Charlie Chan und die verschwundenen Damen

Earl Derr Biggers

Der dritte „Charlie Chan“ Roman „Behind that curtain“ ist schon das zweite Abenteuer, das der chinesische Detektiv auf dem amerikanischen Festland und nicht auf seiner geliebten Heimat Hawaii erleben und dadurch mittelbar zwei lange Jahre unaufgeklärte Kriminalfälle lösen darf. Zu einer Art Running Gag wird, das Charlie Chan seine eigentlich geplante Rückkehr von seiner im zweiten Band beschriebenen Reise als Postbote zweimal verschieben und das Schiff fahren lassen muss, weil er einmal in seiner Ehre verletzt und das zweite Mal von den verschiedenen Wendungen dieses Fall gepackt worden ist.  Dabei ist Charlie Chan gerade Vater seines elften Kindes und eines weiteren Sohns namens Barry geworden.  

In „Behind that curtain“ gerät Charlie Chan eher zufällig durch die Freundschaft zu einigen der Beteiligten in die Ermittlungen.  Ein inzwischen pensionierter Scottland Yeard Ermittler wird eines Abends während eines gesellschaftlichen Empfangs im Büro seines Gastgebers ermordet. Vorher hatte er im Beisein von Charlie Chan von zwei Fällen gesprochen, die er während seiner Dienstzeit nicht lösen konnte. Vor sechzehn Jahren ist ein Anwalt in seinem Büro in London ermordet worden. Seine Schuhe wurden gegen chinesische Seidenslipper ausgetaucht. Ein Jahr später ist eine junge verheiratete Engländerin eines Abends während eines Picknicks in der Nähe des Khyber Passes  verschwunden.  Anscheinend stehen die beiden Fälle in einem unmittelbaren Zusammenhang.  Charlie Chan ist nur mittelbarer Zeuge dieser Tat. Er möchte relativ schnell wieder nach Hause, wo sein Sohn geboren worden ist. Zuständig ist für die Ermittlungen ein Detective mit irischen Wurzeln, der sich relativ schnell abfällig über Charlie Chan äußert und ihn während der ganzen Ermittlungen eher wie einen dummen Jungen behandelt, obwohl Chan mehrfach betont hat, dass er am Ruhm einer erfolgreichen Ermittlung nicht interessiert ist.  Noch stärker als in den ersten beiden Büchern dient Charlie Chan im Grunde als Zerrspiegel der arroganten Öffentlichkeit. Mit seiner vordergründig devoten Haltung und seiner sehr guten Beobachtungsgabe, seinem allerdings auch unorthodoxen Handeln – so lässt er einen Brief erst verzögert und zu einem Zeitpunkt zustellen, an dem er es benötigt – sowie seinen von Konfuzius stammenden, aber sehr effektiv eingesetzten Weisheiten ist er eine interessante Mischung aus den chinesischen Klischees und einem Menschen, der sich stoisch gegen die Vorurteile der Öffentlichkeit durchsetzt und damit Erfolg hat. Es ist keine Überraschung, dass besonders der Gastgeber des Toten – der reiche, aber sehr sympathische Playboy Kirk – sowie dessen Anwältin – eine emanzipierte, aber nicht verbohrte oder lesbische Frau im Jahr 1928 – Charlie Chan bietet, ohne einen offiziellen Auftrag im Fall weiter zu ermitteln. Eine der kritischen Szenen findet während der Abfahrt des Schiffs nach Hawaii statt, als Charlie Chan wirklich in seiner chinesischen Ehre gekränkt von Bord geht, um weiter zu machen. Es hätte ohne Frage überraschend gewirkt, wenn sich der allgegenwärtige, aber nur während der Schlussszenen im Vordergrund stehende Polizist aus Honolulu vorzeitig aus der Handlung verabschiedet hätte.

Im Gegensatz zum vor allem zweiten Roman mit seinem sehr komplizierten Erpresser und Entführungsplot ist „Behind that Curtain“ deutlicher einfacher, aber auch spannender konzipiert. Es gibt eine Handvoll von potentiell Verdächtigen inklusiv ausreichend falscher Spuren. Es ist ein vielschichtiges Kammerspiel, das Biggers hier ausgesprochen souverän inszeniert.

