Dunkle Materie

Dunkle Materie, Titelbild, Rezension
Carolyn Ives Gilman

Mit "Dunkle Materie" debütiert die Amerikanerin Carolyn Ives Gilman romantechnisch nicht nur bei Cross Cult, sondern auch in Deutschland. Der Roman heißt im Original "Dark Orbit" und ist der vierte Teil der "Twenty Planets Series", an welcher die 1954 geborene und teilweise auch als Historikerin arbeitende Gilman seit 1998 schreibt. Der Titel der Serie bezieht sich auf die bisher zwanzig Planeten/ Zivilisationen, die sich durch die Besiedelung des Alls entwickelt haben.

Sie schreibt seit vielen Jahren sowohl Science Fiction als auch Fantasy. Sie ist mehrfach für den HUGO und den NEBULA nominiert worden.  Ihr erster Roman "Halfway Human" - gleichzeitig der Auftakt dieser Serie - setzt sich mit einer Gesellschaft auseinander, die inzwischen in drei Geschlechter aufgeteilt worden ist. Unabhängig von der Tatsache, dass Carolyn Ives Gilman den Hintergrund ihres Universums in den ersten drei Romanen strukturell schon extrapoliert hat, zielt der unabhängig zu lesende "Dunkle Materie" ebenfalls in diese Richtung. Eher impliziert steht in der zweiten Hälfte des Plots eine zwar fremde, aber auf den umgekehrten Jäger- Sammler Strukturen basierende Gesellschaft im Mittelpunkt der Handlung, während der insbesondere auf dem Klappentext propagierte Krimi auf einer fernen wie fremdartigen Welt mehr und mehr in den Hintergrund rückt. Dadurch wirkt die ganze Arbeit ohne Frage auch auf wissenschaftlicher Basis ausgesprochen ambitioniert, aber auch ein wenig unstrukturiert.

 Carolyn Ives Gilman setzt bei ihrem Roman auf starke, vor allem weibliche Charaktere mit einer Vergangenheit und einen überzeugenden wissenschaftlichen Hintergrund, der mit einer Mischung aus fundiert vermittelten Thesen und dem angesprochenen „Sense of Wonder“ vor allem eine kompakte Geschichte zu erzählen sucht.

 Sara Callicot ist ein Exoethnologist, spezialisiert auf die Kontaktaufnahme mit fremden Völkern. Sie kommt von einer sehr langen Expedition gerade zurück, die ihre Reputation ruiniert hat. Sie ist gezwungen, einen neuen Auftrag anzunehmen, um wenigstens einige bürgerliche Grundprinzipien zu erlangen, wobei die Autorin hinsichtlich der einzelnen Fehlschläge auch seltsam distanziert und ambivalent argumentiert. Thora Lassiter ist dagegen eine Sensualistin. Bei ihrem letzten Auftrag hat sie sich bei einem eher primitiven Stamm wie eine Göttin gefühlt und auch entsprechend benommen. Sie hat fast alle Regeln durchbrochen und zu einem Aufstand auf dem Planeten Orem geführt. Jetzt gibt es einige, die noch die offenen Rechnungen begleichen wollen. Sara soll auf sie aufpassen.

 Sie gehören beide zu einer Crew, die einen neu entdeckten Planeten aus der im Titel angesprochenen dunklen Materie. Interessant ist, dass die Menschheit das Weltall auf eine ungewöhnliche Art und Weise besiedelt. Es werden anscheinend unbemannte Forschungsraumschiffe ausgeschickt, die mit Transmittern ausgestattet sind. Sobald die Raumschiffe etwas gefunden haben, wird eine entsprechende Crew an Bord des Schiffes transmittiert. Allerdings vergeht auf der Erde die entsprechende Zeit, welche das Raumschiff für seinen Flug benötigt hat. Dadurch „leben“ die Mitglieder dieser Expeditionscrew im Grunde isoliert von Verwandten, Freunden oder Eltern. 

 Kaum hat die Erforschung dieser unwirtlichen, herausfordernden Welt begonnen, teilt die Autorin den Plot in zwei Handlungsarme auf. Thora verschwindet schon bei der ersten Exkursion. Sie findet heraus, dass auf dem Planeten menschenähnliche Wesen leben. Die Torobes sind blind. Sie leben unter der Planetenoberfläche und stehen in einer Verbindung zu einer eher mysteriösen Kraft.

