Nach „Das Erwachen“ stellt Andreas Brandhorst mit „Ewiges Leben“ einen zweiten zwar näher als seine sonstige Science Fiction an der Gegenwart spielenden Thriller vor, der aber wie der erst genannte Titel trotzdem dunkle utopische Literatur ist. Nicht unabsichtlich spielen die beiden Storys in der nahen Zukunft und der Autor extrapoliert die gegenwärtigen technischen Forschungsideen dank umfangreicher Recherche sehr geschickt.
In beiden Bücher ist es ein kleines, aber wichtiges Element, das die Welt aus den Fugen bringt. In beiden Büchern finden sich auch Ideen, welche der Autor in seinen vorangegangenen Science Fiction Roman spekulativer extrapoliert hat. Die Dominanz der Maschinenintelligenzen bzw. künstlichen Intelligenzen finden sich in den meisten Büchern, exemplarisch wahrscheinlich in „Das Schiff“ am meisten überzeugend entwickelt. Die Idee der relativen Unsterblichkeit - um einen Begriff aus der Perry Rhodan Serie einzuflechten - zeigt sich in der Langlebigkeit seiner Protagonisten wie in den Kantaki Büchern. Auch die zweite Option des ewigen Lebens mit der virtuellen Realität verbindet Andreas Brandhorst auf einem derartig realistischen Level mit der Gegenwart, aber auch der fernen Zukunft seiner sonstigen Roman, dass der Leser auch ein wenig an Arbeiten von Galoyes „Welt am Draht“ über die „Matrix“ Trilogie bis zu Christopher Nolans „Inception“ erinnert wird.
Wieder spielt der Roman auf verschiedenen Ebenen. Im Gegensatz zu „Das Erwachen“ ist die Grundhaltung der Protagonisten nicht so eindeutig. Gut und Böse verschwimmen relativ schnell zu einem manchmal pragmatisch, manchmal ambivalent genutzten Grau. Andreas Brandhorst ist ein routinierter Autor, der selbst einem potentiellen wie charismatischen Terroristen - allerdings an der langen Leine geführt - die Möglichkeit einräumt, seinen erstaunlich „christlichen“ Standpunkt zu vertreten. Und das in einer Zeit, in welcher der Pabst nicht nur von der Vereinigung aller Glaubensrichtungen träumt, sondern dabei ist, die neue Welt des doppelten ewigen Lebens zu propagieren. Es sind diese kleinen intellektuellen Exzesse zwischen den zahllosen Actionszenen, welche „Ewiges Leben“ aus der Masse der gegenwärtig publizierten Thriller herausheben.
Hinzu kommt ein weiterer sehr positiver Effekt. Schon am Ende von „Das Erwachen“ hat Andreas Brandhorst überdeutlich gemacht, dass bei ihm ein Thriller auch eine Veränderung der sozialen Ordnung bedeuten kann. Die Welt ist am Ende nicht mehr so wie vor dem Einsetzen der Handlung. Dabei hebt er sich von fast allen Paranoiathrillern ab, die zwar gegen Ende möglichst während eine spektakulären Showdowns die Schurken bestrafen, die Heuchler entlarven und das Gute unter mehr oder minder großen Opfern siegen lässt, aber nur selten die brüchigen Grundstrukturen der beschriebenen Gesellschaft zum Einsturz bringen. Andreas Brandhorst geht als Teil eines perfiden Plans deutlich weiter.
Auch macht er nicht den Fehler, globale Konzerne wie seine „Futuria“ unter dem kleinsten gemeinsamen Nenner über einen Kamm zu scheren. Konzerne bestehen aus Menschen und werden von Menschen geführt. Das macht er im Verlaufe der Handlung deutlich, wenn er Futuria mehr und mehr von seinem Gründer – der Leser lernt ihn fast tragisch im Prolog kennen – trennt.
Futurias erstes Ziel ist es gewesen, den Krebs zu besiegen. Aber wie der Prolog deutlich macht, spielt auch relative Unsterblichkeit, ein würdiges Leben eine wichtige Rolle. Natürlich ist die zweigeteilte Antwort auf die Frage nach dem ewigen Leben auch mit dem einen Gründer der Firma verbunden. Er kann sich vor der Differenzierung zwischen arm und reich nicht schützen. Aber die Idee, weniger einen sozialen als einen alterstechnischen Bruch durchzuführen wird immer wieder in der Theorie durchgespielt. Futuria will auch den Hunger in der Welt bekämpfen und investiert in Projekte, die aus virtuelle Realitäten neue „Lebensräume“ machen sollen.
Die Journalistin Sophia ist das Mediengesicht ihrer Firma. Gleichzeitig ist sie unheilbar an Knochenkrebs erkrankt. Nur die jährlichen Behandlungen halten sie am Leben. Anscheinend kann Futuria die gentechnischen Anlagen zu Krebs im Fötus manipulieren, ausgebrochene Krankheiten sind nicht mehr heilbar, sondern in der „normalen“ Form nur aufhaltbar.
Zusammen mit ihrem Kameramann Borris verfolgt sie einen Anschlag auf die Weizenfelder Futurias in Madrid. Der sich dabei schwer verletzende Attentäter behauptet, dass Futuria ein Lügengebilde ist. Kurzzeitig erhalten Sophia und Borris den Auftrag, die zwanzigjährige Firmengeschichte zu dokumentieren. Als ihre Recherchen vor Ort in abgeschiedenen Lagerhäusern Zweifel wecken, wird ihnen der Auftrag schnell wieder entzogen. Sophia wird sogar als Drogensüchtige denunziert.
