geschichte anzupassen und stilistisch die Vorlage für den später „Sherlock Holmes Society“  Vierteiler zu geben, der von insgesamt vier Zeichnern illustriert worden ist. Es ist ein dunkles, gefährliches London mit engen Gassen, viel Regen und wenig Sonnenschein sowie düsteren zerfallenden Industrieruinen, welche den Hintergrund dominieren.

Inhaltlich ist „Sherlock Holmes und die Zeitreisenden“ ein nicht ganz befriedigendes Lesevergnügen. Natürlich wird die Handlung wie bei allen anderen Doppelbänden intern abgeschlossen, wobei wie der Auftakt zeigt, Cordurie durchaus willig ist, die einzelnen Geschichten miteinander zu verbinden. Aber angesichts der Komplexität der Zeitreisegeschichte in beide Richtungen geht der Autor zu wenig in die Tiefe und lässt sich vor allem von dem Momentum mittragen, als seine Geschichte auf ihre innere Logik zu überprüfen. So macht wie eingangs erwähnt die eigentliche Vision zu wenig Sinn. Der Gestaltwandler will seinen potentiellen Gegenspieler aus der Zukunft zurückkehrend ausschalten und töten, anstatt seine Rekonstruktion der Erfindung zu nutzen und damit dem potentiellen Ende zu entkommen. Die Idee, eine neue Machtbasis für eine kleine Elite zu erschaffen, in dem der Rest zumindest Londons auf eine perfide Art und Weise gefangen und versklavt wird, funktioniert nur auf den ersten Blick. Von den notwendigen Energien ganz abgesehen. Es ist schade, dass Cordurie dann nicht den Mut hat, dem zweiten Teil noch eine bizarre Wendung zu geben. Die erste Hälfte der Geschichte ist unabhängig von der Verwirrung für Neuleser deutlich befriedigend, da nicht nur auf interessante Figuren aus den anderen Alben zurückgegriffen wird, sondern der „Die drei Musketiere“ am Bett der im Koma liegenden Morgan sogar menschliche Züge erhält. Der Sherlock Holmes Fan muss sich nur auf die phantastischen Ideen des Autoren einlassen und vor allem nicht auf jeder Seite denken, dass es sich um die reinste Inkarnation des britischen Detektivs handelt. Dann wird er trotz mancher Klischees relativ gut unterhalten und Lacys Bilder überdecken einige der inhaltlichen Schwächen vor allem in Form dieses schönen Hardcover Albums sehr gut.

 

Autor

Sylvain Cordurié
ZeichnerLaci
EinbandHardcover
eiten96
Band1 von 1
VerlagSplitter
ISBN978-3-95839-199-4
Kategorie: