Clarkesworld 130

Clarkesworld 130, Titelbild, Rezension
Neil Clarke (Hrsg.)

Herausgeber Neil Clarke feiert in seinem Vorwort den fünften Jahrestag seines Herzinfarkts. Natürlich, das er ihn überlebt und welche Möglichkeiten ihm das weitere Leben bislang schon geschenkt hat. Diese optimistische Note reiht sich zu den beiden sekundärliterarischen Artikeln, in denen im Wissenschaftsbereich die Farbe des Universums beginnend mit der berühmten Geschichte H.P. Lovecraft in Kombination mit dichterischen Freiheiten diskutiert wird, während „Invisible and Visible Engineering in Science Fiction“ eine wunderbare Auseinandersetzung mit den künstlerischen Freiheiten eines Autoren, aber auch dessen Verpflichtungen ist.

Chris Urie interviewt Carrie Vaughn hinsichtlich ihrer faszinierend klingenden Genremischung, bestehend aus einer Post Doomsday Welt, Vampiren und schließlich einem absichtlich klassisch aufgebauten Kriminalfall inklusiv des entsprechenden Detektivs.

 Der erste der beiden Nachdrucke „Forever bound“ von Joe Haldeman gehört in dessen Universum um den „Ewigen Krieg“. Joe Haldeman hat das Thema nicht nur zu einer Trilogie ausgebaut, sondern einige kürzere Texte um die Romane herum angesiedelt, die in Deutschland wenig bis gar nicht bekannt sein dürften. 

 Der Erzähler wird vor seinem Studium rekrutiert. Anscheinend führend die USA  Stellvertreterkriege in der ganzen Welt. Je nach Waffengattung ist die Überlebensrate unterschiedlich hoch. Der erste Teil der Novelle besteht aus der Ausbildung der Rekruten beginnend mit einer „Entkleidung“ vor den Kameraden. Jedes Teammitglied muss einer seiner Geheimnisse verraten. Der Krieg wird in einem virtuellen Feld abgehalten. Die Soldaten linken sich ein, verbinden sich. Dieses intensive Empfinden nicht nur während des Kampfes, sondern auch in der Freizeit durch das Angebot von Vergnügen jeglicher Art inklusiv Sex mit einem Teammitglied, das sich zwischen Liebe und Abhängigkeit bewegt, erzeugt in den Soldaten Suchtempfinden, bis schließlich leider auch ein wenig vorhersehbar ein Verlust die grausame, brutale Seite dieser Art von nur vordergründig virtuellen Kriegen aufzeigt.

Joe Haldeman ist in diesem Subgenre inzwischen ein routinierter Erzähler. Distanziert, sachlich und ausgesprochen kompakt spricht er von der Ausbildung seiner Protagonisten. Den ersten Schritten in diese virtuelle Welt und das abhängig werden von den Emotionen, den Gefühlen und schließlich auch der Intensität der durch die Bank verstärkten Sinneseindrücke. Das Ende ist pragmatisch, folgerichtig und soll den Leser schockieren, wobei der Effekt an seinem inzwischen abgestumpften Protagonisten auch abprallt und seine provozierende Wirkung verfällt. Grundsätzlich folgt Joe Haldeman aber eher Lucius Shepard, der Ähnliches viele Jahre vorher in seinem immer noch lesenswerten „Leben im Krieg“ schon deutlich nachhaltiger erarbeitet hat.   

 Der zweite Nachdruck stammt aus dem Magazin "Analog". "The Oracle" von Lavid Tidhar st auch ein wichtiger Bestandteil seines letzten Episodenromans "Central Station".  Isoliert wirkt die Geschichte ein wenig verwirrend, da der Autor vor allem Charaktere einführt und weniger vorstellt, die in früher spielenden Episoden des Fugenromans ausführlicher definiert worden sind. Im Mittelpunkt stehen Matt und Ruth Cohen, von denen Matt mit der Entstehung der künstlichen Intelligenzen in enger Verbindung steht. Auch Ruth wird später als Orakel eine wichtige Rolle spielen. Stilistisch wie alle Storys dieses empfehlenswerten, stimmungsschwangeren Fugenromans überdurchschnittlich ist es in diesem Fall allerdings sinnvoll, den inzwischen publizierten Roman zu lesen als die "Fragmente" sich zusammenzusuchen, zumal Lavid Tidhar für die abschließende Veröffentlichung die einzelnen Elemente noch einmal grundlegend überarbeitet hat. 

  Aus dem Chinesischen kommt „An Age of Ice“. Zhang Rans Text ist zu kurz für die vielen Themen, die der Autor ansprechen möchte. Vor allem besteht der Mittelteil der Kurzgeschichte in erster Linie aus einer Ansammlung von mehr oder minder relevanten Informationen. Der emotionale Auftakt mit einem auf den ersten Blick typischen Mutter- Tochter Gespräch spiegelt sich im Epilog nur bedingt wieder. Hier werden die Schwierigkeiten einer Mutter, die vor vielen Jahren aufgrund ihrer Krankheit teilweise eingefroren ist, und ihrer inzwischen körperlich älteren Tochter sichtbar, ohne das diese Idee trotz oder gerade wegen der originellen Prämisse weiter extrapoliert wird. Wie einige andere kürzere Texte dieser Ausgabe wird leider sehr viel Potential verschenkt.  