Der Klappentext impliziert bei „Ewiges Leben“ einen klassischen Aufbau. Während der Recherche wird das dunkle Geheimnis des Konzerns aufgedeckt, am Ende kommt alles kurzzeitig ans Licht der Öffentlichkeit, bevor es wieder unter den Teppich gekehrt wird. So hat Rainer Erler gerne in den siebziger und achtziger Jahren eine Reihe von dramaturgisch sehr interessanten wie provokanten Filmen inszeniert. Andreas Brandhorst verlässt diese Schablone sehr schnell wieder. Der Auftrag, die Firmengeschichte zu schreiben, wird schnell entzogen. Ab diesem Moment an kann Sophia eine Zeit noch mit Borris ausschließlich reagieren. Auf die Verwürfe der Polizei, auf die Nachstellungen der Futuria Geschäftsleitung.
Es ist aber nur eine von mehreren relevanten Handlungsebenen. Papst Pius ist ein Kirchenreformer, der nicht nur gegen den Widerstand der ewig Gestrigen in den eigenen Reihen kämpfen muss. Im Laufe der Handlung wird er nicht nur ermordet, zu einem Geheimnisträger und schließlich dem Mahner gegen das, was er kurz zuvor noch loben sollte. Auch wenn Pius nur wenige Auftritte in dem ganzen Roman hat, versucht Andreas Brandhorst an ihm klar zu machen, das diese gegenwärtige Welt nicht einfach zu beurteilen ist. Da ist die Angst vor der Veränderung, wobei auch der Stillstand oder gar Rückschritt unabsehbare und nicht mehr zu korrigierende Folgen hat.
Noch stärker wird dieser Zwiespalt von dem Terroristen Jossul verkörpert. Auch wenn er dem IS bzw. den Resten dieser Terrororganisation näher steht als der westlichen Zivilisation, sieht er sich als Stimme „Gottes“. Er tötet die schon unter den Menschen lebenden und zu einer ausgewählten Elite gehörenden Unsterblichen. Anscheinend um Gottes Willen durchzusetzen. Im Laufe des Romans wird deutlich, dass er sich vor den Karren der Konzerninteressen hat spannen lassen. Mit seiner charismatischen Art, aber auch anscheinend er übermenschlichen Fähigkeit, seine Umgebung mit seiner Stimme nicht nur in den Bann zu schlagen, sondern förmlich erstarren zu lassen, scheint er irgendwo zu der gentechnisch manipulierten Elite zu gehören, von welcher die heimliche Führung Futurias immer geträumt hat. An Jossul zeigt sich, das ein Mörder – auch wenn er sagt, keine Unschuldigen getötet zu haben, wobei er Schuld als relativen Begriff einsetzt – im Rahmen der eigenen Pläne auch unterschiedliche Allianzen eingehen kann. Jossul ist in seinen inneren Zwiespalt, aber auch seiner fast arroganten Überzeugung, als Sprachrohr Gotts wichtiger als der Papst zu sein, die am dreidimensionalsten gezeichnete fast tragisch zu nennende Figur des ganzen Romans.
Mit der virtuellen Welt inklusiv sogar einer päpstlichen Vertretung haben die Führungskräfte von Futuria eine perfide, aber auch angesichts der Notwendigkeiten einer Welt voller Unsterbliche logische Alternative entwickelt. Andreas Brandhorst lässt eine Reihe von Szenen in dieser Irrealität spielen und greift auch ganz bewusst literarisch die Möglichkeiten auf. Visuell erreicht er nicht Nolans cineastische Präsentation in „Inception“, dafür nutzt er das Konzept weniger staunend, sondern für eine „jugendliche“ Generation als eine Art alltägliche Fluchtburg.
Aber es ist nur eine der beiden Alternativen zum ewigen Leben. Für die klassische genretechnische Idee hat Andreas Brandhorst nicht nur recherchiert, sondern mit der Idee der Genschere ein für den Leser leicht vorstellbares Werk beigefügt. Erst gegen Ende des Buches zeigt der Plotverlauf, dass diese Schere das Herausschneiden genauso möglich macht wie den Weg des Einfügens vereinfacht.
Es sind diese Doppelungen, die „Ewiges Leben“ auch inhaltlich über den ersten Thriller „Das Erwachen“ erheben. Die sozialen Folgen stehen kontinuierlich im Vordergrund der Handlung, wobei der Autor mit der sterbenskranken Sophia eine Figur erschaffen hat, die ein Eigeninteresse an Futurias Forschung hat und trotzdem immer wieder versucht, kritisch sowie objektiv und distanziert zu berichten. Vielleicht hätte dieser Zwiespalt noch ein wenig tiefergehend ausgearbeitet werden können, aber das hohe Tempo über alle Handlungsebenen lässt diese „Zeit“ nicht zu.
„Ewiges Leben“ ist wie angesprochen ein intellektuell stimulierender, durch die verschiedenen Positionen vielschichtiger und ambitionierter Thriller, der einem Klischee des Genres – Unsterblichkeit - neues Leben einhaucht. Andreas Brandhorst ist seit vielen Jahren ein stilistisch sehr angenehm zu lesender Autor, der nicht nur in seinen Science Fiction Romanen exotische Landschaften und herausfordernde Probleme erschafft, sondern inzwischen in seinen beiden Thrillern mit einem grünen Daumen argumentativ überzeugt. Bei „Das Erwachen“ und noch mehr „Ewiges Leben“ schreibt er zusätzlich trotz des Umfangs von jeweils um die siebenhundert Seiten erstaunlich stringent und positiv sehr konzentriert. Vor allem weil er in „Ewiges Leben“ nicht mehr versucht, einen Science Fiction Plot dem Mainstreampublikation nahe zu bringen, sondern wirklich konsequent seine dunkle, nicht realitätsferne Welt detailreich entwickelt und teilweise mit den Szenen in Mailand auch so provokativ präsentiert.