
Im Vergleich zur letzten Ausgabe dominieren wieder die längeren Texte, so dass weniger Kurzgeschichten angeboten werden und der thematische Fokus deutlich eingegrenzter, aber nicht uninteressanter erscheint. Wie das Titelbild suggeriert, ist einer der Schwerpunkte Science Fiction.
Paul DeFillipos Auftakt „I´ ll follow the Sun“ ist wie nicht nur in der Einleitung, sondern auch im Text erwähnt eine Hommage an Robert a. Heinlein und seinen Roman „The Door into Summer“. Sie fängt sehr gut an. In den sechziger Jahren spielend will der brillante Student Dan Wishcup der Einberufung nach Vietnam entkommen. Im kanadischen Exil bietet sich dank eines Tutors die Möglichkeit, genau fünfzig Jahre in die Zukunft zu reisen – die Idee stammt aus Heinleins Roman - , um der Einberufung zu entkommen. Wishcup rettet aber erst seinen Urgorßvater, der im Ersten Weltkrieg fallen wird. DeFillipo geht aber mit der Idee der Zeitparadoxa vor allem aus der Sicht eines Wissenschaftlers und Mathematikers viel zu großzügig bis fahrlässig um. Da begegnen sich die einzelnen Identitäten Dans genauso wie am Ende in heimeliger Atmosphäre alle im wahrsten Sinne des Wortes zusammensitzen. Wenn der Autor allerdings die kulturellen Veränderungen innerhalb seiner 50 Jahre mit einer gänzlich neuen Kultur als eine Art Generationenkonflikt gegenüber stellt, dann lebt die Geschichte auf. DeFillipo entwickelt vor allem mit seinen authentischen sechziger Jahren eine lebendige Kultur, die er fast zynisch der gegenwärtig kalten arroganten Zeit gegenüberstellt. Anstatt diese Idee weiter zu verfolgen, verliert er sich in den unterschiedlichen mühelosen Zeitreisen – Steven Goulds „Jumper“ kommt dem Leser unwillkürlich in den Sinn, auch wenn seine Charaktere sich nur im Raum und nicht der Zeit bewegten – und vernachlässigt vor allem seine anfänglich so charismatischen Figuren. Robert A. Heinlein ist ihm mit „The Door into Summer“ in mehrfacher Hinsicht immer noch einige intelligente Schritte voraus, so dass der Appetit auf den Roman beim Lesen dieser leider gegen Ende auseinanderfallenden und nicht mehr humorvoll lustigen, das Zeitreisegenre auch auf die Schippe nehmenden Kurzgeschichte stetig wächst.
Ungewöhnlich, aber interessant ist der thematisch anscheinend für diese Ausgabe extra angeforderte Gegenentwurf mit KJ Kabzas „The Bomb Thing“. Eine Handvoll 2014er landen mit einer aufgefundenen Zeitmaschine in den sechziger Jahren, obwohl sie durch ihren Einbruch in erster Linie einem Mädchen imponieren wollen. Der Ansatz ist deutlich humoristischer und die Zeitreisenden haben mehr Probleme in der Vergangenheit als zum Beispiel DeFillipos Reisender in einer von ihm ungeliebten Zukunft.