Zum einen müssen die Aufzeichnungen des Ermordeten wieder rekonstruiert werden. Anscheinend sind über einen Zeitraum von insgesamt fünfzehn Jahren drei Damen spurlos verschwunden. In Indien, in Nizza, in London und abschließend in New York. Auch führen einige der Spuren zu Kirks Firma. So scheint einer der verschwundenen Frau kurzzeitig als Fahrstuhlführerin in seinem Gebäude gearbeitet zu haben. Die meisten aufgefundenen Spuren verfolgen die jungen Frauen, während der erste Mord im Grunde erst während des Schlussplädoyers von Charlie Chan meisterhaft, aber spätestens mit der potentiellen Identität des Täters und vor allem der ersten Fluchtroute auch erkennbar in die laufende Handlung eingebaut worden ist. Bis auf eine eher fruchtlose Exkursion nach Chinatown sowie das Besteigen des Schiffes mit einer weiteren Spur, die in eine falsche Richtung deutet, liegt der Fokus der Handlung fast ausschließlich auf den mondänen Wohnräumen und dem eine Etage tiefer befindlichen Büro Kirks. Diese Fokussierung auf einen Ort mit einer Handlung, die sich über mehrere Tage erstreckt und bedingt, das die einzelnen Charaktere quasi kommen und gehen müssen, erhöht im vorliegenden Roman die Spannung. Relativ schnell finden sich eine Reihe von Verdächtigen, wobei der obligatorische Butler wie auch der unsympathisch gezeichnete ehemalige Offizier und heutige Abenteurer von anderer Leute Geld willen aus der Masse herausragen. Biggers hat ein sichtliches Vergnügen, diese Protagonisten überdimensional zu zeichnen und damit dank ihrer Ecken/ Kanten zu Verdächtigen zu machen. Zumindest der Diener Paradise hinterlässt einen deutlich nachhaltigeren Eindruck.

Interessant ist das nicht perfekte, aber für die dreißiger Jahre ausgesprochen moderne Frauenbild. Dabei geht es nicht nur um die verschwundenen Frauen, über welche der Leser einiges an eher rudimentären Informationen erfährt, sondern vor allem um die Anwältin June Morrow,  die mit ihrer burschikosen direkten Art aus der weiblichen Art der Zeit geschlagen sein könnte. Das Frauenbild wird von Kirks reicher Tante abgerundet, die ohne Wissens ihres Neffen einige Fäden spinnt und sich dabei mehr von ihrem Instinkt lenken lässt.

Biggers bewegt sich auf einem schmalen Grat. Auf der einen Seite hat er ein sichtliches Vergnügen, möglichst viele und teilweise stereotype Mörderklischees aneinander zu reihen. Vor allem der amerikanische Inspektor springt gerne auf diesen Zug auf. In dieser Hinsicht führt die fruchtlose Begegnung zwischen dem seine Frau seit 15 Jahren suchenden Ehemann und ehemaligen britischen Offizier sowie einer potentiellen Kandidaten förmlich zu einem Wutausbruch, denn der ermittelnde Polizist hat auf die säuselnden Ansagen Charlie Chans nicht gehört und ist quasi in dessen „Falle“ gelaufen. Charlie Chan muss ihn mehrfach überzeugen, dass er nur Ruhm und Erfolg ernten kann, wenn er erstens seine Ungeduld unter Kontrolle hält und zweitens auf den Chinesen hört, der aufgrund einiger weniger dem Leser nicht bekannter und von Biggers mittels Andeutungen auch unter Kontrolle gehaltener Informationen einen notwendigen Schritt weiter ist. Mit dieser Vorgehensweise rückt der Autor seine inzwischen auch in der Öffentlichkeit der Leserschaft sehr populäre Figur mehr und mehr in den Vordergrund der Handlung und kann ihn auf seine einzigartige Art und Weise positiv ermitteln lassen.  Charlie Chan ist nicht zuletzt durch seine inzwischen zahllos gewordenen Sprüche und Weisheiten zum Dreh- und Angelpunkt der Handlung geworden. Im ersten „Charlie Chan“ Roman fanden noch einige Ereignisse abseits der Haupthandlung statt. Diese Informationen sind dem Chinesen nur mittelbar und teilweise anfänglich nicht ganz richtig übermittelt worden. Einen Teil der Ermittlungen bildete die Trennung von Wahrheit und Fiktion. Auch wenn Charlie Chan nicht während des Mordes im Zimmer gewesen ist, finden alle wichtige Ereignisse zumindest in seiner mittelbaren Nähe statt. An einigen Stellen muss Bigger den Plot ein wenig biegen – so wird ein wichtiger Brief genau in dem Augenblick verfasst, in dem sich Chan auch im Zimmer befindet -, um schließlich den Täter überführen zu können und Chan setzt auf einen Paukenschlag, anstatt still und heimlich die notwendigen Beweise vorher zu bergen, aber zusammengefasst mit den verschiedenen roten nicht selten ins Nichts führenden Spuren hat Earl Derr Bigger einen spannenden, in Ehre gealterten Detektivroman verfasst, der weniger auf Spektakel als klassische Deduktion in bester Tradition des zumindest am Rande kurz erwähnten ebenfalls fiktiven Sherlock Holmes setzt und überzeugen kann.  

Heyne Taschenbuch

262 Seiten

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