 Parallel muss Sara innerhalb der Mannschaft nach einem potentiellen Mörder suchen, der Sara umbringen möchte. Gleichzeitig muss sie versuchen, die auseinanderdriftende Expedition zusammenzuhalten und Thora finden. Sie trifft auf ein blindes Mädchen, einen sozialen Außenseiter der hiesigen Gesellschaft, welche zumindest Sara zu Thora führen kann.

 Die aufgespaltene Handlungsebene wird trotz der Wahl der Ich- Erzählperspektive Thoras geschickt strukturiert. Viele Informationen erhält der Leser aus Thoras Audioaufzeichungen. Bis kurz vor dem Ende des Buches kann der Leser so nicht wissen, ob Thora noch lebt oder nicht. Auf der anderen Seite erfährt man im Grunde auf Augenzeugenhöhe viele wichtige Informationen. Dabei spielt ihre Vergangenheit auch eine Rolle. Da Thora sich verirrt hat und in die Siedlung der Torobes gebracht worden ist, kann sie ihre passive Beobachterrolle nicht durchhalten, sondern muss widerwillig aktiv eingreifen. Damit bewegt sie sich auf dem üblichen schmalen Grat, dass sie diese auf den ersten Blick primitiven Stämme vor ihrer Welt schützen muss. Das ist schwierig, da insbesondere das junge Mädchen Moth mehr wissen möchte und ahnt, dass Thora einiges zu verstecken hat. Es ist ein herausforderndes Projekt, diese ungewöhnliche, fast widerwillige „First Contact“ Aufnahme nicht nur überzeugend zu beschreiben, sondern vor allem originell. Im Umkehrschluss beschuldigen sie die Stammesältesten auch berechtigt, dass sie Informationen über die Außenwelten zurückhält und deswegen nicht vertrauenswürdig ist. Abgeschlossen wird diese soziale Studie durch einige „zwischenmenschliche“ Rituale der Torobes, die exzentrisch wie gefährliche insbesondere für Thora erscheinen.

 In vielen Punkten hat sich die Autorin nicht nur an Ursula K. Leguin, sondern auch anderen ungewöhnlichen „First Contact“ Geschichten des Genres orientiert. Nicht selten hat der Leser auch das Gefühl, eine nicht religiöse Variation von Mary Doria Russells „Sperling“ zu lesen. Dazu dienen vor allem auch die Aufzeichnungen Thoras, in denen auch die Vergangenheit auf Orem eine wichtige Rolle Spielt. In dieser Hinsicht reiht sich „Dunkle Materie“ in den ganzen Zyklus ein. Die Autorin untersucht die sozialen Strukturen der Fremden, die wie eine primitive Variation der Unterdrückung der Frauen auf der Erde seit Jahrtausenden erscheinen. Zwar impliziert sie, dass Thoras Erinnerungen überdeckt und manipuliert sein können, aber im Umkehrschluss stellt sich die Frage, ob eine Firma, eine Milliardendollar Investition ausgerechnet auf die Schultern einer unzuverlässigen Person mit einem Gottkomplex gelegt werden kann. Mit jeder anderen Kontaktspezialistin – und davon muss es in dieser Zukunft einige hundert geben – wären alle Grundkonflikte gleich zu Beginn an der Wurzel ausgerissen worden. 