Zu den längsten und besten Texten gehört die abschließende Novelle „Hollywood North“ von Michael Libling. Libling hat immer wieder in seinen Arbeiten bewiesen, dass er melancholisch nachdenklich stimmende Geschichten schreiben kann, in denen die Ich- Erzähler in positiver wie lebendiger Stephen King Manier auf ihr Leben zurück schauen und das besondere Ereignis zusammenfassen. Dabei nimmt er mit einzelnen, die Kapitel abschließenden Sätzen die kommenden schrecklichen Ereignisse vorweg, so dass eine kontinuierliche Atmosphäre der Bedrohung bestehen bleibt. Wie in Stephen Kings besten Texten verschwimmen die Grenzen zwischen der beginnenden Pubertät der beiden jugendlichen Protagonisten und seltsamen Ereignissen, die lange in der Vergangenheit liegen. Während Jack ein „Finder“ ist, der immer wieder aus dem Nichts heraus wertvolle Dinge entdeckt, schaut der Ich- Erzähler neidisch auf seinen späteren Freund. Als sie die Texttafeln von anscheinend in der kleinen kanadischen Gemeinde produzierten Stummfilmen finden, ahnen sie nicht, das dieses „Hollywood North“ in einem unheilvollen Zusammenhang mit einer Reihe von sehr unterschiedlichen Katastrophen allgemeiner und persönlicher Art steht, welche die Gemeinde in den folgenden Jahrzehnten heimsuchen werden. Nicht nur Libling, sondern auch Ramsey Campbell oder Theodore Roszack haben die Nitritstummfilme und ihre Legenden fasziniert. Die unheilvolle Kraft dieser nur unter exzellenten Bedingungen längere Zeit aufzubewahrenden Streifen. Wenn die Freunde in einem eisgekühlten kleinen Kino zum ersten Mal einem Serial begegnen, das angeblich Hitchock und andere Meister ihres Fachs vorwegnimmt, dann öffnet sich der Vorhang noch ein kleines Stück weiter. Es ist eine dieser tragischen Geschichten, die das Leben mit oder ohne phantastischen Einfluss geschrieben hat. Ohne Pathos oder Kitsch erzählt Michael Libling intim und distanziert zu gleich diese tragische, aber nicht tieftraurige Geschichte einer seltsamen Freundschaft, die natürlich an der Liebe zu einem Mädchen zerbrochen ist.
“The Judging” als zweite Novelle dieser Ausgabe ist die Fortsetzung von Rand B. Lee „Changes“, erschienen ein Jahr vorher. Neueinsteiger finden sich leicht in dem Szenario zurecht. Es erinnert sowohl an Gordon R. Dicksons „Zeitsturm“ als auch die von Arthur C. Clarke und Stephen Baxter verfasste Trilogie um die zersplitterte Zeit. Im direkten Vergleich mit „Changes“ wirkt „The Judging“ deutlich stringenter. So erreichen Francesca und Whitsun eine abgeschieden gelegene Gemeinde, die von dem die Realitäten brechenden Chaos der Welt auf der einen Seite verschont geblieben sind, während auf der anderen Seite die Begegnung mit einhundertdreiunddreißíg gekreuzigten und verbrannten Leichen Unheil für die Dorfgemeinschaft bedeuten könnte. Insbesondere Whitsun muss aus seiner passiven Beobachterrolle ausbrechen, um zumindest in einer Zeit die Menschen retten zu können. Vor allem die Unbeherrschbarkeit dieser Welt mit ihren verschiedenen sich mehr und mehr schneidenden Parallelwelten sorgt für einen faszinierenden, aber nicht aus sich heraus unbedingt originellen Hintergrund dieser lesenswerten Novelle.
Tim Sullivans „Yeshua`s Dog“ ist eine der schönsten Stories dieser Sammlung. Es ist die Geschichte von Yeshua dem Lügner und seinem Hund. Wie er durch einen Griechen zum kommerziellen Lügen verführt worden ist. Der erste Bestsellerautor der Geschichte. Das Trauern seines Hundes um sein verstorbenes Herrchen ist ergreifend und spricht ohne Sentimentalitäten den Leser direkt an, während das Ende mit der Wiederauferstehung dem biblischen Muster nun bedingt folgt. Zusammen mit „Hollywood North“ ist es einer der Arbeiten, die sich historisch so abgespielt haben könnte. Die Figuren sind vielleicht aus Zugänglichkeitsgründen so modern wie möglich beschrieben worden, während die Handlung einfach, aber effektiv erzählt worden ist. Auch Justin Barbeaus „ Nanabojou at the World’s Fair” könnte sich so abgespielt haben. Ein Indianer mit magischen Fähigkeiten besucht die Weltausstellung in New York und ist von dieser fremdartigen Welt fasziniert. Dank seiner Begleiter wird er aufgrund seines angeblich authentischen indianischen Verhaltens inklusiv eines exotischen Kriegstanzes zu einer Sensation auf der Aufstellung. Das schnell verdiente Geld verführt ihn, bis ihn natürlich für derartige Geschichten die „gerechte“ Strafe erreicht. Es sind die Beschreibungen dieser exotischen Welt, die auf den Ureinwohner einprasseln, welche das Flair der ersten texthälfte ausmachen, während der Plotverkauf gegen Ende der Geschichte leider auch ein wenig vorhersehbar ist.
