Clarkesworld 126

Clarkesworld 126, Titelbild, Rezension
Neil Clarke (Hrsg.)

Der sekundärliterarische Teil zerfällt im Grunde in einen Rückblick, ein Interview und ein unterhaltsames Essay über das Lesen. Cat Rambo schreibt über die Schwierigkeit, als Kritiker und Autor bei der Lektüre auch einmal den jeweiligen "Verstand" auszuschalten und es einfach zu genießen. Chris Urie fügt mit seinem Interview über die inzwischen zu einer Trilogie angewachsenen "Luna" Serie Ian McDonalds ein lesenswertes, auf Augenhöhe, vor allem durch die Fragen fundiert gestaltetes Interview hinzu.

Die Rückblicke bestehen aus der Übersicht über die einzelnen, aus dem Magazin "Clarkesworld" stammenden Geschichten, die in den inzwischen vier "Year´s Best" des Jahres 2016 erscheinen. Es ist erstaunlich, dass neben den Online Magazinen auch dieser Nachfolgemarkt in den USA boomt. Noch sie sind mehr "Year´s Best" aus dem Bereich Science Fiction erschienen wie 2016. Feng Zhang gibt nur vordergründig eine Übersicht über den ebenfalls boomenden Markt chinesischer Kurzgeschichten in China selbst. Der Autor stellt nicht nur die wichtigsten Magazine und ihre Zielrichtungen vor,  sondern spricht über den inländischen Markt für ausländische Autoren. Im Verlaufe seines lesenswerten, aber sehr kompakten Überblick erweitert er das Spektrum sogar auf Romane, so dass man dank der nicht nur im "Clarkesworld" Magazin immer wieder veröffentlichten asiatischen Kurzgeschichten auch über die rasante Entwicklung im Reich der Mitte selbst informiert wird. Allerdings scheint der Magazinmarkt auch gesättigt zu sein, denn die Auflagen gegen kontinuierlich auf ein für Chinas Bevölkerung eher unterdurchschnittliches Niveau zurück. 

 Virtuelle Realitäten und fiktive Welten spielen nicht nur in den beiden längeren Nachdrucken, sondern auch den Erstveröffentlichungen eine wichtige, eine entscheidende und doch so unterschiedliche Rolle.  Ian MacLeod hat mit seiner 2013 veröffentlichen Novelle "The Discovered Country" vielleicht nicht unbedingt einen neuen Ansatz für das Hochladen von gerade gestorbenen Menschen in einem virtuellen Paradies gefunden, aber seine stilistische Schwermut, seine vielseitig gezeichneten und doch so verletzlichen Protagonisten und schließlich diese Mischung aus ewiger, aber verlorener Liebe und Lebensweisheit machen seine Texte zu herausragenden, emotional niemals kitschigen, aber ansprechenden Arbeiten. Es ist eine Welt, in welche nur die Superreichen kommen. In dieser virtuellen Welt sind sie mächtiger als jemals zuvor. Der Protagonist der Geschichte ist Northover, ein Mann mit Prinzipien. Seine ehemalige Geliebte - eine Art Marilyn Monroe dieser Welt, nur endlich begabter - ist überrascht, als sie Northover nach dessen "Tod" in der virtuellen Welt wieder trifft, die sie schon nach einer schweren Erkrankung und ihrem frühzeitigen Dahinscheiden seit vielen Jahren bewohnt. Es ist eine exklusive, eine Luxuswelt, in welcher aber alle Gefühle bis hin zum Spüren des warmen Wassers auf der Haut ausschließlich künstlich simuliert werden. Die beiden erneuern ihre liebe, wobei Ian MacLeod die wichtigsten Informationen bis zum Ende zurückhält und die widersprüchlich erscheinende Motivation Northovers relativ simpel und doch pragmatisch zynisch erläuert.

Obwohl sie alle "unsterblich" sind, gelingt es Ian MacLeod, die Wehmut nach echten Emotionen, echten Empfinden und vielleicht auch nach der Vergänglichkeit des Lebens, des einen Augenblicks in einfache, aber sprachlich eindrucksvolle Bilder zu versetzen und den Leser weniger beim Verstand, aber am Herzen zu fassen. Manche Leser wird die Langsamkeit der Plotentwicklung, die minutiöse, teilweise ironisch überzeichnete Erschaffung der Hintergründe in Ian MacLeods Werk stören, aber wer sich auf sein Spiel einlässt, wird ausgesprochen gut wie ungewöhnlich unterhalten.  

 Während Ian McLeods Geschichte melancholisch und nachdenklich stimmend ist, erinnert "At the Cross-Time Jaunter's Ball" von Alexander Jablokov an die Texte, die Fritz Leiber mit seinen "Zeit Legion" Geschichten sowie Roger Zelazny berühmt gemacht haben. Es ist eine Art Haßliebe durch die virtuellen Welten zwischen einem Künstler und seinem Kritiker. Dabei verfolgt der Leser die Reise der Ich- Erzählers in immer bizarrere virtuelle Welten, in denen sich der wahnsinnig erscheinende Künstler mit Ideen wie Mongolen in den nordamerikanischen Weiten auszusetzen ausgelebt hat. Humorvoll bis zynisch geschrieben stammt der Text aus dem Jahr 1987, als virtuelle Welten und vor allem der Cyberpunk noch am Anfang ihrer Entwicklung standen. Während Vernor Vinge diese Themen immer ernsthaft und wissenschaftlicher Akribie angegangen ist, dreht positiv Alexander Jablokov durch und liefert ein Feuerwerk an sehr unterschiedlichen Ideen ab. Der Plot und die Auseinandersetzung mit den soliden gezeichneten, aber nicht unbedingt zugänglichen, sehr exzentrischen Protagonisten gehen angesichts der Hintergrundideen fast unter.  Der Geschichte merkt man aber die 30 Jahre nicht an, die sie auf dem Buckel hat. Da Jablokov inzwischen mit neuen teilweise längeren Texten zurück gekehrt ist, lohnt sich dieser Wiederentdeckung in doppelter Hinsicht.