 Sara ist vielleicht ein greifbarerer, aber nicht weniger komplexer oder komplizierter Charakter. Sie muss einmal die Expedition zusammenhalten, wobei die Fokussierung auf die beiden weiblichen Protagonisten vor allem den anderen Expeditionsteilnehmern Raum nimmt. Sie erscheinen manchmal eindimensional und pragmatisch charakterisiert. Hinzu kommt, dass Moth als „blindes“ Mädchen in der Menschenwelt im Grunde nur manipuliert werden kann. Zu den Schlüsselszenen des Buches gehört ohne Frage der Moment, in dem sie „sehend“ gemacht wird. Anstatt ihr eine neue Welt zu offenbaren, wird sie über ihre bisherige Neugierde hinaus eingeschüchtert und zieht sich wieder in ihre Welt zurück. Im Gegensatz zu vielen anderen SF Romanen bedeutet das Erlangen einer neuen Weltsicht – dieses Mal weniger im übertragenen denn buchstäblichen Sinne – nicht das Erreichen einer neuen Erkenntnisstufe. Gilman weigert sich verständlicherweise, allgemeingültige Antworten vor allem auf die ethischen Ideen und Thesen zu geben. Die fehlende Positionierung könnte ihr zum Vorwurf gemacht werden. Auf der anderen Seite sollte respektiert werden, dass sie den Mut aufbringt, es wenigstens zu versuchen und aus den bisherigen Mustern der klassischen SF auszubrechen.

 Umklammert werden die beiden Handlungsbögen durch ein eher typisches SF Thema. Die Idee der monetären Ausnutzung der Expeditionserfolge durch Konglomerate, die eher im Hintergrund agieren. Die Finanziers der „Escher“ Expedition – sie heißt das Raumschiff – wollen aus jeder Entdeckung einen Gewinn schlagen. Angesichts der Dimensionen des Universums und der Fremdartigkeit der Entdeckungen eher eine Art spannungstechnische Mogelpackung. Um auf dieser Ebene Antworten zu liefern, muss die Autorin Kompromisse eingehen. So versucht sie einen Konflikt heraufzubeschwören, in dessen Mittelpunkt aufgrund der fortschrittlichen Technik im Grunde nichts stehen darf. Die Expedition ist sehr gut ausgestattet und vor allem auch hinsichtlich der Spezialisten breit gestreut. Alle Sektoren von physikalischen Hindernissen bis zu religiösen Themen sind abgedeckt. Normalerweise sollte eine Art Konsens gefunden werden, aber die Autorin versucht im schwächsten Aspekt des ganzen Buches hier Konflikte zwischen den Forschern unabhängig vom potentiellen Saboteur/ Mörder an Bord zu schüren, die rückständig und vor allem in wichtigen Elementen auch kontraproduktiv, eher spannungsmindernd erscheinen. Dann hätte sie die Zukunftswelt der Menschen nicht so fremdartig entwickeln dürfen. Auch das Argument, dass die Menschen niemals ihre Wurzeln ablegen, wird unterminiert, in dem der Planet und die Torobes einen Zugang zu einem neuen „Universum“ darstellen könnten.  

Auch wenn alle wichtigen grundlegenden Science Fiction Themen vorhanden sind, versucht die Autorin aber nicht immer erfolgreich, diese auf eine ungewöhnlich humanistische Weise zu extrapolieren. Rückblickend schießt sie vor allem mit dem Geheimnis der Ureinwohner insbesondere in einem direkten Vergleich zu der faszinierenden, aber mehr und mehr in den Hintergrund fallenden Welt aus dunkler Materie über das Ziel hinaus und versucht zu viel. Aber mit den angesprochenen dreidimensionalen weiblichen Charakteren und vor allem den vielen auch gegenwärtigen Themen, die mindestens ansatzweise durchgesprochen werden, regt sie dem Leser mit einem geradlinig geschriebenen, aber tempotechnisch ruhig entwickelten Stoff positiv zum Nachdenken an und unterhält trotzdem nach einem dynamischen Auftakt sowie einem starken Mittelteil bis zum allerdings viel zu abrupten, zu glatten Ende mindestens gut. Im Gegensatz allerdings zu Ursula Le Guin hat die Autorin noch nicht die literarischen Fähigkeiten, um die ohne Frage zahlreichen intellektuellen Ideen und Themen adäquat und gut ausbalanciert literarisch umzusetzen, so dass der Roman vor allem gegen Ende ausgesprochen philosophisch konstruiert erscheint als sich natürlich weiter zu entwickeln. Hier wird erstaunlich viel ohne Frage vorhandenes Potential nicht zufriedenstellend literarisch umgesetzt. Neben dem Ende die größte Schwäche dieses Buches.     

 

 

 

  • Taschenbuch: 450 Seiten
  • Verlag: Cross Cult (31. Oktober 2016)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3959811500
  • ISBN-13: 978-3959811507