 Robert Reed ist ein Ideenautor. Nicht selten erschafft er aus dem Nichts heraus phantastische Konzeptionen, die er in seinen pointierten Geschichten aber nicht entsprechend umsetzen kann. Die Grundthematik passt in diesen Fällen besser zu Novellen oder Romanen. Auch „The Significance of Significance” reiht sich in diese Reihe ein. Eine junge Frau erfährt, dass ihre/ unsere Welt in Wirklichkeit eine Simulation ist, während sie sich mit ihrer Familie auseinandersetzen muss. Der Zusammenhang zwischen diesen beiden Erkenntnissen ist eher lose und wie eingangs erwähnt wird aus der Idee von Taschenuniversen durchaus wieder in Simulationen eingebettet sehr wenig gemacht. Das offene Ende soll den Leser zum Nachdenken anregen, dazu wird aber zu wenig Stoff angeboten.

 Rich Larsons „Travellers“ orientiert sich ein wenig an dem Film “The Passengers“. Das Raumschiff weckt eine junge Frau viel zu früh. Der einzige andere wache Passagier ist ein anscheinend verrückter Kerl, der nach und nach ihr zeigt, dass sie mit ihm sehr viele Jahre verbringen muss. Rich Larson impliziert sehr viel und je mehr Unwahrheiten aufgedeckt werden, desto dunkler und bedrohlicher wird die Atmosphäre, wobei der Autor sich hinsichtlich möglicher Hintergründe zu sehr zurückhält. 

 Die beiden längsten neuen Geschichten der „Clarkesworld“ 130 haben viel mehr miteinander zu tun als auf den ersten Blick im Positiven wie leider auch im Negativen erscheint. Sowohl „Last Chance“ von Nicole Komber- Stace als auch „The Bridgegroom“ von Bo Balder sind Postdoomsday Geschichten. In beiden Storys können sich die Überlebenden nur noch bedingt daran erinnern, wie die Menschheit sich selbst vernichtet hat. In beiden Geschichten steht ein Jugendlicher im Mittelpunkt. In der zweiten Geschichte ist es der sympathische Alois, der ins Haus seiner Eltern nach einem Studium zurückkehrt. In „last Chance“ ist es die Ich- Erzählerin Aneko, die aufgrund des Überfalls einer Räuberbande ihre Mutter – die Folterin für einen archaischen Herrscher – verliert und mit anderen Kindern in die Sklaverei verschleppt wird. Auch Alois wird von den Stammesälteren für eine besondere, ebenfalls an Sklaverei und Verschleppung erinnernde Aufgabe ausgesucht. Er soll eine alte Brücke bewachen, die allerdings von einer sich inzwischen langweilenden Computerintelligenz gesteuert wird. Sie sucht ihre jeweiligen „Partner“ auszubilden und ist frustriert, wenn sie nach einem viel zu kurzen Zeitraum wieder erwachen. In „Last Chance“ sollen die Kindersklaven nach Artefakten aus der Zeit vor dem großen Krieg graben, welche ihre Peiniger zu Geld machen können.

Die offenen Enden beider Geschichten suggerieren, dass mittelbar in „Last Chance“ als auch unmittelbar in „The Bridgegroom“ die Protagonisten einen Reifeprozess durchlaufen und das erneute Wecken bzw. Erwachen der Technik ihnen einen Vorsprung, eine Chance gibt, ihr bisheriges Joch wieder abzulegen.

Die große Schwäche beider Texte liegt in der nur bedingt glaubwürdigen Prämisse. Das in „Last Chance“ nach so langer Zeit und vor allem angesichts der Beschädigung das gefundene Artefakt sich selbst wieder ins Leben zurück bringt, erscheint genauso unwahrscheinlich wie die Tatsache, dass die abergläubischen Bewohner des Dorfes die Brücke und ihre Intelligenz hätten abschalten oder ausschalten können, wenn sie deren Geist als Verursacher des Massenmordes an zehn Milliarden Menschen sehen. Positiv ist, dass Nicole Komber- Stace die ungläubige, kindliche Stimme ihrer Erzählerin in perfekte Worte gefasst hat und selbst durch die eine Spannung auch negierende Ich- Perspektive trotzdem den Leser mitten in das Geschehen zieht, während Bo Balder mit Alois einen sehr sympathischen, dreidimensionalen Charakter erschaffen hat.    

 Zurückbleibt eine solide „Clarkesworld“ Ausgabe mit einem schönen Titelbild und einer Reihe von thematisch unterschiedlichen, aber niemals wirklich herausragenden Geschichten.