 J.B. Parks "Real Ghost" spielt mit der Angst, virtuelle Speicherkopien von sich anzufertigen. Der Protagonist umgibt sich mit seinen Verwandten. Wie bei einem Familientreffen werden Erinnerungen ausgetauscht und "Kriegsbeile" begraben. Die Figuren sind eher solide gezeichnet und die normale Stimmung wie bei Beerdigungsfeiern stellt sich nicht ein, obwohl der Autor in diese Richtung zielt. Die Pointe ist doppeldeutig, aber effektiv. 

Deutlich belehrender ist Robert Reeds "Two Ways of Living". Der Protagonist selbst fast gänzlich isoliert in seiner Wohnung. Durch einen Zufall lernt er eine Nachbarin mit ihrem sprechenden Hund kennen. Die Nachbarin scheint ihn zu stalken, während der Hund Weisheiten von sich gibt. Robert Reed schreibt sehr viele Geschichten und nicht immer funktionieren die Plots wirklich gut. Hier erscheint die Pointe zu offen und die witzigen, aber auch belehrenden Dialoge werden von den bis auf den Hund  unsympathischen Charakteren förmlich erdrückt. 

 Naomi Kritzers „Waiting Out the End of the World at Patty´s Place” erinnert nicht nur wegen ihres Titels an den bekannten Film. Ein junger Mann macht sich angesichts der drohenden Katastrophe- ein Komet droht alles Leben auf der Erde auszulöschen – auf den Weg zu seinen Eltern und strandet in einem kleinen Nest, wo er ein älteres lebenserfahrenes Ehepaar kennenlernt, die ihm mehr über das Leben an sich und die kleinen Momente beibringen als seine Eltern es je getan haben. Von denen hat er sich distanziert. Ohne Kitsch, ohne Pathos mit liebenswert exzentrischen und doch so natürlichen Charakteren hat Naomi Kritzer eine fast alltägliche Geschichte verfasst, die auch ohne das drohende Ende funktioniert.   

  „Crown of Thorns“ von Octavia Cade könnte eine im Geiste gesehen Fortsetzung zu Naomi Kritzers Geschichte ein. Die Menschheit ist wahrscheinlich durch eine Kombination von künstlich erzeugten Seuchen untergegangen. Nur eine Handvoll Menschen leben in Australien auf einem Atoll. Es handelt sich um Wissenschaftler. Sie beschließen, das Atoll zu verlassen und sich in der Welt umzusehen. Einer der Forscher ist von Gewissensbissen geplagt, weil er seiner sterbenden Tochter auf dem Festland nicht zu Hilfe geeilt ist. An dieser Schuld scheint er zu zerbrechen. Stimmungsvoll, emotional und doch wie ein Stillleben mit zu funktionalen Charakteren unterhält „Crown of Thorns“ solide, aber nicht ausreichend genug, um die Intensität der anderen Post Doomsday Story dieser Ausgabe zu erreichen.  

 Die längste Geschichte dieser Ausgabe stammt aus China. „Goodnight, Melancholy“ . Xia Jia erweist sich mehr und mehr als Bastlerin, die historische Fakten geschickt in ihren Fiktionen extrapoliert und so eine herausfordernde, niemals wirklich einfache Mischung aus Erzählung und Studie präsentiert.

Die Novelle ist in zwei Handlungsebenen aufgespalten, die vor allem hinsichtlich der Entwicklung künstlicher Intelligenz miteinander verbunden sind. Die Vergangenheit befasst sich mit den letzten Lebenstagen Alan Turings, eines der wichtigsten Forscher hinsichtlich künstlicher Intelligenz schon in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Da viel über seine letzten Tage spekuliert worden ist, hat die Autorin den Text mit ihrer eigenen Idee einer von Turing schon geschaffenen künstlichen Intelligenz namens Christopher angereichert. Eine weitere Frage stellt sich in der Zukunftshandlung. Wie bei Dick und seinem „Blade Runner“ geht es um die Idee, ob Maschinen überhaupt Maschinen identifizieren können. In einer Zeit, in welcher der Android äußerlich natürlich nicht mehr vom Menschen zu unterscheiden ist. Xia Jia präsentiert eine Reihe von interessanten, auch geschickt für den Leser nachvollziehbaren Thesen. Hinzu kommt ebenfalls die Begegnung zwischen Mensch/ Maschine auf einer sehr persönlichen Ebene.

Wie eingangs erwähnt sind ihre Novellen keine leichte Kost. Nicht selten nimmt sie aus der westlichen SF bekannte Idee und extrapoliert diese auf eine sehr intellektuelle und dadurch auch emotionsloser erscheinende Ebene, während die Grundthemen bis zum offenen Ende eher angerissen werden. Dadurch wirken ihre Texte in ihren literarischen Konzepten teilweise ein wenig statisch, aber es sind die stimulierenden Zwischentöne, welche den Reiz dieser Texte ausmachen.  

 Zusammengefasst ist „Clarkesworld“ 126 eine deutlich stärkere Ausgabe als der Vorgänger. Thematisch bilden sich mit der Begegnung zwischen Realität und Virtualität sowie Mensch und künstlicher Intelligenz inklusiv der bevorstehenden Katastrophe drei klassische Science Fiction Sujets heraus, die von den Autoren über einen Zeitraum von fast dreißig Jahren auf sehr unterschiedliche, aber auch stimulierende Art und Weise angegangen worden sind.

E Books, 110 Seiten

www.clarkesworldmagazine.com