Nach seiner “Troll” Groteske in der letzten Ausgabe ist David Gerrold dieses Mal mit seiner doppeldeutigen Satire “The Old Science Fiction Writer“ vertreten, in welcher er durch den Generationsunterschied aufzeigt, wie stark die Zukunft die Ideen der Gegenwart eingeholt und vor allem überrollt hat. Es ist eine wunderschöne, Altersweise Geschichte mit vielen Querverweisen auf David Gerrolds eigene Karriere.
Zu den besten Geschichten nicht nur dieser Ausgabe, sondern des ganzen Jahres 2014 gehört Albert E. Cowdreys „Golden Girl“. Nicht umsonst wie auch James Tiptrees zynische wie verfilmte Kurzgeschichte „The Screwfly Solution“ setzt sich Cowdrey mit dem Überlebenstrieb einer bislang eher unter dem Radar fliegenden Rasse auseinander. Die junge Bibliothekarin Doreen erhält einen Gelegenheitsjob, die Büchersammlung eines exzentrischen Gelehrten zu ordnen. Lucien Valois hat in den letzten Jahren die Häuser und Grundstücke seiner Nachbarn aufgekauft, die unter mysteriösen Umständen gestorben sind. Zusätzlich findet Doreen erotische Geschichten mit einem sadistischen Inhalt Frauen gegenüber zwischen den sekundärliterarischen Arbeiten. Sie ahnt aber nicht, welches Geheimnis Valois hat. Trotz des auch latent sexuell sadistischen Inhalts und der grundlegend zynischen Planung überzeugt die Geschichte dank ihrer Konsequenz und vor allem ihrem grundlegenden Dreh auf den letzten Seiten. Die Figuren sind ausgesprochen dreidimensional gezeichnet und die Atmosphäre nachhaltig überzeugend. Cowdrey denkt seine Idee wie Tiptree stilistisch verführerisch und zusätzlich konsequent zu Ende, so dass diese Art von Happy End auch eine Wende im Leben der Protagonisten darstellt.
“Feral Frolics” aus der Feder Scott Bakers ist kritisch gesprochen eine dieser an Roald Dahl erinnernden Geschichten, die bitterböse, aber auch vorhersehbar enden. Greg O Callaghan hat früher in der Ungezieferbeseitigung gearbeitet, bevor er begonnen hat, streunende Katzen nicht mehr einzufangen, sondern sie selbst zu töten. Er landet nicht nur bei Youtube, sondern auch im Gefängnis. Nachdem er Jahre nach seiner Entlassung einen neuen Job gefunden hat, muss er ausgerechnet Sofas in ein Cafe mit Katzenliebhabern liefern. Es ist der von Selbstzweifeln und vor allem über die meiste Zeit auch Selbstmitleid befreite Unterton dieser Geschichte, die sie trotz einiger brutaler Exzesse gegenüber Tieren lesenswert macht.
Die Filmkolumne gibt es in dieser Ausgabe zweimal. Alan Dean Foster schreibt über seine Zusammenarbeit mit einem besonderen Co- Autor bei der Arbeit des Filmbuchs zu „Noah“ , während Kathi Maio mit Hollywoods Vermarktung von interessanten Streifen wie „Snowpiercer“ abrechnet, der ausführlich vorgestellt wird. Michelle West und wieder sehr allgemein Charles de Lint streifen durch den Büchermarkt, wobei insbesondere Michelle Wests kritischere Anmerkungen sehr viel mehr Eindruck hinterlassen als Charles de Linits zu oberflächliche Rezensionen.
Mit den beiden letzten Ausgaben des Jahres 2014 hat das „The Magazine of Fantasy & Science Fiction“ qualitativ buchstäblich die Kurve bekommen. Mit C.C. Finlay verfügt Herausgeber Gordon van Gelder über einen inzwischen etablierten Nachfolger, der ihn wahrscheinlich noch einmal motiviert hat, seine Chefredakteur Tätigkeit auf einem Höhepunkt zu beenden.
Taschenbuch, 262 Seiten